Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Überraschungsentscheidung. erstmals eingeführte Tatsachen in der mündlichen Verhandlung. Erheblichkeit für die Sachentscheidung. medizinischer Fachaufsatz. Überforderung. Stellungnahme des Beteiligten. Einräumen einer angemessenen Äußerungsfrist
Orientierungssatz
Nimmt der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung dadurch eine unerwartete Wendung, dass bisher nicht erörterte, eventuell entscheidungserhebliche Gesichtspunkte auftauchen oder das Gericht den Beteiligten mit einer geänderten Rechtsauffassung gegenübertritt, so muss vom Gericht, um Überraschungsentscheidungen zu verhindern, sichergestellt werden, dass sich die Beteiligten sachgemäß zum Prozessstoff äußern können. Gibt ein Beteiligter zu erkennen, dass er außer Stande ist, sich in der mündlichen Verhandlung ohne weiteren Rat sachgemäß zu erstmals eingeführten Tatsachen, Erfahrungssätzen oder rechtlichen Gesichtspunkten, die möglicherweise für die Sachentscheidung erheblich sind, zu äußern, so ist ihm auf Antrag eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen, falls nicht offensichtlich ist, dass er den Antrag missbräuchlich stellt (vgl BSG vom 23.10.2003 - B 4 RA 37/03 B = SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 62
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 26.05.2009; Aktenzeichen L 9 U 23/05) |
SG Hannover (Gerichtsbescheid vom 28.12.2004; Aktenzeichen S 22 U 33/04) |
Tatbestand
Die Beklagte lehnte es ab, den Arbeitsunfall des Klägers vom 31. Januar 2003 über den 14. März 2003 hinaus zu entschädigen (Bescheid vom 17. Juli 2003, Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2004). Das Sozialgericht Hannover hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 2004). Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat in der mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2009 den Aufsatz "Begutachtung der Rotatorenmanschettenläsionen" von Prof. Dr. Bonnaire vom 29. November 2007 (Trauma und Berufskrankheit, Supplement 1, 2008) in das Verfahren eingeführt und der Prozessbevollmächtigten des Klägers nachgelassen, hierzu innerhalb von drei Wochen Stellung zu nehmen. Sodann hat das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26. Mai 2009). Der Schriftsatznachlass sei nicht zu gewähren gewesen, weil der Senat weder seine Entscheidungsfindung noch seine Entscheidung auf den Aufsatz von Prof. Dr. Bonnaire gestützt habe.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Obwohl ihm eine Erklärungsfrist eingeräumt worden sei, habe er keine Möglichkeit gehabt, zu dem Aufsatz von Prof. Dr. Bonnaire Stellung zu nehmen. Das LSG habe einzelne Passagen dieses Aufsatzes wörtlich übernommen und seine Entscheidung darauf gestützt. Wäre ihm rechtliches Gehör gewährt worden, hätte er darauf hingewiesen, dass aufgrund der Ausführungen von Prof. Dr. Bonnaire von der Kausalität zwischen seinem Unfall und der Rotatorenmanschettenruptur auszugehen sei. Außerdem hätte er einen Beweisantrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angegriffene Urteil des LSG vom 26. Mai 2009 beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Grundgesetz ≪GG≫, § 62 SGG) verletzt. Daher ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG) .
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190) , und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 26, 274; 96, 205, 216 f) . Aus ihm ergibt sich zwar keine Pflicht des Prozessgerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Die Beteiligten müssen aber ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen innerhalb einer angemessenen Zeit haben.
Nimmt der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung dadurch eine unerwartete Wendung, dass bisher nicht erörterte, eventuell entscheidungserhebliche Gesichtspunkte auftauchen oder das Gericht den Beteiligten mit einer geänderten Rechtsauffassung gegenübertritt, so muss vom Gericht, um Überraschungsentscheidungen zu verhindern, sichergestellt werden, dass sich die Beteiligten sachgemäß zum Prozessstoff äußern können. Gibt ein Beteiligter zu erkennen, dass er außer Stande ist, sich in der mündlichen Verhandlung ohne weiteren Rat sachgemäß zu erstmals eingeführten Tatsachen, Erfahrungssätzen oder rechtlichen Gesichtspunkten, die möglicherweise für die Sachentscheidung erheblich sind, zu äußern, so ist ihm auf Antrag eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen, falls nicht offensichtlich ist, dass er den Antrag missbräuchlich stellt (BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6) .
Vorliegend hat das LSG in der mündlichen Verhandlung den Aufsatz von Prof. Dr. Bonnaire in das Verfahren eingeführt. Damit hat es deutlich gemacht, dass dieser Aufsatz für die Sachentscheidung erheblich sein könnte. Das LSG hat daher zu Recht dem Antrag auf Gewährung eines Schriftsatznachlasses stattgegeben. Es hätte anschließend allerdings nicht die Berufung zurückweisen dürfen, sondern die bereits gewährte Erklärungsfrist auch faktisch einräumen müssen, um den Kläger die von ihm begehrte Äußerung zu ermöglichen.
Das angefochtene Urteil kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Dem steht nicht entgegen, dass der Aufsatz von Prof. Dr. Bonnaire die Entscheidung nicht beeinflusst hätte und damit für die Entscheidung unerheblich gewesen wäre. Entgegen den Ausführungen des LSG in den Entscheidungsgründen, der Senat habe weder seine Entscheidungsfindung noch seine Entscheidung auf den Aufsatz gestützt, hat es die von Prof. Dr. Bonnaire vertretene Ansicht, dass grundsätzlich nur Zugbelastungen geeignet seien, eine Sehnenruptur unfallbedingt herbeizuführen, übernommen und im Urteil wiedergegeben.
Ob der Anspruch auf rechtliches Gehör auch deshalb verletzt worden ist, weil das LSG wegen der Verkündung des angefochtenen Urteils trotz des zuvor in der mündlichen Verhandlung gewährten Schriftsatznachlasses gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen hat, kann daher dahinstehen.
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG wegen eines weiteren Sachvortrags im wieder eröffneten Berufungsverfahren zu einer für den Kläger günstigen Entscheidung gelangt oder es der Aufklärung von Tatsachen bedarf.
Um dem Kläger bei einer neuerlichen Befassung des LSG mit dem vorliegenden Rechtsstreit ein faires Verfahren zu gewährleisten, hält der erkennende Senat die Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat dieses LSG für angezeigt und unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens auch für geboten (vgl hierzu BSG SozR 4-1500 § 170 Nr 2 RdNr 79 f) . Sein Vertrauen auf eine unbefangene Rechtsfindung ist durch das Verhalten des 9. Senats des LSG nachhaltig erschüttert. Der andere Senat bestimmt sich nach dem für das laufende Jahr gültigen Geschäftsverteilungsplan des LSG.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen