Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Honorarverteilungsmaßstab. Rechtswidrigkeit einer Regelung über Erhöhung des Individualbudgets. Nichtberücksichtigung von Patientenzulauf aus anderem KÄV-Bezirk wegen Praxisschließung
Orientierungssatz
1. Mit den Regelungen über die freie Arztwahl und mit den Bestimmungen über die umfassende Behandlungspflicht des Vertragsarztes steht es nicht in Einklang, wenn in einer Honorarregelung eines Honorarverteilungsmaßstabes über die Erhöhung des Individualbudgets wegen Patientenzulaufs nach Schließung einer nahe gelegenen Praxis die Versicherten aus dem anderen KÄV-Bezirk im Gegensatz zu solchen aus dem eigenen nicht berücksichtigt werden.
2. Dieses Ergebnis stimmt mit der Rechtslage im Zulassungsrecht überein, wonach sowohl für das Bestehen einer Unterversorgung als auch für das Vorliegen eines zusätzlichen lokalen Versorgungsbedarfs auf den "Ort der tatsächlichen Inanspruchnahme der ärztlichen Leistungen" abzustellen ist.
Normenkette
SGB 5 § 76 Abs. 1 S. 1, § 82 Abs. 1, § 85 Abs. 4, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 9, § 95 Abs. 3 Sätze 1, 3, § 101 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; BMV-Ä § 13; EKV-Ä § 13; ÄBedarfsplRL § 31 Abs. 1 Nr. 2, § 34a Abs. 6 Nr. 2 Fassung: 2008-06-03
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 6. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 20 000 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Streitig ist, ob ein Arzt nach Schließung einer Praxis im Bezirk einer benachbarten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) fordern kann, ihm sein Individualbudget (IB) wegen zusätzlicher Patienten aus jenem KÄV-Bezirk zu erhöhen.
Der Kläger, Neurologe und Psychiater und seit 1986 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen, betreibt seine Praxis in B. Ein Nervenarzt im benachbarten F. gelegen im Bundesland Brandenburg - schloss seine Praxis zum Ende 2002; andere Nervenärzte gab es in der dortigen Region nicht; die nächstgelegene nervenärztliche Praxis befand sich in P. Eine Nachbesetzung der Praxis erfolgte im August 2003 durch eine Fachärztin für Psychiatrie; außerdem wurden im Juli und September 2004 zwei Nervenärzte in F. zugelassen.
Der Honorarverteilungsmaßstab (HVM) der Beklagten sah ab dem 1.7.2003 IBs vor. Der Kläger beantragte, das ihm zugemessene IB im Hinblick auf die Schließung der benachbarten Praxis und die Übernahme dort wohnhafter Patienten zu erhöhen. Dies lehnte die Beklagte ab, weil nicht sie, sondern die dortige KÄV zur Sicherstellung der Versorgung der dort wohnhaften Patienten verpflichtet sei.
Das SG hat die Beklagte zur Neuberechnung des IB des Klägers für die Quartale III/2003 bis II/2004 verpflichtet; das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteile vom 28.6.2006 und vom 6.10.2010). Das LSG hat - unter weitgehender Bezugnahme auf das Urteil des SG - ausgeführt: Eine Praxisschließung im näheren Umfeld des Klägers im Sinne des § 9 Abs 9 HVM habe vorgelegen, denn die Praxis des Klägers sei nur 9 km von F. entfernt. Durch die Schließung der dortigen Praxis sei es zur Übernahme von deren Patienten gekommen. Da in dem Ausnahmetatbestand des § 9 Abs 9 HVM weitere Voraussetzungen nicht normiert seien, sei der Anspruch auf Erhöhung des IB gegeben. Dafür erhalte die Beklagte Zahlungen aus dem sog Fremdkassenausgleich.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG. Sie macht geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung.
II. Die Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.
1. Das Vorbringen der Beklagten, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG), entspricht zwar den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Ihre Beschwerde ist mithin zulässig. Sie ist aber unbegründet, denn nicht alle Erfordernisse für die Revisionszulassung sind erfüllt.
Eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt insbesondere dann, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist und/oder wenn sie sich ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt (hierzu siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (siehe die BVerfG-Angaben in BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 sowie BVerfG ≪Kammer≫ SozR 4-1500 § 160a Nr 16 RdNr 4 f).
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Die Beklage wirft - hier sinngemäß verkürzt - die Rechtsfrage auf, |
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ob ein Anspruch auf Erhöhung des IB wegen Schließung einer Praxis im Umfeld und Übernahme ihrer Patienten auch dann auf eine HVM-Bestimmung wie § 9 Abs 9 HVM gestützt werden kann, wenn die Praxis in einem anderen KÄV-Bezirk gelegen war. |
Insoweit besteht kein bundesrechtlicher Klärungsbedarf. |
§ 9 Abs 9 HVM räumt nach seinem Wortlaut einen Anspruch auf Erhöhung des IB für den Fall einer Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld des Antragstellers und entsprechender Patientenübernahme ein. Das SG und das LSG haben dazu ausgeführt, dass diese Bestimmung keine weitere Voraussetzung enthält, insbesondere auch nicht auf eine Praxisschließung im selben KÄV-Bezirk abstellt.
Ob bzw inwieweit diese Auslegung überhaupt bundesrechtlich überprüft werden kann, ist zweifelhaft. Denn ein HVM stellt landesrechtliches Satzungsrecht dar. Die Feststellung und Auslegung von Landesrecht durch das LSG ist für die revisionsgerichtliche Überprüfung grundsätzlich verbindlich, es sei denn, der Geltungsbereich der Bestimmung erstreckt sich über den Bezirk des LSG hinaus oder es besteht in dem Bezirk eines anderen LSG eine inhaltlich identische Bestimmung; dann kann das BSG die Bestimmung in vollem Umfang überprüfen und sie ohne Bindung an die Auffassung des LSG selbst auslegen (vgl dazu § 162 SGG und die stRspr des BSG, zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7 RdNr 26; BSGE 106, 110 = SozR 4-2500 § 106 Nr 27, RdNr 30 mwN). Weiterhin sind auch solche landesrechtlichen Normen einer eigenständigen Auslegung durch das BSG zugänglich, die das LSG gänzlich unberücksichtigt gelassen hat (BSG SozR 4-2500 § 127 Nr 2 RdNr 19; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7 RdNr 28 aE; BSGE 106, 110 = SozR 4-2500 § 106 Nr 27, RdNr 31 mwN). Soweit indessen weder vom LSG nicht berücksichtigtes noch bezirksübergreifend einheitlich geltendes Landesrecht betroffen ist, sind dessen Feststellung und Auslegung durch das LSG grundsätzlich für das Revisionsgericht verbindlich. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Auslegung willkürlich, dh schlechthin nicht nachvollziehbar ist (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 19 RdNr 6; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 28 RdNr 27; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7 RdNr 28). Noch nicht abschließend geklärt ist, ob darüber hinausgehend eine Überprüfung daraufhin erfolgen kann, ob das Ergebnis der Auslegung auch ansonsten mit Bundesrecht vereinbar ist, insbesondere ob etwa generelle Auslegungsgrundsätze verkannt worden sind (dafür zB BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 7 RdNr 21 und BSG vom 23.6.2010 - B 6 KA 50/09 B - RdNr 8 am Ende; - zurückhaltend BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7 RdNr 28).
Selbst wenn im Sinne der Ausführungen der Beklagten davon ausgegangen wird, in anderen KÄV-Bezirken bestünden Bestimmungen, die mit § 9 Abs 9 HVM inhaltlich identisch sind, und deshalb sei § 9 Abs 9 HVM in vollem Umfang bundesgerichtlich überprüfbar, kann ein bundesgerichtlicher Klärungsbedarf nicht festgestellt werden. Die Auslegung von SG und LSG, § 9 Abs 9 HVM begründe einen Anspruch auf Erhöhung des IB für den Fall einer Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld und entsprechender Patientenübernahme und diese Bestimmung enthalte keine weitere Voraussetzung - wie zB: deren Lage im selben KÄV-Bezirk -, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Dies ergibt sich ohne Weiteres aus den einschlägigen Rechtsvorschriften (unten RdNr 13 ff) und findet seine Bestätigung in einem jüngeren Urteil des BSG (unten RdNr 15):
Aus den gesetzlichen Regelungen über die freie Arztwahl, die nicht auf den KÄV-Bezirk begrenzt ist, in dem der Versicherte wohnt (§ 76 Abs 1 Satz 1 SGB V), in Verbindung mit den Bestimmungen über die Behandlungspflicht des Vertragsarztes, die gegenüber allen Versicherten ohne Differenzierung nach deren Wohnort besteht (§ 95 Abs 3 Satz 1 und 3 SGB V iVm § 13 Bundesmantelvertrag Ärzte/§ 13 Ersatzkassenvertrag Ärzte), ergibt sich, dass untergesetzliche Rechtsnormen dem Versicherten nicht verwehren dürfen, Ärzte in einem anderen KÄV-Bezirk in Anspruch zu nehmen, und dass diese Ärzte - unabhängig davon, wie weit die Pflicht ihrer KÄV zur Sicherstellung der Versorgung reicht - zu deren Behandlung verpflichtet sind. Daraus folgt weiter, dass die Behandlung von Versicherten aus anderen KÄV-Bezirken nicht durch unzumutbare (Vergütungs-)Regelungen behindert werden darf. Dies schließt zwar nicht aus, dass das Honorar für deren Behandlung in seiner Höhe im Vergleich zum Honorar für Behandlungen der Versicherten des eigenen KÄV-Bezirks maßvoll geringer - oder auch höher - sein darf (zB dadurch, dass für die Honorierung der Behandlung von Versicherten aus anderen KÄV-Bezirken die Vergütungsmaßstäbe des sog Fremdkassenausgleichs zugrunde gelegt werden: vgl zu solchen Fällen BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 1 RdNr 9 f, 12, und BSG vom 9.12.2004 - B 6 KA 71/03 R und B 6 KA 73/03 R -, jeweils unter II. 3. e, letzter Absatz, sowie BSG vom 9.12.2004 - B 6 KA 83/03 R - unter II. 2. e, letzter Absatz). Mit den genannten Regelungen über die freie Arztwahl und mit den Bestimmungen über die umfassende Behandlungspflicht des Vertragsarztes steht es aber nicht in Einklang, wenn in einer Honorarregelung über die Erhöhung des IB wegen Patientenzulaufs nach Schließung einer nahe gelegenen Praxis die Versicherten aus dem anderen KÄV-Bezirk im Gegensatz zu solchen aus dem eigenen nicht berücksichtigt werden.
Ist mithin eine solche Eingrenzung rechtswidrig, so ergibt sich zugleich, dass sie auch nicht in den Tatbestand des § 9 Abs 9 HVM hineininterpretiert werden kann. Die Auslegung von SG und LSG ist mithin zutreffend.
Dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Zulassungsrecht. So ist nach der Bedarfsplanungs-Richtlinie-Ärzte (BedarfsplRL-Ä) sowohl für das Bestehen einer Unterversorgung (§ 31 Abs 1 Nr 2 BedarfsplRL) als auch für das Vorliegen eines zusätzlichen lokalen Versorgungsbedarfs (§ 34a Abs 6 Nr 2 BedarfsplRL, eingefügt durch Beschluss des GBA vom 13.3.2008, BAnz Nr 80 vom 3.6.2008 = DÄ 2008, A 1518) auf den "Ort der tatsächlichen Inanspruchnahme der ärztlichen Leistungen" abzustellen. Daran hat der Senat in seinem jüngsten Urteil zu einer Sonderbedarfszulassung im Zusammenhang mit der Berechnung eines besonderen Versorgungsbedarfs angeknüpft: In diesem Urteil ist unter Bezugnahme auf das Recht der Versicherten auf freie Arztwahl (§ 76 Abs 1 Satz 1 SGB V; vgl dazu BSGE 105, 10 = SozR 4-5520 § 24 Nr 3, RdNr 26 und 50 mwN) ausgeführt, dass für die Ermittlung und Quantifizierung des Versorgungsbedarfs kein Raum für ein Herausrechnen "einpendelnder" Patienten ist (BSG vom 8.12.2010 - B 6 KA 36/09 R - RdNr 34 bis 36, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
Nach alledem ist die Auslegung von SG und LSG so eindeutig zutreffend, dass kein Bedarf für eine Klärung in einem Revisionsverfahren besteht. Für die Zulassung der Revision ist mithin kein Raum.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt die Beklagte die Kosten des von ihr erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG. Die Bemessung des Streitwerts erfolgt entsprechend der Festsetzung des LSG, die von keinem Beteiligten in Frage gestellt worden ist.
Fundstellen