Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Gehörsrüge. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. Erfordernis einer erneuter Anhörung. Anhörungsmitteilung
Orientierungssatz
1. Eine erneute Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG ist notwendig, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind (vgl BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B = juris RdNr 9 und vom 21.10.2021 - B 5 R 62/21 B).
2. Das Berufungsgericht muss in der Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG (lediglich) zum Ausdruck bringen, dass eine Zurückweisung der Berufung in Betracht kommt (vgl BSG vom 28.6.2021 - B 12 KR 99/20 B = juris RdNr 10). Ist der Berufungsführer anwaltlich vertreten, reicht sogar der bloße Hinweis auf die Bestimmung des § 153 Abs 4 SGG aus (vgl BSG vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R = SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 23).
Normenkette
SGG §§ 62, 153 Abs. 4 Sätze 1-2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juli 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die 1964 geborene Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte ihren erneuten Rentenantrag vom 5.9.2017 nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens ab (Bescheid vom 17.1.2018; Widerspruchsbescheid vom 29.8.2018). Das SG hat die Klage abgewiesen, nachdem es ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme beim Internisten, Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten S1 eingeholt sowie den Entlassungsbericht der R klinik in R zu einer erneuten stationären Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin im November/Dezember 2018 beigezogen hatte (Urteil vom 21.5.2021). Das LSG hat im dagegen von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren ein Gutachten beim Orthopäden und Unfallchirurgen S2 eingeholt. Mit Beschluss vom 22.7.2022 hat es die Berufung zurückgewiesen. Die Klägerin könne zumindest leichte Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich ausüben. Das ergebe sich hinsichtlich der seelischen Leiden aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen S1, das die abweichende Leistungseinschätzung einzelner behandelnder Ärzte sowie der Behandler in der R klinik widerlege. Dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen S2 sei zu entnehmen, dass auch die Erkrankungen auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet keine quantitative Leistungsminderung bedingen würden.
Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 25.10.2022 begründet hat.
II. 1. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Die geltend gemachten Verfahrensmängel werden nicht anforderungsgerecht bezeichnet.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Beschwerdebegründung wird den daraus abgeleiteten Anforderungen nicht gerecht.
a) Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG, indem das LSG sie nach Entgegennahme ihrer Stellungnahme zur Anhörungsmitteilung vom 14.4.2022 nicht darauf hingewiesen habe, dass es weiterhin eine Berufungszurückweisung im Beschlusswege beabsichtige. Eine Berufung kann gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG durch Beschluss zurückgewiesen werden, wenn das Berufungsgericht sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl nur BSG Beschlüsse vom 30.10.2019 - B 14 AS 330/18 B - juris RdNr 2; vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13 sowie vom 17.9.1997 - 6 RKa 97/96 - SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 20, 20a mwN) und das Berufungsgericht gleichwohl daran festhalten möchte, die Berufung im Beschlusswege zurückzuweisen. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) ist § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zugunsten der Beteiligten verfassungskonform weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll (BSG Beschluss vom 30.10.2019 - B 14 AS 330/18 B - juris RdNr 2). Eine erneute Anhörung ist daher schon dann notwendig, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind (vgl zB BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 62/21 B - juris RdNr 4 ff mwN). Die Klägerin zeigt keine Prozesssituation auf, die eine zweite Anhörungsmitteilung des LSG erforderlich gemacht haben könnte.
Sie trägt vor, in ihrer Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen S2 ausgeführt zu haben, bei ihr liege wegen des fehlenden Schul- und Ausbildungsabschlusses und der eingeschränkten Deutschkenntnisse eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbeeinträchtigung vor. Zudem habe sie gegenüber dem LSG angeregt, zur weiteren Aufklärung der durch den Tremor der Hände und die Schmerzerkrankung bedingten Leistungseinschränkungen ein neurologisches Gutachten einzuholen. Damit ist nicht hinreichend dargetan, inwiefern das LSG allein auf ihre Auseinandersetzung mit dem Sachverständigengutachten und ihre Beweisanregung mit einer erneuten Anhörungsmitteilung hätte reagieren müssen. Die Klägerin behauptet schon nicht, dass es sich hierbei um substanziell neuen Vortrag gehandelt habe. Ihrer in der Beschwerdebegründung auszugsweise wiedergegebenen Stellungnahme zum Sachverständigengutachten lässt sich vielmehr entnehmen, dass die Klägerin das Vorliegen eines Summierungsfalls bzw einer schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung bereits mit der Berufungsbegründung geltend gemacht hat. Auch die Beweisanregung sei "nach wie vor" gegeben worden. Auf ein Vorbringen, mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird, braucht nicht mit einer erneuten Anhörungsmitteilung reagiert zu werden (vgl zB BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 22.6.2021 - B 13 R 29/21 B - juris RdNr 9).
Im Kern wendet sich die Klägerin mit ihrem Vorbringen, das Gutachten des Sachverständigen S1 sei "nicht brauchbar", gegen die vom LSG in dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Auswertung und Würdigung der aktenkundigen medizinischen Befundberichte und Sachverständigengutachten. Die Richtigkeit der Beweiswürdigung der Vorinstanz (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) kann im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde jedoch von vornherein nicht überprüft werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).
b) Die Klägerin rügt als weitere Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG, das LSG habe in seiner Anhörungsmitteilung vom 14.4.2022 nicht ausreichend deutlich gemacht, dass es die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich halte. Es habe lediglich darauf hingewiesen, dass es so verfahren könne. Damit sind schon keine Umstände dargetan, die eine Verletzung der Anhörungspflicht zu begründen in der Lage wären. Das Berufungsgericht muss in der Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG (lediglich) zum Ausdruck bringen, dass eine Zurückweisung der Berufung in Betracht kommt (vgl BSG Beschluss vom 28.6.2021 - B 12 KR 99/20 B - juris RdNr 10; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 19). Ist der Berufungsführer wir hier anwaltlich vertreten, reicht sogar der bloße Hinweis auf die Bestimmung des § 153 Abs 4 SGG aus (vgl BSG Urteil vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 23).
Ungeachtet dessen fehlt Vortrag dazu, dass die Entscheidung des LSG iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf der vermeintlich fehlerhaften Anhörungsmitteilung beruhen könnte. Selbst eine unvollkommen formulierte Anhörungsmitteilung würde die in § 153 Abs 4 Satz 1 SGG festgelegten Voraussetzungen für die Befugnis des Berufungsgerichts, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, nicht zwangsläufig entfallen lassen. Das ist grundsätzlich erst anzunehmen, wenn der Fehler den Betroffenen an Vorbringen gehindert hat, welches das Berufungsgericht hätte veranlassen müssen, von einem Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG Abstand zu nehmen (vgl BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19; BSG Beschluss vom 18.7.2019 - B 13 R 259/17 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 29.6.2022 - B 5 R 24/22 BH - juris RdNr 10). Dazu trägt die Klägerin nichts vor. Sie zeigt deswegen auch nicht auf, dass besondere Umstände vorliegen könnten, unter denen eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG wie ein absoluter Revisionsgrund zu behandeln ist, sodass ein Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß unwiderleglich vermutet wird (vgl hierzu ausführlich BSG Beschluss vom 10.11.2022 - B 5 R 110/22 B - juris RdNr 11 ff mwN).
c) Soweit die Klägerin geltend macht, die behauptete Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG habe zu einer unvorschriftsmäßigen Besetzung des LSG (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) geführt, ist ein solcher Verfahrensmangel schon deswegen nicht anforderungsgerecht bezeichnet, weil die Klägerin, wie ausgeführt, eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG nicht hinreichend dargetan hat.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Düring Gasser Hannes
Fundstellen
Dokument-Index HI15702590 |