Verfahrensgang
SG Darmstadt (Entscheidung vom 17.04.2018; Aktenzeichen S 24 AS 953/16) |
Hessisches LSG (Beschluss vom 20.10.2021; Aktenzeichen L 6 AS 372/18) |
Tenor
Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 2021 werden als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten der Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil ein Zulassungsgrund (§ 160 Abs 2 SGG) nicht in der erforderlichen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Sie sind daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert wird. Weiter muss ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufgezeigt werden (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
Diese Voraussetzungen liegen hier schon deswegen nicht vor, weil die Kläger keine konkreten Rechtsfragen formuliert haben. Als ungeklärt sehen sie die Sozialgeldansprüche eines Kindes an, das sich nach Trennung seiner Eltern regelmäßig in zwei elterlichen Haushalten aufhält. Dabei gehen sie indes nicht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung ein, wonach in einem solchen Fall (sog temporäre Bedarfsgemeinschaften) dem Kind zwei Ansprüche auf Leistungen für Regelbedarfe zustehen, die unterschiedlich hoch sein können und sich in zeitlicher Hinsicht ausschließen (BSG vom 12.6.2013 - B 14 AS 50/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 35). Dies wäre indes erforderlich gewesen, um darzulegen, inwieweit hier weiterer Klärungsbedarf besteht.
Soweit darüber hinaus die Frage angedeutet wird, ob die Jahresfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auch die rückwirkende Leistungserbringung aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs begrenzt, werden die Darlegungsanforderungen ebenfalls nicht erfüllt. Im Hinblick auf die Klärungsbedürftigkeit fehlt es an einer Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum zum Sinn und Zweck der Ausschlussregelung. Darüber hinaus ist die Entscheidungserheblichkeit nicht erkennbar, weil nicht deutlich wird, inwieweit die begehrte nachträgliche Leistungsgewährung für abgeschlossene Zeiträume in der Vergangenheit nicht ohnehin eine rückwirkende Aufhebung der bestandskräftigen Bewilligungsbescheide gemäß § 44 SGB X iVm § 40 Abs 1 SGB II erfordern sollte.
Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist im Übrigen nicht, ob das Berufungsgericht im konkreten Einzelfall richtig entschieden hat (vgl nur BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70).
2. Eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann hinreichend dargelegt, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abweicht. Auch dem wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht, denn es werden schon keine abstrakten Rechtssätze nachvollziehbar bezeichnet und gegenübergestellt. Soweit sich die Kläger auf die höchstrichterliche Rechtsprechung berufen, wonach die Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gelte, wird nicht dargetan, dass es sich um Entscheidungen in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehandelt hätte. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt aber die Identität der entschiedenen Rechtsfragen voraus (BSG vom 1.10.2019 - B 13 R 360/17 B RdNr 8; BSG vom 5.6.2020 - B 9 V 4/20 B RdNr 10). Daran fehlt es, wenn der Unterschied auf Besonderheiten der betroffenen Rechtsgebiete - wie die Regelung des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II - zurückgeht (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 13a).
3. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision schließlich dann zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36).
Die Kläger bezeichnen indes auch einen Verfahrensfehler nicht hinreichend.
a) Sie rügen, dass das LSG ihrem Antrag auf Beiladung des zuständigen Sozialhilfeträgers nicht entsprochen habe. Eine solche Pflicht besteht, wenn sich in einem Verfahren ergibt, dass bei der Ablehnung des Anspruchs ein anderer Leistungsträger als leistungspflichtig in Betracht kommt (§ 75 Abs 2 SGG). Dass im vorliegenden Fall die ernsthafte Möglichkeit (zu diesem Maßstab etwa BSG vom 5.7.2016 - B 1 KR 18/16 B RdNr 5) bestand, dass den Klägern für die Kosten der Ausübung des Umgangsrechts sozialhilferechtliche Ansprüche zustanden, zeigt die Beschwerdebegründung indes nicht auf. Sie verweist insoweit pauschal auf § 73 SGB XII und §§ 67 ff SGB XII, ohne sich mit den tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Regelungen und ihrem Verhältnis zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu beschäftigen.
b) Was den daneben behaupteten Verstoß gegen § 103 SGG angeht, schildern die Kläger weder, wann sie einen entsprechenden Beweisantrag gestellt haben, noch dass sie diesen nach der Anhörungsmitteilung des LSG, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden zu wollen, aufrechterhalten haben. Dies wäre aber für eine formgerechte Verfahrensrüge erforderlich (stRspr; zuletzt BSG vom 12.1.2022 - B 9 SB 72/21 B RdNr 6).
c) Weiterhin rügen die Kläger, dass das LSG ohne ihr Einverständnis und trotz noch bestehender Amtsermittlungspflichten durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG entschieden habe. Die Entscheidung über diese Vorgehensweise steht indes im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf dessen fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen, überprüft werden (stRspr; etwa BSG vom 19.9.2019 - B 12 KR 21/19 R - BSGE 129, 106 = SozR 4-2400 § 7 Nr 45, RdNr 11; BSG vom 2.3.2020 - B 11 AL 56/19 B - RdNr 3 mwN). Ein solcher Sachverhalt lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Die Zustimmung der Beteiligten zum Beschlussverfahren nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ist nicht erforderlich (BSG vom 19.9.2019 - B 12 KR 21/19 R - BSGE 129, 106 = SozR 4-2400 § 7 Nr 45, RdNr 11). Dass den Klägern vor der Entscheidung nicht antragsgemäß Einsicht in alle beigezogenen Verwaltungsvorgänge gewährt worden ist, wird nicht substantiiert vorgetragen. Denn die Kläger behaupten selbst nicht, dem Gericht hätten (neben der ihnen zur Verfügung gestellten Papierakte) auch elektronische Verwaltungsakten vorgelegen. Auch dass das LSG zuvor einen Erörterungstermin von vierzigminütiger Dauer durchgeführt hat, steht einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG nicht entgegen, weil das Beschlussverfahren nach dem insofern voraussetzungslosen Wortlaut des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG nicht auf einfach gelagerte Sachverhalte und Rechtsfragen begrenzt ist (BSG vom 23.12.1996 - 5 BJ 196/96 - juris RdNr 4; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 15). Hinzu kommt, dass es für die Frage, ob ein Berufungsverfahren geeignet ist, durch Beschluss entschieden zu werden, in erster Linie auf die Einschätzung des Berufungsgerichts ankommt. Da das BSG dessen Entscheidung nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen hin überprüft, darf es jenseits solcher Konstellationen seine Einschätzung nicht an die Stelle derjenigen des LSG setzen. Schließlich dürfen die Anforderungen an die Darlegung spezieller Verfahrensmängel nicht dadurch umgangen werden, dass ein Ermessensfehler angenommen wird, weil das LSG vor seiner Entscheidung im schriftlichen Verfahren etwa einem Beiladungs- oder Beweisantrag nicht nachgegangen ist.
d) Soweit die Kläger die Mitwirkung einer an das LSG abgeordneten Richterin am SG an der angefochtenen Entscheidung als Verstoß gegen ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter ansehen, lässt die Beschwerdebegründung ebenfalls keinen Verfahrensmangel erkennen. Denn sie lässt außer Acht, dass von dem aus Art 92 und 97 GG abgeleiteten Grundsatz, wonach die Gerichte zur Sicherung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern zu besetzen sind, Ausnahmen bestehen. Das ist etwa der Fall, wenn planmäßige Richter unterer Gerichte an obere Gerichte abgeordnet werden, um ihre Eignung zu erproben (dazu zuletzt BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 33/18 B RdNr 6). Dass es im vorliegenden Fall an einem solchen Rechtfertigungsgrund gefehlt haben soll, behaupten die Kläger nicht.
e) Ferner genügt die Nichtzulassungsbeschwerde den Darlegungserfordernissen auch nicht, soweit die Kläger ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 Halbsatz 1 SGG) und ihren Anspruch auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) als verletzt ansehen. Dem liegt die Ansicht zugrunde, das LSG sei verpflichtet gewesen, vor seiner Entscheidung darauf hinzuweisen, wie es die vom Kläger bei dem Beklagten gestellten Anträge verstehe. Der klägerischen Sachverhaltsdarstellung ist jedoch zu entnehmen, dass schon das SG sein Urteil maßgebend darauf gestützt hat, die streitgegenständlichen Leistungen für die Jahre 2012 und 2013 seien erstmals am 9.3.2015 beantragt worden. Vor diesem Hintergrund hätte ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs damit rechnen müssen, dass die Antragstellung möglicherweise auch für das Berufungsgericht von entscheidender Bedeutung sein könnte (siehe zu diesem Aspekt nur BSG vom 17.5.2021 - B 12 KR 2/21 B -, juris RdNr 7 mwN).
f) Schließlich bezeichnen die Kläger keinen Verfahrensmangel, indem sie kritisieren, dass das LSG das Berufungsverfahren nicht ausgesetzt hat, um den Ausgang des seinerzeit unter dem Aktenzeichen B 14 AS 73/20 R anhängigen Revisionsverfahrens abzuwarten, das ebenfalls den Sozialgeldanspruch eines Kindes bei Aufenthalt in temporärer Bedarfsgemeinschaft mit dem getrennt lebenden umgangsberechtigten Elternteil zum Gegenstand hatte. Denn die Beschwerdebegründung legt nicht dar, dass die dafür maßgebenden Voraussetzungen des § 114 SGG erfüllt waren.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Söhngen Burkiczak B. Schmidt
Fundstellen
Dokument-Index HI15414134 |