Leitsatz (amtlich)
Zur Verwertbarkeit von Gutachten, die ein Versicherungsträger während der Rechtshängigkeit einer Streitsache einholt und dem Prozeßgericht zu Beweiszwecken unterbreitet.
Leitsatz (redaktionell)
1. Zu Beweiserhebungen sind nur die Gerichte befugt. Jedoch ist es den Beteiligten unbenommen, ein vom Gericht eingeholtes Gutachten nicht nur mit eigenen Ausführungen, sondern auch mit sogenannten Privatgutachten anzugreifen.
2. Macht ein Versicherungsträger von dieser Möglichkeit Gebrauch, so ist dadurch der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt; denn dem Versicherten steht derselbe Weg offen.
3. Die Gerichte sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, solche ihnen im Rahmen des Vorbringens der Beteiligten vorgelegte Gutachten zu würdigen; denn sie haben sich ihre richterliche Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden. Allerdings dürfen sie bei der Bewertung solcher Gutachten nicht außer acht lassen, daß es keine Beweismittel im Sinne des Beweises durch Sachverständige (ZPO §§ 402 folgende) sind.
Normenkette
SGG § 118 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. März 1957 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger erlitt am 5. Dezember 1951 einen Arbeitsunfall. Bei einem Sturz aus etwa 4m Höhe zog er sich einen Beckenbruch und einen Bruch des dritten Lendenwirbelkörpers zu. Aus Anlaß dieses Unfalls ist die Beklagte vom Sozialgericht (SG.) Mannheim am 28. September 1955 verurteilt worden, dem Kläger für die Zeit vom 6. Juni 1952 an eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von zunächst 60 v. H., später 50 v. H. und vom 1. Dezember 1953 an eine Dauerrente nach einer MdE. von 40 v. H. zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufung des Klägers, mit der er eine Dauerrente nach einer MdE. von 50 v. H. erstrebte, als unbegründet zurückgewiesen.
Gegen das ihm am 21. April 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Mai 1957 Revision eingelegt und diese am 17. Mai 1957 begründet. Er beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das LSG. zur anderweitigen Entscheidung zurückzuverweisen,
hilfsweise,
festzustellen, daß dem Kläger vom 1. Dezember 1953 an eine Dauerrente nach einer MdE. von 50 v. H. zustehe.
Mit der auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützten Revision rügt der Kläger, das LSG. habe gegen § 103 SGG sowie gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes (GG) verstoßen. Hierzu führt er aus: Die Beklagte habe ihre Machtposition als Versicherungsträger dadurch mißbraucht, daß sie ihn unter der Vorgabe, er müsse sich einer terminmäßigen Nachuntersuchung unterziehen, zu einer Begutachtung durch die Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg genötigt habe. In Wirklichkeit habe sie mit Hilfe dieses Gutachtens der Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. N der Kläger sei durch den Unfall um 50 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt, in dem schwebenden Verfahren entgegentreten wollen. Das von der Beklagten somit auf unzulässige Weise beschaffte Beweismittel hätten die Vorinstanzen nicht verwerten dürfen. Ein Verstoß gegen die Verpflichtung des LSG. zur Sachaufklärung liege auch darin, daß es, anstatt jegliche Zweifel in tatsächlicher Hinsicht zu beheben, den Kläger auf § 109 SGG verwiesen habe.
Die vom LSG. nicht zugelassene Revision wäre nur statthaft, wenn einer der gerügten Verfahrensmängel vorläge (BSG. 1 S. 150). Dies trifft jedoch nicht zu.
Als wesentlicher Mangel des Verfahrens kommt grundsätzlich nur ein verfahrensmäßig unrichtiges Verhalten desjenigen Gerichts in Frage, dessen Urteil angefochten wird, hier also des LSG. (vgl. BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 8 Nr. 40). Vor diesem Gericht ging der Streit der Beteiligten lediglich um die Höhe der für die Zeit nach dem 1. Dezember 1953 festzustellenden Dauerrente. Nach § 103 SGG hatte der Vorderrichter namentlich das Ausmaß der Unfallfolgen zu klären. Dabei bedurfte er hinsichtlich des medizinischen Ausmaßes der Unterstützung durch Sachverständige, während die Feststellung des Vomhundertsatzes der MdE. Aufgabe des Gerichts war. Zur Beurteilung der Unfallfolgen stand dem LSG. das vom SG. eingeholte Gutachten des Dr. N. vom 9./10. August 1954 zur Verfügung. Außerdem hatte die Beklagte mit ihren Verwaltungsvorgängen Gutachten des Dr. J der Orthopädischen Anstalt Heidelberg-Schlierbach (Prof. Dr. W. und Dr. M.), des Dr. M. (Vertreter Dr. M.), des Dr. S. ... sowie der neurologischen und chirurgischen Abteilung der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg (Priv. Doz. Dr. K. und Dr. X., Priv. Doz. Dr. W und Dr. S.) vorgelegt. Der Auffassung der Revision, das LSG. hätte die Gutachten der Universitätsklinik Heidelberg bei seiner Urteilsfindung nicht berücksichtigen dürfen, vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. Sie findet auch in den von der Revision angeführten Entscheidungen des Bayerischen Landesversicherungsamts (Breithaupt 1952 S. 208 (210) und Amtsbl. des Bayer. AM. 1953 S. B 77) keine Stütze. In ihnen wird ausgeführt: Im Spruchverfahren sei die Erhebung von Beweisen ausschließlich Sache des Gerichts. Dies schließe jedoch nicht aus, daß die Beteiligten an der Klarstellung des Sachverhalts selbständig mitwirken und weitere Beweismittel beibringen könnten; solche Beweismittel seien im Spruchverfahren bei der Beweiswürdigung selbstverständlich zu berücksichtigen. Diese Ausführungen stehen im Einklang mit der Rechtsprechung und Verlautbarungen des Reichsversicherungsamts (RVA.). Das RVA. hat zwar die Zurückhaltung der Berufungsschrift zum Zwecke neuer Ermittlungen und Beweiserhebungen mißbilligt (RVA. in EuM. 26 S. 506 und AN. 1938 IV S. 166), aber keine verfahrensrechtlichen Bedenken dagegen erhoben, daß ein Versicherungsträger nach Einlegung des Rekurses weitere Gutachten, jedenfalls Aktengutachten, einholte (EuM. 36 S. 469). Das SGG hat in dieser Hinsicht keine Änderung gebracht. Zu Beweiserhebungen sind nur die Gerichte befugt. Jedoch ist es den Beteiligten unbenommen, ein vom Gericht eingeholtes Gutachten nicht nur mit eigenen Ausführungen, sondern auch mit sogenannten Privatgutachten anzugreifen. Macht ein Versicherungsträger von dieser Möglichkeit Gebrauch, so ist dadurch der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt; denn dem Versicherten steht derselbe Weg offen. Die Gerichte sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, solche ihnen im Rahmen des Vorbringens der Beteiligten vorgelegte Gutachten zu würdigen; denn sie haben sich ihre richterliche Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden (§ 128 Abs. 1 SGG). Allerdings dürfen sie bei der Bewertung solcher Gutachten nicht außer acht lassen, daß es keine Beweismittel im Sinne des Beweises durch Sachverständige (§ 402 ff. ZPO) sind. (Vgl. hierzu auch Asanger in ZfS. 1950 S. 259 und Podzun in WzS. 1955 S. 14).
Für die Entscheidung über die Revision bedurfte es nicht der Klärung, ob die Nachuntersuchung durch die Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg - wie die Beklagte behauptet - eine turnusmäßige war und deshalb im Rahmen ihrer Verwaltungsaufgaben lag oder ob sie - wie die Revision vorbringt - lediglich den Zweck hatte, Material zur Bekämpfung des Gutachtens des Dr. N zu beschaffen. Trifft letzteres zu, so war der Kläger allerdings nicht verpflichtet, sich der Untersuchung zu unterziehen, und die Beklagte wäre gehalten gewesen, den Kläger anläßlich der Aufforderung, sich zur Untersuchung zu stellen, auf diese Sachlage hinzuweisen. Nachdem jedoch die Beklagte auf Grund der in der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg vorgenommenen Nachuntersuchung das Gutachten des Dr. N. angegriffen hatte, mußte sich das LSG. mit diesen Angriffen und damit auch mit dem Privatgutachten der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg auseinandersetzen. Ein Mangel des gerichtlichen Verfahrens kann somit allein in der Berücksichtigung des Gutachtens nicht erblickt werden. Wohl könnte das LSG. die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) überschritten haben, wenn es bei der Abwägung der Gutachten verkannt hätte, daß das von der Beklagten überreichte Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg keine Begutachtung im Sinne der §§ 402 ff. ZPO ist. Dies wird jedoch von der Revision nicht behauptet ist und auch nicht aus den Akten ersichtlich.
Das LSG. war nicht gehalten, dem Gutachten des Dr. N. allein deswegen zu folgen, weil dieses Gutachten vom Gericht eingeholt worden war, vielmehr konnte es sich im Rahmen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung ebensowohl einem der von der Beklagten im Feststellungsverfahren beigezogenen Gutachten oder auch den Ausführungen der vier Gutachter der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg anschließen. Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG. aber auch das Gutachten des Dr. N. nicht etwa "verworfen", vielmehr ist es ihm hinsichtlich der Feststellung der medizinischen Unfallfolgen weitgehend gefolgt. Allerdings hat es im Gegensatz zu Dr. N. und in Übereinstimmung mit den Ausführungen der Neurologen Dr. K. und Dr. R. nicht als wahrscheinlich angesehen, daß neurologische Unfallfolgen vorhanden seien. Diese Abweichung, die vom Gericht eingehend begründet worden ist, hatte zur Folge, daß der Vomhundertsatz der MdE. nicht, wie Dr. N vorgeschlagen hatte, mit 50, sondern - in Übereinstimmung mit den übrigen Gutachtern - mit 40 festgestellt wurde. Zu dieser Feststellung ist das LSG. somit ohne Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften des SGG gelangt.
Inwiefern das durch Art. 2 GG garantierte Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit zum Nachteil des Klägers vom LSG. verletzt sein soll, hat die Revision nicht substantiiert behauptet und ist auch nicht ersichtlich.
Schließlich läßt sich die Statthaftigkeit der Revision nicht daraus herleiten, daß das LSG. dem Antrag des Klägers vom 28. Oktober 1955, ein weiteres Gutachten von einem Facharzt anzufordern, nicht stattgegeben und dem Kläger anheimgestellt hat, von dem Recht des § 109 SGG Gebrauch zu machen. Die Rüge der Revision, die sich im wesentlichen auf den Hinweis beschränkt, daß ein Widerspruch zwischen dem Gutachten des Dr. N. und demjenigen der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg vorliege, entspricht nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG. Es hätte substantiiert dargelegt werden müssen, in welchem Punkt der Sachverhalt einer weiteren Aufklärung bedürfe (vgl. BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 16 Nr. 64). Im übrigen läßt sich eine Verletzung der Aufklärungspflicht auch nicht den Akten entnehmen. Der Unterschied zwischen den beiden angeführten Gutachten liegt nicht auf dem Gebiet des Tatsächlichen, sondern auf dem der medizinischen Beurteilung. Es war Aufgabe des Gerichts, sich unter Würdigung des gesamten Beweisergebnisses für die eine oder andere Auffassung zu entscheiden. Dies hat das LSG. ohne Verletzung des § 103 SGG oder sonstiger Verfahrensvorschriften getan.
Die Revision ist somit nicht statthaft und mußte nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden. Es bedurfte deshalb nicht der Entscheidung, ob - was die Beklagte in Zweifel gezogen hat - der Prozeßbevollmächtigte des Klägers zur Einlegung und Begründung des Rechtsmittels befugt war (§ 166 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen