Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtliches Gehör. Verletzung. Überraschungsentscheidung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen braucht

2. Insbesondere anwaltlich vertretene Prozessbeteiligte müssen grundsätzlich von sich aus alle vertretbaren Gesichtspunkte in Betracht ziehen und sich in ihrem Vortrag darauf einstellen.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.09.2002; Aktenzeichen L 13 AL 1098/01)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. September 2002 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde, mit der der Kläger als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) rügt, das Landessozialgericht (LSG) habe den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, ist unzulässig. Denn ihre Begründung genügt nicht den in § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genannten Anforderungen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58).

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Beschwerde vor, es sei zwischen den Parteien unstreitig gewesen, dass zwischen ihm und seinem Partner eine Lebensgemeinschaft seit Juni 1998 bestanden habe. Streitig sei geblieben, ob die Lebensgemeinschaft zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern ein wichtiger Grund iS des Sperrzeittatbestandes für die Aufgabe der Wohnung in H. … verbunden mit der Kündigung des dort bestehenden Arbeitsverhältnisses sein könne. Das LSG sei zu dem nach dem Verlauf des Verfahrens überraschenden Schluss gekommen, dass es bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses überhaupt keine eheähnliche Lebensgemeinschaft gegeben habe. Dazu wäre vorgetragen worden, dass im vorliegenden Fall durchaus ein gegenseitiges Einstehen vorgelegen habe. Dies könne ua dadurch unter Beweis gestellt werden, dass in der Zeit, in der der Kläger keine Leistung vom Arbeitsamt erhalten habe, der Lebensunterhalt vom Partner getragen worden sei.

Mit diesem Vorbringen wird ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, nicht bezeichnet. Wird als Verfahrensmangel die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt, so muss ua vorgetragen werden, welchen erheblichen Vortrag das Gericht entweder nicht zur Kenntnis genommen hat oder welches Vorbringen durch das Gericht verhindert worden ist, und inwiefern das angefochtene Urteil darauf beruht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Aus dem Vorbringen in der Beschwerdebegründung ergibt sich schon nicht, dass das Urteil für den Kläger eine Überraschungsentscheidung gewesen ist. Eine solche liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen braucht (BVerfGE 86, 133; BSG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – B 7 AL 166/01 B –). Insbesondere anwaltlich vertretene Prozessbeteiligte müssen grundsätzlich von sich aus alle vertretbaren Gesichtspunkte in Betracht ziehen und sich in ihrem Vortrag darauf einstellen (BVerfG, aaO, S 144 f).

Nach diesen Maßstäben erging die Entscheidung des LSG zu der Frage, ob der Zuzug zu einem gleichgeschlechtlichen Partner einen wichtigen Grund iS des Sperrzeittatbestandes darstellt, entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht überraschend. Vielmehr erscheint die Beantwortung dieser Frage durch das LSG vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Senats, die einen wichtigen Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses wegen des erstmaligen Zuzugs zum nichtehelichen Partner verneint hat (BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 16), ausgesprochen naheliegend. Weitere Hinweise für die Entscheidungserheblichkeit der Frage ergeben sich aus der Rechtsprechung des 7. Senats des BSG, wonach zur Feststellung des Umstands, ob eine eheähnliche Lebensgemeinschaft vorliegt, die einen wichtigen Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses darstellt, ua auf deren Dauer und Kontinuität, eine gemeinsame Wohnung, eine bestehende Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft und die gemeinsame Versorgung von Angehörigen abzustellen ist (BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 15; vgl auch Urteil vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 72/00 R –). Angesichts dieser Rechtsprechung musste sich aufdrängen, dass die Frage, ob die Partner zuvor bereits eine Wohngemeinschaft begründet hatten, für das Vorliegen eines wichtigen Grundes von ausschlaggebender Bedeutung sein kann. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob in der Beschwerdebegründung hinreichend dargestellt wird, welches entscheidungserhebliches Vorbringen des Klägers durch das behauptete Vorgehen des LSG verhindert worden ist.

Die unzulässige Beschwerde ist somit zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176618

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge