Verfahrensgang
SG Reutlingen (Entscheidung vom 10.05.2019; Aktenzeichen S 3 R 1652/15) |
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 03.04.2023; Aktenzeichen L 10 R 1736/19) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. April 2023 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Die im Jahr 1964 geborene Klägerin war zuletzt im Januar 2013 erwerbstätig. Danach bezog sie Kranken- und bis Dezember 2014 Arbeitslosengeld. Seitdem ist sie arbeitslos gemeldet ohne Leistungsbezug. Im Juli 2014 nahm die Klägerin an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teil. Im Entlassungsbericht vom 10.9.2014 wurde ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter qualitativen Einschränkungen beschrieben. Den im September 2014 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte wegen fehlender medizinischer Voraussetzungen ab (Bescheid vom 30.12.2014; Widerspruchsbescheid vom 24.6.2015).
Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt sowie auf Antrag der Klägerin mehrere Ärzte gutachtlich gehört. Es hat die Klägerin als nicht auf absehbare Zeit außerstande gesehen, erwerbstätig zu sein und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.5.2019). Im Berufungsverfahren hat die Klägerin zahlreiche weitere medizinische Unterlagen vorgelegt. Das LSG hat von Amts wegen ein Gutachten des Facharztes für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Innere Medizin G eingeholt, der ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich unter qualitativen Einschränkungen beschrieben hat. Die Untersuchung des zusätzlich vom LSG beauftragten Facharztes für Arbeitsmedizin K ist in beiderseitigem Einvernehmen am 14.5.2021 vorzeitig abgebrochen worden. In seinem Gutachten vom 27.5.2021 hat der Sachverständige festgehalten, die Klägerin bedürfe dringend einer psychiatrischpsychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme. Sie sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung zahlreicher qualitativer Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich nachzugehen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 7.9.2021 hat der Sachverständige ausgeführt, nach Abschluss einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung sei zu erwarten, dass eine vollschichtige Erwerbsfähigkeit wiedererlangt werden könne. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 19.11.2021 hat er seine früheren Aussagen bestätigt. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 3.4.2023).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 8.5.2023 Beschwerde beim BSG eingelegt. Die Revision sei gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 und 3 SGG zuzulassen. Mit Schreiben vom 12.7.2023 hat die Klägerin ihre Beschwerde weiter begründet. Sie rügt Verfahrensmängel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG und macht eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) sowie eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) und ihres Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet ist. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung über den zu entscheidenden Fall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und durch das Revisionsgericht zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit) (vgl hierzu B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160 RdNr 6 mwN). Eine solche Rechtsfrage enthält die Beschwerdebegründung nicht. Der Vortrag, "das Urteil" des LSG erscheine "absolut einseitig und willkürlich" und lasse die "Einheitlichkeit der Rechtsordnung" bei "Vorliegen derartiger Krankheiten in Bezug auf die Verrentung der betroffenen Personen außer Kraft", dies stehe im Widerspruch zum Gleichbehandlungsgrundsatz, ist nicht ansatzweise geeignet, einen Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu begründen.
2. Auch ein Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG wird in der Beschwerdebegründung nicht hinreichend bezeichnet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die Umstände, aus denen sich der Verfahrensfehler ergeben soll, substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht.
a) In ihrem Schriftsatz vom 8.5.2023 trägt die Klägerin zunächst vor, der Sachverständige K habe festgestellt, sie könne nach einer erfolgreichen psychiatrisch psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme (voraussichtlich) mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Ihr Antrag auf Gewährung einer stationären Heilbehandlung sei von der Beklagten jedoch mit der Begründung abgelehnt worden, die multiple chemische Unverträglichkeit lasse eine solche Maßnahme in entsprechenden Einrichtungen nicht zu. Indem sie dies als einen "geradezu krotesk anmutenden Vorgang" bezeichnet und ausführt, in logischer Konsequenz hätte ihr Rente (zumindest temporär) gewährt werden müssen, wendet sie sich ebenso wie mit dem weiteren Vorbringen, Sozialrichtern müssten die Folgen einer multiplen Chemikaliensensibilität (MCS) und eines Chronic Fatigue-Syndroms (CFS) auf die Berufsunfähigkeit bekannt sein und die Entscheidung des LSG sei "absolut einseitig und willkürlich" gegen die Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Diese kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde jedoch nicht angegriffen werden (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Teilsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
b) Die Klägerin macht zudem einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht geltend und begründet dies in ihrem Schreiben vom 12.7.2023 mit zahlreichen, im Einzelnen angeführten Aussagen des Sachverständigen G (Gutachten vom 23.9.2020) sowie des Gutachters K (Gutachten vom 27.5.2021), die nicht zutreffend seien. Es bestünden erhebliche Zweifel an deren Sachkunde. Auch hätte sich das LSG aufgrund einer erheblichen Verschlechterung ihres Krankheitsbildes zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen.
Damit wird eine Verletzung von § 103 SGG als Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die bereits im Berufungsverfahren rechtskundig vertretene Klägerin hat schon nicht vorgetragen, dass sie gegenüber dem LSG prozessordnungsgemäße Beweisanträge gestellt und bis zuletzt aufrechterhalten hat, wie § 160 Abs 2 Nr 3 SGG dies fordert. Die Bezeichnung eines solchen Beweisantrags gehört zu den grundlegenden Anforderungen an eine Rüge der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (stRspr; vgl ua BSG Beschluss vom 3.5.2023 - B 5 R 52/23 B - juris RdNr 7). Allein der Hinweis auf insgesamt neun verschiedene Schriftsätze mit der Behauptung, sie habe darin in prozessordnungsgerechter Weise Beweisanträge formuliert, ist nicht ausreichend. Die Klägerin hat weder zum Inhalt dieser Beweisanträge, insbesondere zu den konkret noch weiter aufklärungsbedürftigen Punkten (vgl § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 ZPO), etwas vorgetragen noch Ausführungen dazu gemacht, dass sie an den früheren Beweisanträgen auch nach Zugang der Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 SGG festgehalten hat. In der Beschwerdebegründung lediglich auf frühere Beweisantritte Bezug zu nehmen, genügt nicht (vgl BSG Beschluss vom 28.8.2023 - B 5 R 57/23 B - juris RdNr 13 mwN).
c) Soweit die Klägerin darüber hinaus eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) rügt und geltend macht, das LSG habe ihre Einwände gegen die Gutachten von G und K sowie von ihr vorgelegte ärztliche Gutachten und Berichte nicht hinreichend berücksichtigt und den Sach- und Streitstand nicht adäquat zur Kenntnis genommen, legt sie damit nicht eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, sondern macht lediglich eine unzutreffende Beweiswürdigung geltend.
d) Auch mit ihrem weiteren Vortrag, das LSG habe fehlerhaft durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, hat die Klägerin einen Verfahrensfehler nicht hinreichend bezeichnet. Das LSG "kann" die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs 4 Satz 1 SGG). Die Klägerin führt zu Recht aus, dass diese Ermessensentscheidung lediglich dahingehend überprüft werden kann, ob das LSG von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Beurteilung sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde lagen (vgl BSG Beschluss vom 28.8.2023 - B 5 R 57/23 B - juris RdNr 9). Solche Umstände hat die Klägerin zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Verfahrensmangels jedoch nicht dargetan. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus ihrem Vortrag, es seien erhebliche weitere Krankheitsverschlimmerungen eingetreten und bislang nicht berücksichtigte Erkrankungen hinzugekommen, weshalb das LSG sich durch Vernehmung der Klägerin noch selbst ein Bild von ihrem Gesundheitszustand und den dadurch bestehenden Beeinträchtigungen hätte machen müssen. Abgesehen davon, dass die Klägerin damit in der Sache erneut eine mangelhafte Sachaufklärung rügt, ist nicht vorgetragen, auf welche medizinische Expertise das LSG seine eigene Bewertung hätte stützen sollen und welche - im Vergleich zu dem äußerst umfangreichen schriftsätzlichen Vorbringen im Berufungsverfahren - neuen Erkenntnisse hätten gewonnen werden können.
3. Der mit Schriftsatz vom 8.5.2023 formulierten Bitte um einen richterlichen Hinweis, sollte der bisherige Vortrag Ergänzungen bedürfen, war nicht zu entsprechen. Aus § 106 Abs 1 SGG folgte keine Pflicht, einen Beteiligten, der sachkundig durch einen Bevollmächtigten iS des § 73 Abs 4 Satz 1 SGG vertreten ist, auf mögliche Mängel der Beschwerdebegründung hinzuweisen (vgl BSG Beschluss vom 7.12.2022 - B 5 R 176/22 B - juris RdNr 8 mwN).
4. Soweit die Klägerin mit Schreiben vom 14.9.2023 weitere Ausführungen zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitsbildes vorgetragen hat, erfolgte dies außerhalb der bis zum 12.7.2023 verlängerten Begründungsfrist.
5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI16226601 |