Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. keine Pflicht der zugelassenen kommunalen Träger zur Anwendung und Beachtung der fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit. keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes
Orientierungssatz
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG erfasst nur Ungleichbehandlungen, die aus Handlungen ein- und desselben Hoheitsträgers resultieren. Die unterschiedliche Auslegung und Anwendung derselben Rechtsvorschriften durch verschiedene Behörden verletzen noch kein Verfassungsrecht. Ein kommunaler Träger nach § 6a SGB 2 (Optionskommune) ist daher nicht aufgrund Art 3 Abs 1 GG verpflichtet, sein Handeln an der Verwaltungspraxis anderer Behörden, hier der Bundesagentur für Arbeit (BA), auszurichten. Die fachlichen Weisungen der BA sind auch keine allgemeinen Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art 84 Abs 2 GG oder des § 48 Abs 2 S 2 SGB 2. Auch § 6b Abs 4 SGB 2 dient nicht der Gewährleistung eines grundsätzlich einheitlichen Gesetzesvollzugs.
Normenkette
SGB 2 §§ 6a, 6b Abs. 4; SGB III § 48 Abs. 2 S. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 84 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. April 2019 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Beschwerdeverfahren.
Gründe
I. Der Rechtsstreit betrifft die Aufforderung zur Rentenantragstellung durch einen Leistungsträger nach dem SGB II.
Die Klägerin ist am 18.5.1954 geboren. Eine Regelaltersrente kann sie seit dem 1.2.2020 in Anspruch nehmen, eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen wäre seit dem 1.2.2018 möglich gewesen, mit Abschlägen bereits seit dem 1.2.2015. Der Beklagte, der zugelassener kommunaler Träger iS von § 6a SGB II (sog Optionskommune) ist, forderte sie zur Beantragung einer Altersrente auf (Bescheid vom 27.6.2017, Widerspruchsbescheid vom 31.7.2017). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22.5.2018).
Das LSG hat die streitgegenständlichen Bescheide aufgehoben, weil sie ermessensfehlerhaft seien (Urteil vom 11.4.2019). Gemäß § 6 Satz 1 UnbilligkeitsV sei die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung werden würden. Dies sei nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsV insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 % der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a SGB II) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger sei als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem SGB II. Der grundsicherungsrechtliche Bedarf der Klägerin (495,57 Euro) liege bei genau 70 % der zu erwartenden ungeminderten Altersrente (707,96 Euro). Bei der Bedarfsberechnung sei entsprechend den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit wegen schwankenden Bedarfs für Unterkunft und Heizung ein "Sicherheitszuschlag" in Höhe von 10 % des Regelbedarfs zu berücksichtigen. Wegen Art 3 Abs 1 GG hätten auch Optionskommunen die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit ihrer Ermessensausübung zugrunde zu legen. Ungeachtet dessen habe der Beklagte sein Ermessen auch mit Blick auf § 3 UnbilligkeitsV unrichtig ausgeübt. Der Beklagte gehe davon aus, dass der Ausnahmetatbestand des § 3 UnbilligkeitsV, wonach die Inanspruchnahme der Altersrente unbillig sei, wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente in Anspruch nehmen könnten, nur dann vorliege, wenn die Altersrente innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten abschlagsfrei bezogen werden könne. Aus dem Urteil des BSG vom 9.8.2018 (B 14 AS 1/18 R - SozR 4-4200 § 12a Nr 2) ergebe sich aber, dass die Zeitspanne gerade nicht starr auf drei Monate begrenzt sei. Der Beklagte habe bei Ausübung seines Ermessens seine "Spielräume" also nicht richtig eingeschätzt. Die Zeitspanne im Fall der Klägerin (sieben Monate) falle noch unter den Begriff "in nächster Zukunft", der einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse. Würde man die Grenze bei sechs Monaten ziehen, läge aber jedenfalls ein Härtefall vor.
Mit der Beschwerde macht der Beklagte zum einen als grundsätzliche Rechtsfrage geltend, ob "zugelassene kommunale Träger nach § 6a SGB II (sog Optionskommunen) ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausüben, wenn sie im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nicht mit ausführen, welchen (abweichenden) Inhalt die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit haben und warum sie von diesen abweichen, sowie ob Bürger/Kunden durch diese Nichtanwendung eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung erfahren". Der Beklagte macht zum anderen eine Divergenz geltend. Er entnimmt der Entscheidung des LSG den Rechtssatz, dass der auslegungsbedürftige Rechtsbegriff "in nächster Zukunft" in Anbetracht des Regelbewilligungszeitraumes gemäß § 41 Abs 3 SGB II von einem Jahr einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse. Damit weiche das LSG vom Urteil des BSG vom 9.8.2018 (B 14 AS 1/18 R - SozR 4-4200 § 12a Nr 2) ab. Diesem Urteil entnimmt der Beklagte den Rechtssatz, dass der Begriff "in nächster Zukunft" in § 3 UnbilligkeitsV vier Monate umfasse. Sofern der Begriff nicht bereits durch dieses Urteil definiert sei, liege jedenfalls eine weitere Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor.
II. Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Zwar wirft das Verfahren die zwei von dem Beklagten formulierten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne einer Klärungsbedürftigkeit auf. Deren Beantwortung ist aber nicht entscheidungserheblich und daher nicht klärungsfähig.
Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Rechtsfrage muss (abstrakt) klärungsbedürftig und (konkret) klärungsfähig im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sein sowie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) haben (vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
Die Frage, "ob zugelassene kommunale Träger nach § 6a SGB II (sog Optionskommunen) ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausüben, wenn sie im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nicht mit ausführen, welchen (abweichenden) Inhalt die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit haben und warum sie von diesen abweichen, sowie ob Bürger/Kunden durch diese Nichtanwendung eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung erfahren", ist von grundsätzlicher Bedeutung. Zweifel an der Auffassung des LSG, dass wegen Art 3 Abs 1 GG auch Optionskommunen die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit ihren Ermessensentscheidungen zugrunde zu legen haben, erwachsen insbesondere daraus, dass damit der Gewährleistungsgehalt des Art 3 Abs 1 GG unzutreffend beurteilt worden sein dürfte. Der allgemeine Gleichheitssatz erfasst nur Ungleichbehandlungen, die aus Handlungen ein- und desselben Hoheitsträgers resultieren (Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art 3 RdNr 47 ≪Juni 2016≫ mwN; Kingreen in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Art 3 RdNr 291 ≪Februar 2020≫; Nußberger in Sachs, GG, 8. Aufl 2018, Art 3 RdNr 81; Pietzcker in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd V, 2013, § 125 RdNr 97; Wollenschläger in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd 1, 7. Aufl 2018, Art 3 RdNr 68; vgl BVerfG vom 14.1.2015 - 1 BvR 931/12 - BVerfGE 138, 261, 288, RdNr 61). Die verschiedene Auslegung und Anwendung derselben Rechtsvorschriften durch verschiedene Behörden verletzen noch kein Verfassungsrecht (BVerfG vom 12.1.1967 - 1 BvR 335/63 - BVerfGE 21, 87, 91; BVerfG vom 6.5.1987 - 2 BvL 11/85 - BVerfGE 75, 329, 347; vgl auch Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art 3 RdNr 47 ≪Juni 2016≫). Ein kommunaler Träger nach § 6a SGB II ist daher nicht aufgrund Art 3 Abs 1 GG verpflichtet, sein Handeln an der Verwaltungspraxis anderer Behörden, hier der Bundesagentur für Arbeit, auszurichten (vgl allgemein Pietzcker in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd V, 2013, § 125 RdNr 95). Die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit sind auch keine allgemeinen Verwaltungsvorschriften iS des Art 84 Abs 2 GG oder des § 48 Abs 2 Satz 2 SGB II, die (nur) die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen dürfte. Auch § 6b Abs 4 SGB II dient nicht der Gewährleistung eines grundsätzlich einheitlichen Gesetzesvollzuges (BVerfG vom 7.10.2014 - 2 BvR 1641/11 - BVerfGE 137, 108, 184 = SozR 4-4200 § 6a Nr 1, RdNr 182).
Auch die Frage, wie der Begriff "in nächster Zukunft" in § 3 UnbilligkeitsV zu definieren ist, ist von grundsätzlicher Bedeutung, sofern man die Ausführungen im Urteil des BSG vom 9.8.2018 (B 14 AS 1/18 R - SozR 4-4200 § 12a Nr 2) so versteht, dass eine Obergrenze damit noch nicht markiert ist (so etwa das Verständnis bei Kühl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 12a RdNr 28; Senger, NZS 2019, 73). Wäre dieses Urteil hingegen so zu verstehen, dass der Begriff "in nächster Zukunft" abschließend mit vier Monaten umschrieben werden soll, würde das Urteil des LSG hiervon iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG divergieren, weil das LSG ausdrücklich davon ausgeht, dass in dem Urteil des BSG eine solche Obergrenze nicht beschrieben ist.
Die aufgezeigten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung bzw die (unterstellte) Divergenz sind aber nicht entscheidungserheblich und daher im vorliegenden Fall nicht klärungsfähig. Denn das LSG hat selbständig tragend (auch) darauf abgestellt, dass der Beklagte den Rechtsbegriff "in nächster Zukunft" fehlerhaft ausgelegt und sein Ermessen somit auf Grundlage einer unzutreffenden Rechtsauffassung ausgeübt habe, indem er davon ausgegangen sei, dass der Ausnahmetatbestand des § 3 UnbilligkeitsV nur dann vorliege, wenn die Altersrente innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten abschlagsfrei bezogen werden könne. Der Beklagte ist insoweit von einer Rechtslage ausgegangen, die nicht mit der Auslegung des § 3 UnbilligkeitsV im Urteil des BSG vom 9.8.2018 (B 14 AS 1/18 R - SozR 4-4200 § 12a Nr 2) vereinbar ist. Zwar konnte der Beklagte dieses Urteil zum Zeitpunkt seiner letzten Entscheidung noch nicht kennen. Ein Ermessensfehler setzt bezüglich der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes aber kein Verschulden der Behörde voraus. Da der Beklagte hinsichtlich der Auslegung des § 3 UnbilligkeitsV von einer objektiv unzutreffenden Rechtslage ausgegangen ist, liegt ein Fall des Ermessenfehlgebrauchs vor, der zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide führt. Auf die Frage, ob die Auslegung des § 3 UnbilligkeitsV durch das LSG zutreffend ist, wonach der Begriff "in nächster Zukunft" einen Zeitraum von bis zu acht Monaten umfasse, kommt es damit nicht an. Selbst wenn in einem Revisionsverfahren die Rechtsfragen im Sinne des Beklagten beantwortet würden, würde dies die Entscheidung des LSG im Ergebnis nicht in Frage stellen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13945129 |