Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Würdigung von Sachverständigengutachten. Obergutachten
Orientierungssatz
1. Das Gericht ist in der Würdigung der Sachverständigengutachten grundsätzlich frei; es kann auch ohne Einholung eines weiteren Gutachtens von ihnen abweichen (vgl BSG vom 6.12.1989 - 2 BU 146/89).
2. Einen allgemeinen Anspruch auf Überprüfung eines Sachverständigengutachtens durch ein "Obergutachten" sehen die Prozessordnungen - auch das SGG - nicht vor (vgl BSG vom 17.11.2003 - B 3 P 23/03 B).
3. Bei widersprechenden Gutachten ist das Gericht gehalten, sich mit dem Gutachten, dem es nicht folgt, auseinander zu setzen (vgl BSG vom 28.6.1988 - 2 BU 194/87 = HV-INFO 1988, 1850).
Normenkette
SGG §§ 103, 128 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 11.10.2005; Aktenzeichen L 10 RJ 303/03) |
SG Lüneburg (Urteil vom 09.09.2003; Aktenzeichen S 4 RJ 149/01) |
Tatbestand
Mit Urteil vom 11. Oktober 2005 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Bei Beachtung von Leistungseinschränkungen sei sie noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Im Vordergrund stünden bei ihr gesundheitliche Beeinträchtigungen auf orthopädischem Gebiet; diese seien durch die weitgehend übereinstimmenden Gutachten der Dres. B. und S. geklärt. Der neurologisch-psychiatrische Sachverständige Dr. B. habe keine relevanten neurologischen und psychischen Gesundheitsstörungen feststellen können. Das psychotherapeutische Gutachten des Sachverständigen T. vermöge den Senat nicht zu überzeugen, weil die gestellten Diagnosen nicht nachvollziehbar begründet seien. Auf internistischem Gebiet bestünden keine wesentlichen Leistungseinschränkungen. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liege nicht vor. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin von einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ausgehe, sei sie auf die Tätigkeit als Registraturkraft verweisbar.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich vor allem auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern.
Entscheidungsgründe
1. Soweit sie die Darlegungserfordernisse erfüllt, ist die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin nicht begründet.
Zu Unrecht macht sie als Verfahrensfehler geltend, das LSG hätte gemäß ihrem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag ein weiteres medizinisches Gutachten einholen müssen.
In der Nichtbefolgung des Beweisantrags liegt keine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG brauchte sich nicht gedrängt zu fühlen (vgl dazu zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 5), ein weiteres medizinisches Gutachten, insbesondere ein "fachübergreifendes Obergutachten" auf dem Gebiet der "Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie" einzuholen. Das Gericht ist in der Würdigung der Sachverständigengutachten grundsätzlich frei; es kann auch ohne Einholung eines weiteren Gutachtens von ihnen abweichen (BSG Beschluss vom 6. Dezember 1989 - 2 BU 146/89). Einen allgemeinen Anspruch auf Überprüfung eines Sachverständigengutachtens durch ein "Obergutachten" sehen die Prozessordnungen - auch das SGG - nicht vor (BSG Beschluss vom 17. November 2003 - B 3 P 23/03 B). Bei widersprechenden Gutachten ist das Gericht aber gehalten, sich mit dem Gutachten, dem es nicht folgt, auseinander zu setzen (BSG HV-INFO 1988, 1850).
Nach diesen Grundsätzen ist das LSG verfahren. Es hat im Einzelnen dargelegt, weshalb es den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. und nicht dem nach § 109 SGG bestellten Sachverständigen T. gefolgt ist. Das LSG hat die Schlussfolgerung des Dr. B., dass über die von den Orthopäden festgestellten Gesundheitsstörungen hinaus nur ein "leicht ausgeprägtes depressives Syndrom vom vital-gestörten Typ" vorliege, aufgrund seiner Herleitung insbesondere aus den Eindrücken während der Exploration und Untersuchung als auch aus der Analyse des Tagesablaufs als überzeugend angesehen. Demgegenüber ist es dem Gutachten des Sachverständigen T., der zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen gekommen sei, nicht gefolgt, weil dessen gestellte Diagnosen "psychosomatisches Schmerzsyndrom, psychische Störung aufgrund des Verlustes einer wesentlichen Bezugsperson (Vater) in der Kindheit, posttraumatische Belastungssituation infolge einer versuchten Vergewaltigung" nicht nachvollziehbar begründet seien. Eine Begründung, warum das Leistungsvermögen der Klägerin derart weitgehend eingeschränkt sein solle, enthalte sein Gutachten nicht.
Auch unter Würdigung des Beschwerdevorbringens der Klägerin ist nicht ersichtlich, dass das Sachverständigengutachten des Dr. B., auf das das LSG seine ablehnende Entscheidung gestützt hat, schwere Mängel aufweist, in sich widersprüchlich ist, von unzulässigen Voraussetzungen ausgeht oder Zweifel an der Sachkunde oder Sachdienlichkeit des Sachverständigen erweckt. Nur unter diesen Voraussetzungen könnte das Berufungsgericht verpflichtet gewesen sein, ein weiteres Gutachten einzuholen (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm § 412 Abs 1 der Zivilprozessordnung). Auch die Klägerin macht insbesondere nicht geltend, dass ein Neurologe und Psychiater als Sachverständiger von vornherein zur Begutachtung der von ihr geltend gemachten Gesundheitsstörungen ungeeignet sei.
Wenn das LSG bei dieser Ausgangslage begründet, warum es nur einem, nicht jedoch dem anderen von zwei Gutachten folge, kann hieraus der Vorwurf der Anmaßung eigener Sachkunde nicht hergeleitet werden.
Ebenfalls unbegründet ist die Rüge der Klägerin (Beschwerdebegründung Bl 12 unter III), das LSG sei zu Unrecht ihrem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht gefolgt, ein berufskundliches Gutachten zu den Fragen einzuholen, ob es die Tätigkeit einer Registraturgehilfin in hinreichender Zahl auf dem Arbeitsmarkt gebe und ob sie eine solche Tätigkeit in Anbetracht ihrer obstruktiven Lungenerkrankung überhaupt zumutbar verrichten könne. Denn, wie vom LSG dargelegt (S 14 ff des Berufungsurteils), konnte sie ohne Benennung einer konkreten Tätigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Soweit sich das LSG trotzdem (S 16 ff) mit einer Eignung der Klägerin für die Tätigkeit einer Registraturhilfskraft beschäftigt hat, geschah dies rein hilfsweise (S 16 des Berufungsurteils: "Selbst wenn ..."). Wenn die Klägerin insoweit anderer Ansicht ist (wie aus Bl 12 ff der Beschwerdebegründung hervorgeht), so wendet sie sich damit gegen die Beweiswürdigung des LSG, die jedoch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht durch Rüge angegriffen werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 letzter Teilsatz SGG).
2. Die weiteren Rügen der Klägerin sind schon deshalb nicht geeignet, die Revisionsinstanz zu eröffnen, weil sie den formellen Anforderungen an eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerecht werden.
Die Klägerin hat insbesondere keinen Verfahrensfehler bezeichnet, indem sie vorträgt (vgl Beschwerdebegründung Bl 10 f unter II 3), das LSG habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung verletzt. Es hätte ein fachübergreifendes Gutachten einholen müssen; bei ihr, der Klägerin, seien in Gerichtsverfahren zwei orthopädische Gutachten, ein neurologisch-psychiatrisches und ein psycho-therapeutisch/psychosomatisches Gutachten eingeholt worden. Stattdessen habe das LSG die Gesamtwürdigung dieser Gutachten selbst vorgenommen. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Entscheidung nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung) kann die Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht gestützt werden. Soweit die Klägerin mit ihrem Vortrag darüber hinaus geltend machen möchte, das LSG hätte sich auch gedrängt fühlen müssen (§ 103 SGG), im Hinblick auf eine erforderliche Gesamtschau von Psychiatrie/Psychosomatik und Orthopädie ein Obergutachten einzuholen, so fehlt es insoweit bereits an der Bezeichnung eines hierauf gerichteten Beweisantrags, wie von § 160 Abs 2 Nr 3 letzter Teilsatz SGG verlangt.
Soweit die Klägerin geltend macht, die Leistungseinschränkungen durch ihr Lungenleiden seien in dem Verfahren nicht ausreichend ermittelt worden, hat sie keinen im Berufungsverfahren gestellten Beweisantrag auf medizinische Aufklärung dieses Leidens bezeichnet. Insoweit erschöpfen sich die Ausführungen der Klägerin in der Darlegung der eigenen, von der des LSG abweichenden Rechtsauffassung. Die damit von der Klägerin behauptete fehlerhafte Rechtseinschätzung des LSG kann aber nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde sein. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG ist die vermeintliche Unrichtigkeit einer vorinstanzlichen Entscheidung kein gesetzlicher Revisionszulassungsgrund.
Ferner rügt die Klägerin die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG). Sie trägt insoweit jedoch lediglich vor (Beschwerdebegründung Bl 12 unter III), das Gericht habe gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen, indem es dem in der Berufungsverhandlung gestellten zweiten Hilfsantrag (auf Einholung eines berufskundlichen Gutachtens, ob es die Tätigkeit einer Registraturgehilfin in hinreichender Zahl auf dem Arbeitsmarkt gebe und ob sie, die Klägerin, eine solche Tätigkeit in Anbetracht ihrer obstruktiven Lungenerkrankung überhaupt zumutbar verrichten könne) nicht gefolgt sei; ihre Lungenerkrankung sei im gesamten Verfahren damit aber nicht hinreichend aufgeklärt worden. Damit bezeichnet sie keine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Die Klägerin rügt schließlich (Beschwerdebegründung Bl 11 f) einen Verstoß des Berufungsgerichts gegen den vom BSG aufgestellten Grundsatz "ohne eine ... Gesamtbeurteilung durch den Sachverständigen ... werden unter Verletzung des § 103 SGG die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG) überschritten" (Bezug auf BSG Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 3685 ≪wohl gemeint: 36/85≫ - SozR 1500 § 128 Nr 31 und BSG vom 10. Dezember 2003 - B 5 RJ 24/03 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 3). Ob die Klägerin mit dem von ihr wiedergegebenem Zitat einen konkreten Rechtssatz des BSG bezeichnet hat, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat sie keinen diesem Zitat widersprechenden Rechtssatz des LSG gegenübergestellt. Ohne die entsprechende Gegenüberstellung wird der Senat jedoch nicht in die Lage versetzt zu beurteilen, ob das LSG - wie für das Vorliegen einer Divergenz erforderlich - bewusst von höchstrichterlicher Rechtsprechung abgewichen ist (s hierzu BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Eine - unterstellte - unzutreffende Rechtsanwendung durch das LSG stellt hingegen keinen Zulassungsgrund dar (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen