Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Anhörungsrüge. Gebot des rechtlichen Gehörs. keine Verpflichtung der Gerichte zur Entscheidung iS des Beteiligten. Verarbeitung. Entscheidungsgründe. wesentliches Vorbringen bzgl Rechtsverfolgung oder -verteidigung. Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs. Senat. Beschränkung der Prüfung. Vortrag eines Vertragsarztes
Orientierungssatz
1. Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl zuletzt BVerfG vom 4.9.2008 - 2 BvR 2162/07 ua = BVerfGK 14, 238 = WM 2008, 2084).
2. Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, jedes Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden; es muss nur das Wesentliche der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (stRspr des BVerfG, siehe zB BVerfG vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 = BVerfGK 13, 303).
3. Die für die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs einer Anhörungsrüge erforderliche Darlegung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss diesen Gehalt des Gebots berücksichtigen.
4. Ein Senat ist nicht verpflichtet, auf die Einzelheiten des Vortrags eines Vertragsarztes zu den einzelnen Punkten einzugehen.
5. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 9.11.2011 - 1 BvR 2615/11).
Normenkette
SGG § 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Sätze 1, 5, § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 6. Juli 2011 wird verworfen.
Der Kläger trägt auch die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens.
Gründe
I. Im Streit stehen Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise in den Sparten Labor O II und Labor O III im Quartal III/1997.
Der Kläger ist als Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Von der zu 1. beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung wurde er einschließlich des streitbefangenen Quartals statistisch in der Fachgruppe der Ärzte für Labormedizin geführt (nachfolgend in der Fachgruppe der Fachärzte für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie).
Der Prüfungsausschuss setzte nach Durchführung einer statistischen Vergleichsprüfung unter Heranziehung der Vergleichsgruppe der Laborärzte gegen den Kläger für das Quartal III/1997 eine Honorarkürzung um 437 749,5 Punkte in der Sparte Labor O II und um 3 510 788,5 Punkte in der Sparte Labor O III fest (Bescheid vom 27.4.1998); den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der beklagte Beschwerdeausschuss mit Widerspruchsbescheid vom 8.9.1998 zurück. Im nachfolgenden Klageverfahren wurde der Beklagte rechtskräftig zur Neubescheidung verurteilt (Urteil des SG vom 29.11.2000). Das SG führte aus, es fehle eine nachvollziehbare Begründung für die Eignung der Vergleichsgruppe. Da der Kläger in 85 % der Fälle Überweisungen von Fachärzten erhalte, müsse geklärt werden, ob es sich dabei um eine wesentliche Abweichung zur Vergleichsgruppe handele und darin eine Praxisbesonderheit des Klägers bestehe. Auch habe der Beklagte zu untersuchen, ob in dem Umstand, dass bestimmte vom Kläger abgerechnete Leistungen nur von wenigen Ärzten bzw von weniger als der Hälfte der Ärzte der Vergleichsgruppe abgerechnet würden, ein Hinweis auf ein spezielles Leistungsspektrum des Klägers aufgrund eines besonderen Patientenguts und/oder einer besonderen Praxisausstattung zu sehen sei.
Mit Bescheid vom 9.10.2001 bestätigte der Beklagte die festgesetzten Honorarkürzungen. Dies begründete er ua damit, allein die Qualifikation des Klägers als Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie führe nicht dazu, dass dieser nur mit Ärzten mit identischer Qualifikation (vorliegend einem weiteren Facharzt) verglichen werden könne, da sein Leistungsspektrum dem der Laborärzte vergleichbar sei. Auf die Klage des Klägers hat das SG den Beklagten erneut zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt (Urteil des SG vom 26.7.2006). Hiergegen haben sowohl der Kläger als auch der Beklagte Berufung eingelegt. Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen sowie auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.11.2010).
Das LSG hat ausgeführt, der Umfang der gerichtlichen Überprüfung sei vorliegend dadurch eingeschränkt, dass das SG über die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise (gemeint ist Behandlungsweise) der klägerischen Praxis im Quartal III/1997 bereits durch Urteil vom 29.11.2000 rechtskräftig entschieden habe. Rechtskräftige Urteile bänden gemäß § 141 Abs 1 SGG die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden sei. Daher sei es den Gerichten verwehrt, im vorliegenden Verfahren Einwände zu prüfen, die der Kläger schon im vorangegangenen Klageverfahren erfolglos geltend gemacht habe bzw hätte geltend machen können. Dies betreffe insbesondere sein Vorbringen, er könne aufgrund seiner Qualifikation nur mit Ärzten gleicher Qualifikation bzw gleichem Leistungsspektrum verglichen werden. Nichts anderes gelte für die Argumentation, er sei an Überweisungsaufträge gebunden, der Honorarkürzung habe eine Beratung vorangehen müssen, eine statistische Prüfung sei von vornherein unzulässig gewesen, es fehle bereits an einem Prüfantrag bzw die Ermessensentscheidung sei fehlerhaft begründet worden. Schließlich könne der Kläger auch mit seiner Auffassung nicht (mehr) gehört werden, ein Bescheidungsurteil könne nicht auf eine bloße Anfechtungsklage hin ergehen. Der angefochtene Bescheid sei nicht aus formellen Gründen rechtswidrig. Der Beklagte habe sich in seinem Bescheid ausreichend mit den Vorgaben des SG im vorangegangenen Verfahren auseinandergesetzt, insbesondere mit den Fragen, ob sich aus der Überweisungsquote des Klägers bzw aus der Abrechnung bestimmter Leistungen Hinweise für das Vorliegen einer Praxisbesonderheit ergäben.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG), Rechtsprechungsabweichungen (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie Verfahrensmängel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend gemacht. Der Senat hat die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision durch Beschluss vom 6.7.2011 - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 26.7.2011 zugestellt - verworfen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 29.7.2011 erhobene Anhörungsrüge.
II. Die Anhörungsrüge des Klägers, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung und dementsprechend ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter entscheiden kann (§ 12 Abs 1 Satz 2 iVm § 124 Abs 3 SGG; s dazu BSG SozR 4-1500 § 178a Nr 5 RdNr 16 f; BSG SozR 4-1500 § 178a Nr 6 RdNr 7 f), hat keinen Erfolg, denn sie ist unzulässig.
Für die Zulässigkeit einer Anhörungsrüge ist erforderlich, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die angegriffene Entscheidung nicht gegeben ist (§ 178a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG), dass die Rüge innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis einer Verletzung des rechtlichen Gehörs erhoben (§ 178a Abs 2 Satz 1 SGG) und dass das Vorbringen einer entscheidungserheblichen Gehörsverletzung dargelegt wird (§ 178a Abs 2 Satz 5 SGG). Die ersten beiden Voraussetzungen sind erfüllt. Anders verhält es sich mit der dritten Voraussetzung, denn der Kläger hat mit seinem Vorbringen die Möglichkeit einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) durch den Beschluss des Senats vom 6.7.2011 nicht hinreichend dargetan.
Art 103 Abs 1 GG verpflichtet ebenso wie § 62 SGG die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Fehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Dieses Gebot verpflichtet die Gerichte allerdings nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 4.9.2008 - 2 BvR 2162/07, 2 BvR 2271/07 - BVerfGK 14, 238 = WM 2008, 2084 f, unter Hinweis auf BVerfGE 64, 1, 12, und BVerfGE 87, 1, 33 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 4). Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, jedes Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden; es muss nur das Wesentliche der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (stRspr des BVerfG, siehe zB BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - BVerfGK 13, 303 = juris RdNr 9 ff mwN; Beschluss vom 31.3.2006 - 1 BvR 2444/04 - BVerfGK 7, 485, 488).
Die für die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs einer Anhörungsrüge erforderliche Darlegung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss diesen Gehalt des Gebots berücksichtigen; es bedarf mithin einer in sich schlüssigen Darstellung, dass trotz der genannten Grenzen des Prozessgrundrechts eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise vorliege. Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.
Die Ausführungen des Klägers beschränken sich im Wesentlichen auf die Rüge, die in der Entscheidung des Senats über den Wortlaut des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG hinaus aufgestellten weiteren Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde fänden im Gesetz keine Stütze. Damit wendet er sich lediglich unter Hinweis auf einen angeblichen Gehörsverstoß gegen die Rechtsanwendung durch den Senat. Im Übrigen entsprechen die - in Auslegung des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG aufgestellten - Anforderungen des Senats an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde der ständigen Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes, und werden auch vom BVerfG nicht in Frage gestellt (vgl zB BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; BVerfG ≪Kammer≫, SozR 4-1500 § 160a Nr 12 RdNr 3 f; BVerfG ≪Kammer≫, SozR 4-1500 § 160a Nr 16 RdNr 5).
Soweit der Kläger darüber hinaus rügt, der Senat sei auch bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung verpflichtet gewesen, auf die Einzelheiten des Vortrags zu den einzelnen Punkten einzugehen, irrt er. Die Prüfung des Senats durfte sich darauf beschränken, den Vortrag des Klägers daraufhin zu überprüfen, ob er den dargestellten Begründungsanforderungen genügte. Da dies durchgängig nicht der Fall war, bedurfte es keiner weiteren Ausführungen zu den einzelnen Punkten des Vorbringens.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO ). Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm erfolglos eingelegten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO). Die Festsetzung eines gesonderten Streitwerts für das Anhörungsverfahren ist entbehrlich, da als Gerichtsgebühr ein fester Betrag anfällt, der nicht nach dem Streitwert bemessen wird (Nr 7400 des Kostenverzeichnisses - Anlage 1 - zum GKG).
Fundstellen