Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz ausländischer Arbeitnehmer auf der Fahrt vom Ort der Inlandsbeschäftigung in den Heimatstaat. Nichtberücksichtigung eines schriftlichen Beweisantrages
Orientierungssatz
1. Da es für den Begriff der Familienwohnung (vgl § 550 Abs 3 RVO) nicht auf die frühere oder spätere, sondern die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse zum Unfallzeitpunkt ankommt, liegt die Familienwohnung im Ausland, wenn sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Familie zum Unfallzeitpunkt dort befand. Der Umstand, daß zu diesem Zeitpunkt eine Rückverlegung des Mittelpunkts der Lebensverhältnisse in die Bundesrepublik Deutschland bereits beabsichtigt war, ändert hieran nichts.
2. War der Terminsmitteilung durch das LSG zu entnehmen gewesen, daß im Termin eine Beweiserhebung nicht vorgesehen war, so muß ein vorher gestellter, schriftlicher Beweisantrag zumindest in einem Hilfsantrag zum Sachantrag erneut zum Ausdruck gebracht werden; wird dies unterlassen, so liegt kein Verfahrensmangel vor.
Normenkette
RVO § 550 Abs 3; SGG § 160 Abs 2 Nr 3
Gründe
Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, der in L beschäftigt war, erlitt am 19. Dezember 1977 auf der Fahrt zu seiner Familie einen Unfall in der Nähe von N. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, da kein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestanden habe; seine Familienwohnung habe sich in L befunden, seine Ehefrau und seine Kinder hätten sich nur besuchsweise in Italien aufgehalten (Bescheid vom 27. März 1979). Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Entschädigungsleistung dem Grunde nach verurteilt (Urteil vom 30. März 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 20. Januar 1982).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich die Beklagte mit der Beschwerde. Sie macht Divergenz, grundsätzliche Bedeutung und einen Verfahrensmangel geltend (§ 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. Oktober 1972 (BSGE 35, 32) sieht die Beklagte darin, daß es nach dieser Entscheidung für den Begriff der ständigen Familienwohnung im Sinne des § 550 RVO auf den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Versicherten ankomme, das LSG sich jedoch auf die Prüfung beschränkt habe, wo sich die Ehefrau und die Kinder des Klägers im Unfallzeitpunkt aufgehalten hätten. Es trifft zwar zu, daß der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten nach der von der Beklagten angeführten Entscheidung ausschlaggebend dafür ist, wo sich seine ständige Familienwohnung befindet. Dies entspricht der auch im Schrifttum geteilten ständigen Rechtsprechung des BSG ( s die zahlreichen Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S 485 u ff). Nach dem Sachverhalt, der dem Urteil des BSG vom 31. Oktober 1972 (aaO) zugrunde lag, war zu entscheiden, ob sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse einer verheirateten Versicherten auch dann an dem Ort der gemeinsamen Wohnung der Eheleute an ihrem Arbeitsort in der Bundesrepublik Deutschland befindet, wenn ihre Kinder weiterhin in der früheren elterlichen Wohnung im Ausland (Spanien) leben. Das BSG hat dies bejaht und dazu ua ausgeführt, daß für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Familienwohnung nicht die frühere oder spätere, sondern die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse der Versicherten im Unfallzeitpunkt maßgebend ist (aaO S 33, 34). Hiervon weicht das angefochtene Urteil, dem ein anderer Sachverhalt zugrunde liegt, nicht ab. Das LSG hat vielmehr ebenfalls darauf abgestellt, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse tatsächlich bei seiner noch in Italien lebenden Familie gehabt habe und nicht mehr wie früher und noch nicht wieder wie später an seinem Arbeitsort L. Es hat insbesondere nicht den bloßen Aufenthalt der Ehefrau und der Kinder im Ausland als ausschlaggebend für die Bestimmung des Mittelpunkts der Lebensverhältnisse des Klägers angesehen, wie die Beklagte in der Beschwerdebegründung vorbringt, sondern wesentlich den Umstand, daß nach der auf dauernd gerichteten Umsiedlung der Familie des Klägers im April/Mai 1977 von L nach F/Sizilien die später beschlossene Rückverlegung der Familienwohnung im Unfallzeitpunkt noch nicht durchgeführt worden war.
Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nicht schon damit dargelegt, daß nach der Auffassung der Beklagten das LSG zu Unrecht davon ausgegangen ist, der Kläger habe im April oder Mai 1977 den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse für eine nicht unerhebliche Zeit nach Italien verlegt und im Unfallzeitpunkt die Rückverlegung noch nicht verwirklicht. Ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat, ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Wie schon ausgeführt, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse maßgebend dafür, ob eine Wohnung für eine nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet und daher als ständige Familienwohnung anzusehen ist (vgl die Zusammenstellung bei Brackmann aaO S 485 u ff). Insoweit hat die Rechtssache, weil sie revisionsgerichtlich bereits geklärt ist, keine grundsätzliche Bedeutung (s BSG SozR 1500 § 160a Nr 4; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, S 29 Rdnr 65 mN). Nach der Ansicht der Beklagten ist es von grundsätzlicher Bedeutung, "ob die Beibehaltung oder Rückverlegung des Wohnsitzes von Sizilien nach Deutschland nicht schon mit dem Willensentschluß, sondern erst mit dessen Verwirklichung, also mit der Rückkehr der gesamten Familie nach Deutschland, eintrat, und in welcher Weise diese Verwirklichung in Erscheinung getreten sein muß". Dazu trägt die Beklagte vor, der Kläger habe den Entschluß, seine Familie in Italien bleiben zu lassen, nicht nur mit Sicherheit vor dem Unfall rückgängig gemacht, sondern auch in die Tat umgesetzt. Dies ergebe sich daraus, daß er die Kündigung der Wohnung in L (Mai 1977) alsbald zurückgenommen (Juni 1977), der Vermieter dieser Rücknahme und der Weiterverwendung der bisherigen Wohnung zugestimmt und der Kläger sofort begonnen habe, die Wohnung mit neubeschafften Möbeln einzurichten; lediglich für die Rückholung der Familie habe der Kläger den eigenen Urlaub abgewartet; unter diesen Umständen werde den tatsächlichen Verhältnissen Gewalt angetan mit der Annahme, der Kläger habe den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen nicht sofort wieder nach Deutschland zurückverlegt. Auch aus diesem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Das vom LSG gefundene Ergebnis beruht vielmehr ausschlaggebend auf einer Würdigung der Verhältnisse des gegebenen Falles (s Weyreuther aaO S 27 Rdnr 61 mN).
Die Beklagte macht weiter geltend, das LSG sei ohne hinreichende Begründung einem Beweisantrag nicht gefolgt und habe dadurch die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt.
In der Berufungsschrift vom 4. Mai 1981 hatte die Beklagte zwar hilfsweise die Vernehmung des C G beantragt und im Schriftsatz vom 29. Juli 1981 ergänzend ausgeführt, G könne sehr wohl etwas zum Ort der Familienwohnung sagen, da er zumindest das Schreiben an die Wohnungsvermieterin vom 20. Juni 1977, mit dem die Wohnungskündigung zurückgenommen worden sei, im Auftrag des Klägers geschrieben habe. Diesen Antrag hat sie jedoch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 20. Januar 1982 nicht mehr aufrechterhalten. Allerdings sind Beweisanträge iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht nur solche Anträge, die in einem Protokoll über eine mündliche Verhandlung aufgenommen werden, sondern auch diejenigen, die in den vorbereitenden Schriftsätzen enthalten sind (BSG SozR 1500 § 160 Nr 12). Aus dem Verlauf des Berufungsverfahrens ist jedoch zu erkennen, daß die Beklagte an dem schriftlich gestellten Antrag nicht mehr festgehalten hat). Der Terminsmitteilung des LSG vom 4. Dezember 1981 konnte die Beklagte entnehmen, daß im Termin am 20. Januar 1982 keine Beweiserhebung, insbesondere also nicht die Vernehmung des C G vorgesehen war. Gleichwohl hat sie in der mündlichen Verhandlung nicht beantragt, den von ihr benannten Zeugen zu vernehmen. Ein Festhalten an dem schriftsätzlich gestellten Antrag hätte zumindest in einem Hilfsantrag zum Sachantrag zum Ausdruck gebracht werden müssen. Unter diesen Umständen kann die Beklagte im Beschwerdeverfahren nicht mehr rügen, das Berufungsverfahren leide wegen Nichtberücksichtigung eines Beweisantrages an einem wesentlichen Mangel (s BSG SozR Nr 2 zu § 295 ZPO; BSG SozR 1500 § 160 Nr 12; ständige Rechtsprechung des Senats, s ua Beschluß vom 3. November 1982 - 2 BU 157/82 - mN).
Darüber hinaus hätte sich das LSG zur Vernehmung des C G als Zeugen nicht gedrängt fühlen müssen, weil es aus seiner Sicht, wie im Urteil dargelegt, auf die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen nicht ankam. Nach der Auffassung des LSG brauchte zu der Frage, ob die Begründung in dem Schreiben vom 20. Juni 1977 für den Wunsch, die Wohnung in behalten zu können, ausschließlich vom Kläger stammte, der Zeuge G nicht vernommen zu werden. Zugunsten der Beklagten hat das LSG unterstellt, daß die Erklärung ("... ich und meine Familie haben beschlossen, weiterhin zusammen in Deutschland zu bleiben...") nicht nur, wie die Beklagte zunächst unter Beweis gestellt hatte, vom Kläger stammte, sondern darüber hinaus auch, daß sie "der vollen Wahrheit entsprach", mithin also zur Zeit der Abgabe der Erklärung mit der Absicht des Klägers übereinstimmte. Ob das LSG aus diesem als richtig unterstellten Sachverhalt im Rahmen seiner Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 Satz 1 RVO) bei der Feststellung der für die Begründung oder Rückverlegung des Mittelpunkts der Lebensverhältnisse des Klägers erheblichen Tatsachen die gesetzlichen Grenzen eingehalten hat, ist im Beschwerdeverfahren nicht zu prüfen (s § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Ebenso kommt es, wie dargelegt, nicht darauf an, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat.
Die Beschwerde war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen