Leitsatz (amtlich)
Der Revisionskläger handelt nicht "ohne Verschulden" im Sinne des SGG § 67 Abs 1, wenn er es unterläßt, bei Vornahme von Prozeßhandlungen vorsorglich auch eine von ihm nicht geteilte, aber nach der Fassung des Gesetzes naheliegende Auslegung von Verfahrensvorschriften in Betracht zu ziehen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann daher nicht gewährt werden, wenn der Revisionskläger- auch vor Veröffentlichung einer Entscheidung des BSG über die Auslegung des SGG § 164 Abs 2 S 1 - es im Hinblick auf seine rechtsirrtümliche Gesetzesauslegung unterlassen hat, einen "bestimmten Antrag" innerhalb der Revisionsfrist zu stellen.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 16. Juli 1954 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte hat gegen das ihr am 3. September 1954 zugestellte Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 16. Juli 1954, durch das auf die Berufung des Klägers die Entscheidung des Oberversicherungsamts in Würzburg vom 20. August 1953 und der Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 1951 aufgehoben und die Beklagte für verpflichtet erklärt wurde, dem Kläger Invalidenrente vom 1. August 1949 ab zu gewähren, mit einem beim Bundessozialgericht am 10. September 1954 eingegangenen Schreiben vom 7. September 1954 Revision eingelegt.
Die Revisionsschrift enthält trotz eines entsprechenden Hinweises in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils keinen Antrag, sondern nur die Erklärung, daß Revision eingelegt und die Begründung mit den Rentenakten nachgereicht werde.
Die Revisionsfrist war am 4. Oktober 1954 - (der 3. Oktober 1954 war ein Sonntag) - abgelaufen. Die Revisionsbegründung vom 30. Oktober 1954, mit der ein bestimmter Antrag gestellt wurde, ist am 1. November 1954, also erst nach Ablauf der Revisionsfrist. beim Bundessozialgericht eingegangen.
Nach § 164 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) muß die Revision das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten. Der Senat hat sich bereits in seinem Urteil vom 23. September 1955 - 3 RJ 26/55 - der Rechtsauffassung des 4., 7. und 9. Senats des Bundessozialgerichts ( BSGer .) angeschlossen, wonach unter "Revision" im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 1 a. a. O. nicht das gesamte Rechtsmittel einschließlich der Revisionsbegründung, sondern die Revisionsschrift zu verstehen ist und mithin bereits die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß (vgl. die Urteile des BSGer . vom 24.5.1955 - 9 RV 308/54 - und vom 8.6.1955 - 7 RAr 26/54 - sowie den Beschluß vom 27.6.1955 - 4 RJ 33/54 -). Ein Schriftsatz, der nur die Erklärung enthält, daß die Revision gegen ein bestimmt bezeichnetes Urteil eingelegt werde, entspricht somit nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die von dem 10. Senat des BSGer . in dem Urteil vom 7. Juli 1955 - 10 RV 160/54 - vertretene Auffassung, daß die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag jedenfalls dann enthalte, wenn in ihr ausdrücklich erklärt ist, das Vorderurteil wurde in "vollem Umfang" angefochten, vermag im vorliegenden Falle eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu begründen, da die Revisionsschrift eine solche oder eine ähnliche Erklärung über den Umfang des Revisionsbegehrens nicht enthält.
Die Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 1954 - NJW 1955 S. 235 - ist auf das Verfahren vor dem BSGer . nicht anzuwenden, wie in den angeführten Entscheidungen des BSGer . näher dargelegt ist. Maßgebend für die abweichende Stellungnahme des BSGer . ist insbesondere die Erwägung, daß die Prozeßvertretung vor dem BSGer . vom Gesetzgeber anders als vor dem Bundesverwaltungsgericht geregelt ist. Es erscheint daher nicht widerspruchsvoll, an die Einlegung der Revision, die vor dem BSGer . - soweit es sich nicht um Behörden oder um Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts handelt - durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten erfolgen muß, strengere Anforderungen zu stellen, als es in dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht, vor dem kein Vertretungszwang besteht, rechtens ist.
Dem hilfsweise gestellten Antrag, gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, hätte nach § 67 Abs. 1 SGG nur entsprochen werden können, wenn die Beklagte ohne Verschulden verhindert gewesen wäre, den "bestimmten Antrag" innerhalb der Revisionsfrist zu stellen. Im vorliegenden Fall war jedoch das Verhalten der Beklagten nicht frei von Verschulden. Wenn auch der ausdrückliche Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, daß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten müsse, möglicherweise nicht jeden Zweifel darüber ausschloß, innerhalb welcher Frist der "bestimmte Antrag" zu stellen ist, so konnte jedenfalls ein in dieser Frage bestehender Zweifel die Beklagte nicht davon entbinden, den bestimmten Antrag vorsorglich innerhalb der Revisionsfrist zu stellen. Es gehört zu den Sorgfaltspflichten einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, für die vor dem BSGer . im Hinblick auf ihre fachlich vorgebildeten Beamten oder Angestellten kein Vertretungszwang besteht (§ 166 Abs. 1 SGG), bei ihrer Prozeßführung vor dem BSGer . auch eine von ihrer Rechtsauffassung abweichende Auslegung gesetzlicher Formvorschriften in Betracht zu ziehen, sofern diese Auslegung nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes als rechtlich möglich erscheint. Sie muß daher, wenn bei ihr Zweifel über die Auslegung einer Verfahrensvorschrift bestehen, vorsorglich im Sinne einer ihr ungünstigen Auslegung handeln. Unterläßt sie eine solche vorsorgliche Art der Prozeßführung, so handelt sie grundsätzlich auf eigene Gefahr und es kann dann im allgemeinen nicht angenommen werden, daß sie "ohne Verschulden" i. S. des § 67 Abs. 1 SGG verhindert war, der Formvorschrift zu genügen. Deshalb konnte der Beklagten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist nicht erteilt werden.
Da die Revision demnach nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG entspricht, mußte sie nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen