Entscheidungsstichwort (Thema)

Kostenerstattung bei privatärztlicher Behandlung

 

Orientierungssatz

Auf die Anfrage des 1. Senats vom 11.2.1987 1/8 RR 34/83 wird an der im Urteil vom 9.9.1981 3 RK 58/79 = SozR 2200 § 182 Nr 74 vertretenen Rechtsansicht festgehalten, daß die gesetzlichen Krankenkassen befugt sind, in ihre Satzung eine Bestimmung über die Kostenerstattung zugunsten solcher Mitglieder aufzunehmen, die nach § 176a Abs 1 RVO der Versicherung freiwillig beigetreten sind oder sich nach § 313 Abs 1 RVO wegen Ausscheidens aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung aufgrund Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze freiwillig weiterversichert haben.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a Fassung: 1974-08-07, § 321 Nr 2 Fassung: 1924-12-15, § 324 Abs 1 Fassung: 1924-12-15, § 176a Abs 1, § 313 Abs 1

 

Gründe

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat mit Beschluß vom 11. Februar 1987 - 1/8 RR 34/83 - beim 3. Senat angefragt, ob er an seiner im Urteil vom 9. September 1981 - 3 RK 58/59 - vertretenen Rechtsansicht festhält, daß die gesetzlichen Krankenkassen (§ 225 Reichsversicherungsordnung -RVO-) befugt sind, in ihre Satzung eine Bestimmung über die Kostenerstattung zugunsten solcher Mitglieder aufzunehmen, die nach § 176a Abs 1 RVO der Versicherung freiwillig beigetreten sind oder sich nach § 313 Abs 1 der RVO wegen Ausscheidens aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung aufgrund Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze freiwillig weiterversichert haben. Der 1. Senat ist der Ansicht, der Gesetzgeber der RVO habe das Sachleistungsprinzip als übergreifenden Grundsatz des Leistungsrechts für alle Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen (§ 225 Abs 1 RVO) normiert und nicht einzelne Gruppen dieser Versicherten davon ausgenommen oder ihre Ausnahme durch Satzungsrecht gestattet.

Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsansicht fest. Der Begründung des Anfragebeschlusses wird zwar weitgehend zugestimmt, jedoch nicht mit der Konsequenz, daß das Gesetz einer Auslegung im Sinne des Urteils des erkennenden Senats vom 9. September 1981 nicht zugänglich wäre. Der Senat hat durch seine Auslegung versucht, einen von ihm gesehenen Rechtskonflikt zu lösen.

Ein Rechtskonflikt besteht nach Auffassung des Senats darin, daß hinsichtlich des Versicherungsanspruchs auf ärztliche Behandlung (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a RVO) den Ersatzkassen das Recht zugestanden wird, für ihre freiwilligen Mitglieder bzw für bestimmte Gruppen dieser Mitglieder in ihrer Satzung die Möglichkeit der Wahl zwischen Sachleistung und Kostenerstattung vorzusehen, den gesetzlichen Krankenkassen aber dieses Recht nicht zustehen soll. Der 1. Senat erkennt in dem Anfragebeschluß ebenfalls an, daß den Ersatzkassen ungeachtet des grundsätzlich auch für sie geltenden Sachleistungsprinzips die Vornahme einer Kostenerstattung für einen begrenzten Kreis von freiwillig Versicherten ausdrücklich gestattet worden ist. Die Ungleichbehandlung der Kassen konnte hingenommen werden, solange sie ohne weitere Auswirkungen blieb. Mit der weiten Öffnung der gesetzlichen Krankenversicherung für Personen, die der Versicherungspflicht nicht unterliegen, haben die freiwilligen Mitglieder für die Krankenkassen erhebliche Bedeutung erlangt. Der auf diese Mitglieder zielende Wettbewerb der Kassen bestätigt das. Aufgrund dieser Entwicklung wirkt sich die Ungleichbehandlung derart störend auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung aus, daß sie sich als unvereinbar mit den das System tragenden Grundsatzentscheidungen des Gesetzgebers erweist. Insbesondere erscheint dem Senat die hier in Frage stehende Gleichbehandlung geboten, um

- das gegliederte System der gesetzlichen Krankenversicherung funktionsfähig zu erhalten,

- dem Solidaritätsprinzip gerecht zu werden und

- den Versichertengemeinschaften der verschiedenen Krankenkassen durch ihren Satzungsgeber eine Gleichbehandlung gleichartiger Versichertengruppen zu ermöglichen.

Die Mitgliederstruktur einer Kasse hat erhebliche Bedeutung für die Beitragsgestaltung (Höhe des Beitragssatzes) und für die Leistungsgewährung (zB im Bereich der Mehrleistungen). Die Besserstellung der Ersatzkassen hat zur Folge, daß sich die sog. guten Risiken (freiwillig Versicherte mit hohem Einkommen = hohen Beiträgen und relativ geringem Leistungsbedarf) bei den Ersatzkassen konzentrieren, die schlechten Risiken bei den gesetzlichen Krankenkassen, vor allem bei den Ortskrankenkassen. Die Betriebskrankenkassen werden in der Regel durch Vergünstigungen des Unternehmens ihre Attraktivität erhalten können. Die Ortskrankenkassen aber werden in ihrem Bestand gefährdet, obwohl gerade ihnen eine besondere Aufgabe und Verantwortung im gegliederten System der gesetzlichen Krankenversicherung zugewiesen ist (siehe ua §§ 234, 257a RVO). Mit einer Ungleichbehandlung der Kassen werden nicht nur das System der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet und der Grundsatz der Solidargemeinschaft der Versicherten verletzt, sondern auch die Versicherten selbst einer Ungleichbehandlung ausgesetzt (erhebliche Differenzen in den Beitragssätzen - vgl Behrends/Brunkhorst, SGb 1987, 226, 233 - und unterschiedliche Leistungsangebote).

Soweit der erkennende Senat der Begründung des Anfragebeschlusses zu folgen vermag, sieht er keinen zwingen der Grund dafür, seinen der Lösung des aufgezeigten Konfliktes dienenden Rechtsstandpunkt aufzugeben. Völlige Übereinstimmung besteht darüber, daß grundsätzlich allen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen der Anspruch auf ärztliche Behandlung als Sachleistungsanspruch zusteht (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a RVO). Die Ersatzkassen sind gegenüber ihren pflichtversicherten Mitgliedern in gleicher Weise verpflichtet (§ 507 Abs 1 RVO). Im übrigen sind die Ersatzkassen an die Vorschriften der RVO nur gebunden, soweit dies bestimmt ist (Art 2 § 2 Abs 2 der 12. Aufbau-VO). In § 507 Abs 4 RVO ist § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a RVO nicht genannt. Ob sich bereits daraus das Recht der Ersatzkassen ergibt, für ihre freiwilligen Mitglieder jedenfalls wahlweise einen Anspruch auf Kostenerstattung vorzusehen, muß hier nicht weiter vertieft werden. Insoweit bestehen zwischen dem 1. und dem erkennenden Senat keine für den vorliegenden Fall bedeutsamen Meinungsverschiedenheiten. Eine revisionsgerichtliche Grundsatzentscheidung, die umfassend zu diesem Fragenkomplex Stellung nimmt, ist allerdings nicht ersichtlich. Für die freiwilligen Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen kann sich der Senat zwar nicht auf eine ausdrückliche gesetzliche Regelung berufen. Er kann aber dem Gesetz auch keine ausdrückliche Regelung entnehmen, die den gesetzlichen Krankenkassen verbietet, neben dem auf alle Fälle gegebenen Sachleistungsanspruch einen Anspruch auf Kostenerstattung einzuräumen und den freiwilligen Mitgliedern die Wahl unter diesen Ansprüchen zu überlassen. In Anbetracht der Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der freiwilligen Versicherung (§ 215 RVO) hält es der erkennende Senat nicht für systemwidrig, den gesetzlichen Krankenkassen das Recht zuzuerkennen, in ihren Satzungen für freiwillige Mitglieder eine - den Sachleistungsanspruch nicht verdrängende - Kostenerstattungsregelung aufzunehmen.

Das Recht über die Erbringung der Sachleistung "ärztliche Behandlung", das Kassenarztrecht, muß ebenfalls nicht als ein Hinderungsgrund für die vom Senat für möglich gehaltene Kostenerstattungsregelung gesehen werden. Das Kassenarztrecht wurde erst nachträglich geschaffen und vervollständigt, um den gesetzlichen Krankenkassen die Erfüllung des Sachleistungsanspruchs zu ermöglichen. Es ist zwar dem 1. Senat zuzugestehen, daß das Leistungsrecht durch das zeitlich nachfolgende Leistungserbringungsrecht eine gewisse inhaltliche Ausgestaltung erfahren hat. Dieser inhaltlichen Ausgestaltung kann aber auch im Rahmen einer Regelung über eine wahlweise Kostenerstattung Rechnung getragen werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Gebots einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Behandlung (§ 182 Abs 2, § 368e RVO). Satzungsrechtliche Regelungen, die mit den gesetzlichen Regelungen nicht in Einklang stehen, können durch Versagung der aufsichtsrechtlichen Genehmigung verhindert werden. Die Regelungen des Kassenarztrechts, die die Zahlung und Verteilung der Gesamtvergütung betreffen, beschränken sich auf die kassenärztliche Versorgung, also auf die Erfüllung des Sachleistungsanspruchs durch die Kassenärzte. Im Ersatzkassenbereich ist die Leistungserbringung sowieso weitgehend vertraglichen Regelungen überlassen (§ 368n Abs 2 Satz 3 iVm den Ersatzkassenverträgen für Ärzte und Zahnärzte; § 525c RVO). Das Leistungserbringungsrecht dient der Erfüllung des Sachleistungsanspruchs. Es findet also Anwendung, wenn der Versicherte die Sachleistung in Anspruch nimmt. Demgemäß liegt es nicht nahe, von ihm auch eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob der Versicherungsanspruch nur als Sachleistungsanspruch oder auch als ein - in seiner Durchführung naturgemäß ganz unproblematischer und daher nicht regelungsbedürftiger - Kostenerstattungsanspruch zur Verfügung gestellt werden kann.

Auch wenn der Gesetzgeber der RVO an die Möglichkeit einer satzungsrechtlichen Kostenerstattungsregelung für freiwillig Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen nicht gedacht, sie vielleicht sogar nicht gewollt hat, schließt das heute vorliegende Gesetz eine den geänderten Verhältnissen Rechnung tragende Auslegung im Sinne der Entscheidung des Senats vom 9. September 1981 nicht aus. Für diese Auslegung sprechen die oben angeführten übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkte.

Zur Frage, ob dann auch Pflichtversicherten diese satzungsrechtliche Möglichkeit eingeräumt werden muß, ist nicht Stellung zu nehmen. Zwangsläufig ergibt sich dies nicht, zumal bei Pflichtversicherten der Rahmen für eine satzungsrechtliche Regelung enger gezogen ist und eine Ungleichbehandlung zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Ersatzkassen nicht besteht. Den versicherungspflichtigen Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen wäre andererseits nicht damit gedient, wenn die guten Risiken aus der freiwilligen Versicherung die gesetzlichen Krankenkassen meiden, und dadurch die Finanzlage dieser Kassen weiter verschlechtert und dementsprechend die Beitragsbelastung der Mitglieder dieser Kassen weiter erhöht wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663919

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge