Tenor
Die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 Ehegesetz ist eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung und des § 42 Satz 2 Nr. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (beide Gesetze in der Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972).
Tatbestand
I.
1. Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten war – rechtskräftig seit Januar 1970 – aus beiderseitig gleichem Verschulden geschieden worden. Beide Ehegatten heirateten nicht wieder. Im August 1972 starb der Versicherte. Bis zu seinem Tode hatte er ein monatliches Bruttoeinkommen von rund 2.100,– DM. Zur gleichen Zeit hatte die Klägerin Bruttoeinkünfte aus einer Erwerbstätigkeit von annähernd 1.600,– DM monatlich. Einen Unterhaltstitel hatte sie gegen den Versicherten nicht erstritten.
Ihr erster Antrag auf Hinterbliebenenrente war von der Beklagten abgelehnt worden. Die dagegen erhobene Klage hatte das Sozialgericht (SG) Frankfurt am Main durch Urteil vom 30. Januar 1974 abgewiesen, weil die Klägerin die Voraussetzungen für den Rentenanspruch (§ 42 Sätze 1 und 2 Angestelltenversicherungsgesetz – AVG – in der Fassung des Rentenreformgesetzes – RRG – vom 16. Oktober 1972) nicht erfülle, im besonderen weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei und auch das 60. Lebensjahr noch nicht überschritten habe. – Die Klägerin ist im Dezember 1914 geboren.
Im Oktober 1974 beantragte sie abermals die Gewährung der Hinterbliebenenrente. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte ab. Die Klage ist in den beiden ersten Rechtszügen erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) ließ sich von der Überlegung leiten, daß dem erhobenen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach dem bis zum 31. Dezember 1972 geltenden Recht die Rechtskraft des klagabweisenden Urteils des SG Frankfurt am Main vom 30. Januar 1974 entgegenstehe. Darüber hinaus finde das Rentenbegehren der Klägerin im Gesetz keine Stütze. Dafür komme allein § 42 Satz 2 AVG idF des RRG in Betracht. Nach dieser Vorschrift sei eine „Unterhaltsverpflichtung” des Versicherten gegenüber der früheren Ehefrau zu fordern. Eine solche Unterhaltsverpflichtung habe jedoch nicht bestanden. Da die Ehe aus dem gleichen Verschulden beider Ehepartner geschieden worden sei, habe nur ein Billigkeitsanspruch auf Beitrag zum Unterhalt unter bestimmten strengen Bedingungen bestehen können (§ 60 Ehegesetz – EheG –). Diese Beitragspflicht komme indessen der Unterhaltsverpflichtung iS des § 42 Satz 2 AVG nicht gleich. Dafür bezieht sich das Berufungsgericht auf die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG): Urteil vom 28. Juni 1972 – 4 RJ 145/71 = SozR Nr. 63 zu § 1265 RVO; Urteil vom 29. Juli 1976 – 4 RJ 111/75 = SozR 2200 § 1265 Nr. 21; Urteil vom 26. Oktober 1976 – 4 RJ 117/76 = Breithaupt 1977, 426.
Die Klägerin hat Revision eingelegt.
Der mit diesem Rechtsmittel befaßte 11. Senat des BSG möchte von den genannten Entscheidungen des 4. Senats abweichen, das Berufungsurteil in der vorliegenden Sache aufheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen. Auf seine Anfrage hin hat der 4. Senat mitgeteilt, daß er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalte. Deshalb hat der 11. Senat dem Großen Senat des BSG die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
„Ist die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 Ehegesetz aF eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der §§ 1265 Satz 2 Reichsversicherungsordnung, 42 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz (beide in der Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972)”?
2. Der 11. Senat vermag sich nicht der Auffassung des 4. Senats anzuschließen, daß – sofern es um den Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG gehe – zwischen der Unterhaltsverpflichtung nach Satz 1 und derjenigen nach Satz 2 des § 1265 Reichsversicherungsordnung – RVO – (= § 42 AVG) zu unterscheiden sei. Für Satz 1 der genannten Vorschrift sei es ausgetragen, daß der Unterhaltsbeitrag Unterhalt im Sinne der Vorschrift über den Anspruch auf Hinterbliebenenrente einer geschiedenen Frau sei. Der Wortlaut des Gesetzes rechtfertige die Auffassung des 4. Senats nicht. Die Formulierung des Satzes 1, daß der Versicherte „Unterhalt … zu leisten hatte” und der Ausdruck „Unterhaltsverpflichtung” in Satz 2 seien sinngleich. Die systematische Einordnung des § 60 EheG unter die Gesetzesüberschrift „Unterhaltspflicht” vor den §§ 58 ff EheG bestätige dies. Desgleichen spreche die amtliche Begründung zum EheG von der „Unterhaltspflicht” und dem „Unterhaltsanspruch” in den Fällen einer Scheidung aus gleichem Verschulden beider Ehegatten (Deutsche Justiz 1938 II, 1102, 1111). An der Rechtslage habe mit dem später eingeführten Satz 2 des § 1265 RVO durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) erkennbar nichts geändert werden sollen. Wenn der 4. Senat sich an den „unrealistischen” Anwendungsfolgen störe, die bei einer anderen als der von ihm vertretenen Lösung herauskämen, so könne er, der 11. Senat, demgegenüber nur auf eine allgemeine Erscheinung hinweisen. – Der 4, Senat hatte ausgeführt, ein Unterhaltsbeitrag könne nach § 60 EheG dem geschiedenen Ehegatten bei Bedürftigkeit nur nach umfassenden, alle Umstände des Einzelfalles einbeziehenden Billigkeitserwägungen zugesprochen werden. Ein solches Abwägen sei jedoch unterbunden, wenn – wie hier – von den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen des Versicherten sowie den Erträgnissen der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit keine Notiz zu nehmen sei. – Dieser Überlegung hält der 11. Senat entgegen, daß die Abstraktion von der Wirklichkeit, welche den 4. Senat störe, nicht nur im Falle des § 60 EheG, sondern generell Platz greife. Nach § 1265 Satz 2 RVO müßten ganz allgemein beim Versicherten Vermögens- und Erwerbsverhältnisse fingiert werden; die Fiktion müsse sogar von einem Umfang der Erwerbsverhältnisse ausgehen, der den Versicherten zu einer den Lebensumständen der Ehegatten zur Zeit der Scheidung angemessenen Unterhaltsleistung befähigt hätte. Auf dieser Basis sei dann auch auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Verwandten einzugehen.
Demgegenüber erscheint es dem 4. Senat wichtig, daß § 60 EheG keinen „echten” Unterhaltsanspruch normiere, sondern lediglich zu einem richterlichen Ermessen bei der „Beitrags”-gewährung ermächtige. Auffallend sei bereits die Ausdrucksweise des Gesetzes. Es spreche vom „Bedürftigen”, wo sonst vom „Berechtigten” die Rede sei; der Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG könne „zugebilligt werden”, wohingegen üblicherweise erklärt werde, der Ehegatte „habe Unterhalt zu gewähren”. Der Unterhaltsbeitrag lasse sich von vornherein zeitlich begrenzen; er ende mit dem Tode des Verpflichteten (§ 70 Abs. 3 EheG); diese Unterhaltspflicht gehe also nicht, wie es regelmäßig geschehe, auf die Erben über.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Vorlage an den Großen Senat ist zulässig. Der 11. Senat hat nach mündlicher Verhandlung in der Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern beschlossen, den Großen Senat nach § 42 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anzurufen, weil er in einer Rechtsfrage von den bereits angeführten Urteilen des 4. Senats abweichen will. Der Vorlage steht nicht entgegen, daß vorher bei der Anfrage des 11. Senats an den 4. Senat, ob er im streitigen Punkt an seiner Rechtsprechung festhalte, lediglich drei Berufsrichter tätig wurden und daß die Antwort auch nur von drei Berufsrichtern erteilt worden ist.
Diese Richterbeteiligung im Anfrageverfahren erscheint durch die bisherige Stellungnahme des Großen Senats vorgezeichnet. In BSGE 34, 1, 3 hat es der Große Senat hingenommen, daß jedenfalls an einer solchen Anfrage ehrenamtliche Richter nicht mitwirken. Seinen Ausführungen (aaO S 4) ist aber auch zu entnehmen, daß er eine Besetzung wie bei einem Revisionsurteil für geboten hält, wenn ein Senat seine bisherige Rechtsprechung aufgibt. In der Tat erscheint in einem solchen Falle die Besetzung mit 5 Richtern als unentbehrlich. Die Zustimmungserklärung, durch welche ein Senat seine Rechtsprechung umstößt, schafft für ihn eine vollendete Wirkung. Da in Zukunft nicht zwei nebeneinander divergierende Entscheidungen bestehen dürfen, gilt fernerhin als seine Rechtsauffassung diejenige, welcher er zugestimmt hat. Von diesem Fall der „Zustimmungserklärung” abgesehen, sind Anfrage und Antwort des hier in Rede stehenden Inhalts Vorgänge, die dem eigentlichen Verfahren nach § 42 SGG vorausgehen und zunächst nur der Klärung dienen, ob es überhaupt einer Anrufung des Großen Senats bedarf. Für ein solches vorbereitendes Tätigwerden sollen im allgemeinen nach BSGE 1, 1, 4 die erforderlichen Maßnahmen allein durch die Berufsrichter getroffen werden. Dabei ist an Entscheidungen gedacht, die eine Sitzung nicht erfordern (BSG vom 18. November 1977 – 5 RJ 24/76), oder – anders ausgedrückt – an „Beschlüsse außerhalb der mündlichen Verhandlung” (§ 124 Abs. 3 SGG; § 5 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –). Im übrigen ist es im Prozeßrecht generell nicht ungewöhnlich, daß ehrenamtliche Richter lediglich an Endentscheidungen beteiligt werden (§ 53 Abs. 1, § 64 Abs. 3, § 72 Abs. 4 Arbeitsgerichtsgesetz – ArbGG –; § 5 Abs. 3 Satz 2 VwGO; § 105 Gerichtsverfassungsgesetz – GVG – mit §§ 348 und 349 der Zivilprozeßordnung – ZPO –, §§ 30, 76, 77 GVG).
Indessen ist im Anfrageverfahren, das der Anrufung des Großen Senats voranzugehen hat, die Stellungnahme des befragten Senate durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Seine Antwort betrifft – erstens – nicht nur den weiteren Fortgang des Prozesses, wie es im wesentlichen sonst bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung der Fall ist, sondern will Einfluß nehmen auf das Erkenntnis in der Sache selbst, nämlich auf die für die Entscheidung in der Hauptsache tragende rechtliche Begründung (ähnlich: Heußner, DRiZ 1972, 119, 121; vgl. auch: Müller-Helle, Die Besetzung der Gr. Senate, Diss. Berlin 1975, 162 f.). Damit ist diejenige Funktion unmittelbar berührt, die den ehrenamtlichen Richtern mit „ihrer Kenntnis des sozialen Lebens” in der Revisionsinstanz beizumessen ist (BVerfGE 48, 246, 257). Zweitens ruft die Antwort, die einen Wechsel der Rechtsauffassung ablehnt, eine Änderung der Richterbank hervor. Für die Entscheidung über die tragende Rechtsauffassung wird dem anfragenden Senat die Kompetenz genommen. Er muß den Großen Senat anrufen. Wegen dieser Momente meint der Große Senat, der Antwort des befragten Senats ein größeres Gewicht beimessen zu müssen, als dies bislang geschehen ist. Gleichviel, ob der von einer Divergenzabsicht betroffene Senat seinen früheren Standpunkt aufgibt oder verteidigt, die ehrenamtlichen Richter werden zumindest dann zu beteiligen sein, wenn es um das Fortgelten einer Entscheidung geht, welche früher unter ihrer Mitwirkung zustande gekommen ist (Heußner, DRiZ 1972, 122; vgl. auch Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S 303 ff; Meyer-Ladewig, Komm. z. Sozialgerichtsgesetz – SGG – 1977, RdNr. 8 zu § 42; weitergehend: Eyermann/Fröhler, Komm. z. VwGO 7. Aufl, RdNr. 3 zu § 11).
Dagegen kann der anfragende Senat zunächst von einer Beteiligung der ehrenamtlichen Richter absehen, weil diese später immer dann heranzuziehen sind, wenn die Endentscheidung nicht von den Berufsrichtern allein gefällt werden kann. Die ehrenamtlichen Richter wirken beim Urteil oder bei dem Beschluß über die Anrufung des Großen Senats mit.
Obwohl im gegenwärtigen Falle die Antwort des 4. Senats in ihrer Richterbeteiligung nicht den oben beschriebenen Erfordernissen entspricht, folgt daraus nicht die Unzulässigkeit der Vorlage. Ob diese Rechtsfolge bei einem Mangel im Anfrageverfahren der beschriebenen Art unausweichlich wäre, kann offenbleiben. Hier kann die Anrufung des Großen Senats nicht ohne Rücksicht darauf beurteilt werden, daß die beteiligten Senate sich auf die neue Rechtseinsicht bislang noch nicht einstellen konnten. Ordnungsvorstellungen, die jahrelang befolgt wurden und die Rechtswirklichkeit maßgeblich beeinflußten, dürfen in einem Zusammenhang wie diesem nicht unversehens als nicht bestehend behandelt werden. Das wäre im besonderen deshalb nicht angängig, weil das Anfrageverfahren, das einer Divergenzanrufung des Großen Senats voranzugehen hat, eine richterlich geprägte Institution ist; sie ist nicht durch in ihrem Inhalt fest umrissene Gesetzesnormen geregelt. Die Einzelheiten dieses Gerichtsgebrauchs sind erst nach und nach in Anbetracht praktischer Belange im Rahmen der Rechtsordnung zu entwickeln. Angesichts eines solchen allmählichen Reifeprozesses ist es erlaubt, im Interesse einer funktionsgerechten, den Rechtsstreit fördernden Sacherledigung in diesem Falle noch diejenige praktische Übung zu achten, die zur Richtermitwirkung im Anfrageverfahren bisher bestanden hat. Darüber hinaus hat sich der Große Senat in der behandelten Frage mit der Ankündigung der künftig von ihm befolgten Rechtsansicht zu begnügen (hierüber: Birk, Die Ankündigung von Rechtsprechungsänderungen, JZ 1974, 735, 737; vgl. auch Pieroth, Verwaltungsarchiv 68 (1977), 217; BVerwG in NJV 1979, 229).
2. Der 11. Senat hat dargetan, daß er von einer Rechtsauffassung abrücken wolle (§ 42 SGG), von welcher sich der 4. Senat in mehreren Urteilen hat leiten lassen. Die Meinung, daß der Unterhaltsbeitrag des Versicherten an die von ihm gleichschuldig geschiedene Frau (§ 60 EheG), der von einer richterlichen Billigkeitsentscheidung abhängig ist, der „Unterhaltsverpflichtung” iS des § 1265 Satz 2 RVO unterzuordnen sei, ist mit den Begründungen des Urteils BSG SozR 2200 § 1265 Nr. 21 und des Urteils vom 26. Oktober 1976 – 4 RJ 117/76 = Breithaupt 1977, 426 – unvereinbare
3. Die streitige Rechtsfrage ist hier wie dort dieselbe, wenn sie auch bei Auslegung verschiedener Gesetze – einmal des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO und das andere Mal des § 42 Satz 2 Nr. 1 AVG – auftritt. Für die Identität der Rechtsfrage ist wichtig, daß die wörtlich und inhaltlich übereinstimmenden Vorschriften der gleichzeitig verabschiedeten Gesetze deckungsgleich verstanden werden sollen (Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik, Abgeordneter Geiger, zu BT-Drucks II 3080 S 30; GmS Beschluß vom 6. Februar 1973 in BSGE 35, 293, 294; Beschluß vom 16. März 1976 in SozR 1500 § 161 Nr. 18). – Im folgenden wird anstelle beider Vorschriften allein § 1265 RVO angeführt.
4. Die vom 11. Senat angestrebte rechtliche Klärung erübrigt sich nicht wegen Gesetzesänderung (zur Klärungsbedürftigkeit auslaufenden Rechts: BVerwG Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 160; Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, 224 mN).
In der Streitsache, die Anlaß zur Anrufung des Großen Senats ist, greifen die Vorschriften des am 1. Juli 1977 in Kraft getretenen Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421) nicht ein (Art. 12 Nr. 13 Buchst a des 1. EheRG). Für die Folgen einer Ehescheidung, die noch unter der Herrschaft des früheren Rechts rechtskräftig wurde, namentlich für die unterhaltsrechtlichen Folgen, sind die vor der Eherechtsreform geltenden Gesetzesbestimmungen maßgebend (Art. 12 Nr. 3 Absätze 1 und 2 des 1. EheRG). Es sind also nach wie vor die §§ 58 ff des bis zum 30. Juni 1977 geltenden Ehegesetzes und § 1265 RVO oder § 42 AVG über die Geschiedenen-Witwenrente anzuwenden (BT-Drucks 7/4361 S 54, Begründung zu Art. 4 Nr. 1 b; speziell zu § 60 EheG: Rolland, 1. EheRG, Komm 1977, 816 RdNr. 43). § 1265 Satz 2 RVO kann sowohl in der bis zum 31. Dezember 1972 als auch in der seit dem 1. Januar 1973 geltenden Fassung zu beachten sein, weil der frühere Ehemann der Klägerin am 2. August 1972, also vor dem 1. Januar 1973, aber nach dem 30. April 1942 gestorben ist (Art. 2 § 19 Abs. 1 ArVNG, Art. 2 § 18 Abs. 1 AnVNG). Der 11. Senat hat sein Ersuchen aber auf die Auslegung der Gesetzesregelung nach dem RRG vom 16. Oktober 1972 beschränkt; diese ist seit dem 1. Januar 1973 in Kraft.
III.
Die Frage, ob die Pflicht zum Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO ist, bejaht der Große Senat.
1. Mit dem Begriff der Unterhaltsverpflichtung in § 1265 Satz 2 RVO wird an das entsprechende Tatbestandsmerkmal in Satz 1 dieser Gesetzesbestimmung angeknüpft und damit an die Worte „Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte”. Für Satz 2 des § 1265 RVO ist der Beitrag zum Unterhalt, der einer Frau nach gleichwertiger Schuld an der Scheidung zugesprochen werden kann (§ 60 Satz 1 EheG), ebenso Gegenstand eines Unterhaltsanspruchs wie nach Satz 1 der genannten Vorschrift. Der Einleitung des Satzes 2 von § 1265 RVO ist zu entnehmen, daß der in Satz 1 geäußerte Gedanke fortgeführt werden soll. Satz 1 – so lautet diese Gesetzesstelle – finde „auch” dann Anwendung, wenn „eine Unterhaltsverpflichtung” wegen bestimmter Gegebenheiten nicht bestanden habe. Damit wird auf eine Verpflichtung der vorher näher beschriebenen Art angespielt. Die Tatbestandserfordernisse, welche mit Satz 1 unmittelbar oder durch Heranziehung anderer Normen aufgestellt worden sind, werden durch Satz 2, nämlich dann, wenn „eine Witwenrente nicht zu gewähren” ist, zum Teil zurückgenommen und zum Teil durch andere ergänzt. Der Anschluß des zweiten an den ersten Satz wird durch das beiordnende Bindewort „auch” hergestellt. Dadurch werden aber nicht nur die beiden Sätze aneinandergeschlossen, sondern außerdem die in Satz 1 aufgeführten Einzelbeispiele einer Pflicht zur Unterhaltsgewährung in der Sammelbezeichnung „Unterhaltsverpflichtung” zusammengefaßt. Diese Übereinstimmung im Sprachlichen deutet bereits darauf hin, daß auch rechtlich mit der Bezugnahme auf den Unterhalt, den der Versicherte zu erbringen hatte, in Satz 1 und in Satz 2 dasselbe gesagt sein soll.
Demgegenüber hat der 4. Senat (in SozR Nr. 63 zu § 1265 RVO) auf einen Wechsel im Ausdruck hingewiesen. In Satz 1 heiße es nicht, wie in Satz 2, daß der Versicherte zum Unterhalt „verpflichtet” gewesen sei; dort werde vielmehr davon ausgegangen, daß der Versicherte zur maßgeblichen Zeit „Unterhalt… zu leisten hatte”. „Zu leisten haben” müsse nach dem juristischen Sprachgebrauch nicht schlechterdings mit „verpflichtet sein” gleichgesetzt werden. Das „Verpflichtetsein” – daß Unterhalt „geschuldet” wird – könnte hinter dem Leistenmüssen zurückbleiben (dazu: Urteil vom 31. Juli 1968 – 4 RJ 373/67; SozR Nrn 45, 65 zu § 1265 RVO; Knörl, EhrRi in SGb – Beilage – 1974, 27, 41; BSGE 20, 1, 5 und SozR 2200 § 1265 Nr. 20: zur Realisierbarkeit und Rechtshängigkeit des Unterhaltsanspruchs), Doch gibt diese Überlegung des 4. Senats im gegenwärtigen Zusammenhang keinen rechten Sinn. Wollte man aus Satz 1 des § 1265 RVO wegen des „härteren” Ausdrucks – „zu leisten hatte” – auch einen strengeren Maßstab der Unterhaltsverpflichtung als aus Satz 2 herauslesen, dann verhielte sich das Auslegungsergebnis umgekehrt zu der Lösung, die dem 4. Senat vorschwebt. Der Kreis der Rentenberechtigten wäre in Satz 2 weiter – und nicht, wie der 4. Senat meint – enger als in Satz 1 gezogen. Dies entspräche überdies eher der Absicht des Gesetzes, das in Satz 2 Tatbestandsbedingungen fallen läßt, die nach Satz 1 gefordert werden. Davon abgesehen, läßt das Gesetz aber für das Merkmal der Unterhaltsverpflichtung in Satz 2 des § 1265 RVO keinen von Satz 1 abweichenden Eigengehalt erkennen. Sonach ist hier Unterhaltsverpflichtung gleichbedeutend mit dem Leistenmüssen „nach den Vorschriften des EheG” (ebenso BSG SozR 2200 § 1265 Nr. 20 S 64). – Ob das Merkmal der Unterhaltsverpflichtung auch die zweite Alternative des Satzes 1 von § 1265 RVO abdeckt – die Unterhaltsschuld „aus sonstigen Gründen” –, kann für die in dieser Sache zu treffende Entscheidung dahinstehen (dazu SozR 2200 § 1265 Nr. 11; Welge, Amtl, Mitt. LVA Rheinprov. 3/72, 138).
2. Für Satz 1 aaO ist anerkannt, daß die Verweisung auf die Unterhaltspflichten des Scheidungsrechts auch die „Zubilligung” eines Unterhaltsbeitrags an einen Ehegatten erfaßt, der mit dem anderen gleichermaßen die Schuld an der Scheidung trägt (§ 60 EheG; dazu: BSG SozR Nr. 29 zu § 1265 RVO; BSG vom 23. April 1965 – 12 RJ 250/62, veröffentlicht in SozEntsch BSG V § 1265 Nr. 34). Genauso ist ausgesprochen worden, daß der Unterhaltsbeitrag gemäß § 60 EheG Unterhalt „nach den eherechtlichen Vorschriften” iS des § 42 Abs. 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist (BSGE 13, 166, 168 f.). Die angeführten Entscheidungen haben sich nicht daran gestört, daß nach § 60 EheG dem „bedürftigen” Ehegatten lediglich ein Unterhalts-„beitrag” erst durch ein Urteil zuerkannt (§ 70 Abs. 3 EheG: „auferlegt”) werden muß. Sowohl die Entstehung als auch die Höhe des Anspruchs auf den Unterhaltsbeitrag hängt von der richterlichen Billigkeitsentscheidung ab (von Godin, Ehegesetz, 2. Aufl 1950, Anmerkungen 2 und 4 zu § 60). In die umfassende Abwägung allseitiger Belange sind die Bedürfnisse sowie Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der unterhaltspflichtigen Verwandten einzubeziehen (BSG in BVBl 1964, 55; SozEntsch BSG V § 1265 Nr. 34; von Godin aaO, Anm. 2 zu § 60; Hoffmann/Stephan, EheG, Komm. 2. Aufl. 1968, RdNr. 15 zu § 60; Brühl/Göppinger/Mutschler, Unterhaltsrecht, I. Teil, 3. Aufl, 1973, RdNrn 51, 423; Soergel/Siebert/Donau, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 5, 1971, RdNr. 5 zu § 60; Wüstenberg, BGB-RGRK, 10. und 11. Aufl, IV. Bd, 3. Teil 1968, Anm. 30 bis 33 zu § 60; Ermann-Ronke, BGB, Handkommentar, 2. Bd. 1975, Randziff. 5 zu § 60). Obwohl demnach die Rechtsanwendung des § 60 EheG zunächst offen und überdies mit einer ausgreifenden schwierigen Aufklärungsarbeit belastet ist, ist das BSG mit der heute herrschenden Meinung (Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 2. Aufl 1971, § 30 IV 2; Hoffmann/Stephan, aaO, Randziff. 5 zu § 60 mwN; Palandt/Diederichsen, Bürgerliches Gesetzbuch, 35. Aufl, Anm. 1 zu § 60 EheG) rückhaltlos davon ausgegangen, daß § 60 EheG eine „Unterhaltsverpflichtung” normiert. Damit stimmt die Gesetzesüberschrift vor den §§ 58 ff EheG überein.
Die Ausdrücke „Unterhaltspflicht” und „Unterhaltsanspruch” verwendete bereits die amtliche Begründung zu § 68 EheG 1938 (Deutsche Justiz 1938, 1102, 1111), der als § 60 in das EheG 1946 aufgenommen wurde. Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte in LM § 60 EheG Nr. 1 dazu, bei der Billigkeitsentscheidung aus § 60 EheG handele es sich um eine zuerkennende und nicht um eine rechtsgestaltende Tätigkeit des Richters. Lägen alle in § 60 EheG aufgeführten Voraussetzungen für den dort geregelten Anspruch vor, so sei damit dieser Anspruch zur Entstehung gelangt. Er entstehe also nicht erst mit der richterlichen Entscheidung, die eine auf § 60 EheG gestützte Klageforderung anordne (ebenso SozEntsch BSG V § 1265 Nr. 34; vgl. ferner BSGE 30, 220 BSG in NJW 1972, 735 mit Anm. von Trolldenier in NJV 1972, 1453). Beitzke (SGb 1977, 77, 79 f.) hat zusätzlich bemerkt, daß die Abhängigkeit von Billigkeitserwägungen die Existenz eines Rechtsanspruchs nicht ausschließe. Dies zeigten die Ansprüche aus § 847 und § 1300 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dem widerstreite ferner nicht, daß die Verwandten noch vor dem anderen gleichschuldig geschiedenen Ehegatten hafteten. Auf der gleichen Linie liegt die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Er hat erklärt, der mitschuldige und nach § 60 EheG berechtigte Ehegatte habe einen „Anspruch auf gesetzlichen Unterhalt” iS des § 12 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) sowie des § 24 Nr. 6 Lastenausgleichsgesetz – LAG – (zu § 12 Nr. 2 EStG, BFHE 72, 515; 109, 570 = NJW 1974, 79, 679; zu § 24 Nr. 6 LAG, BFHE 94, 34, 36).
3. Der Große Senat sieht sich nicht veranlaßt, von der bisherigen Rechtsprechung zu § 1265 RVO abzurücken, welche dem Unterhalt nach den ehegesetzlichen Vorschriften den Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG unterordnete. Diese Rechtsprechung mag anfänglich noch Zweifeln unterlegen haben. Im Hinblick auf die Gesetzesgeschichte und die darin zutage getretenen gesetzgeberischen Beweggründe hat sie sich mehr und mehr als zutreffend erwiesen. Für die Gestaltung und Auslegung der Norm über die Geschiedenen-Witwenrente war der Gedanke der Unterhaltsersatzfunktion richtungweisend; der vom Versicherten zu seinen Lebzeiten geleistete oder zu leistende Unterhalt soll durch die Geschiedenen-Witwenrente ersetzt werden (BT-Drucks II/2437 S 76), Dieses leitende Motiv hat namentlich in Satz 2 des § 1265 RVO im Laufe der Rechtsentwicklung immer stärker an Bedeutung verloren. Im gleichen Maße hat der hinter diesem Motiv stehende Grundsatz an Gewicht eingebüßt, daß bei gleicher Schuld jeder der geschiedenen Ehegatten für seinen Lebensbedarf selbst zu sorgen habe (ua Dölle, Familienrecht, Bd. I, 1964, S 605; Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts, 2. Aufl, 1972, § 38 S 73, § 47 S 87; aA wohl Wüstenberg, BGB-RGRK, 10, und 11. Aufl, IV. Bd, 3. Teil 1968, Anm. 4 zu § 60 EheG) und nur im Falle des „Notbedarfs” dem Bedürftigen unter begrenzt umschriebenen Umständen aus Billigkeit ein Beitrag zum Unterhalt zugesprochen werden könne. Bemerkenswert ist jedoch, daß das Prinzip des Scheidungsverschuldens in § 1265 RVO von Anfang an ungenannt geblieben und nur infolge des Hinweises auf die Bestimmungen des EheG indirekt wirksam geworden ist. Bestrebungen, dieses Prinzip unmittelbar in den Normtext aufzunehmen, haben sich nicht durchgesetzt. Modellbeispiele hätten sich im Beamtenversorgungs- und im Entschädigungsrecht geboten. Der für Versorgungsempfänger aus der Zeit vor dem 1. Juli 1977 weiterhin geltende § 125 Abs. 2 Bundesbeamtengesetz – BBG– (vgl. ferner: § 73 Abs. 1 Beamtenrechtsrahmengesetz – Fassung vom 17.7.1971 – und § 17 Abs. 2 Nrn 1 und 2 Bundesentschädigungsgesetz) lautet, daß „der schuldlos oder aus überwiegendem Verschulden des Ehemannes geschiedenen Ehefrau eines verstorbenen Beamten oder Ruhestandsbeamten …, ein Unterhaltsbeitrag … insoweit zu gewähren (ist), als ihr der Verstorbene zur Zeit seines Todes Unterhalt zu leisten hatte”. Die frühere Ehefrau nimmt demnach an der beamtenrechtlichen Versorgung nicht teil, wenn die Ehe aus gleicher Schuld beider Teile geschieden wurde (Richtlinie Nr. 6 zu § 125; Plog/Wiedow/Beck, Kommentar zum Bundesbeamtengesetz, RdNr. 17 zu § 125; Brautmeier, DÖD 1972, 205, 206). Der älteste Versuch, das Scheidungsverschulden zum Tatbestandsmoment für den Anspruch auf die Geschiedenenrente zu erheben, wurde im Bundesversorgungsgesetz (§ 42 BVG) unternommen und abgelehnt. Der Regierungsentwurf (Drucks I/1333 § 41) sah vor, daß im Falle der Scheidung oder Aufhebung der Ehe die frühere Ehefrau des Verstorbenen Rente erhalten könne, wenn der Verstorbene allein oder überwiegend für schuldig erklärt worden sei (s.a. Begründung zu BT-Drucks I/1333 S 59 f.). Nach dem Änderungsvorschlag des Bundesrats (Anl 2 zu der oa Drucksache) wurde jedoch die Fassung gewählt, daß Hinterbliebenenrente gewährt werden könne, wenn der Verstorbene „nach den eherechtlichen Vorschriften Unterhalt zu gewähren” hätte. In der Begründung zu dieser Änderung heißt es lediglich, die Modernisierung des Eherechts habe die Neufassung erforderlich gemacht. Bei der Anwendung dieser Vorschrift war anfänglich strittig, ob die Regelung über den Unterhaltsbeitrag (§ 60 EheG) Grundlage für eine versorgungsrechtliche Hinterbliebenenrente sein könne. Die vorgetragenen Zweifel (Wilke, VersorgB 1952, 62; aber jetzt: Wilke/Wunderlich, Bundesversorgungsgesetz, 4. Aufl 1973, III 1 c zu § 42; Schur, SGb, 1957, 39; Kraus, KOV 1957, 44; außerdem: BMA 16.2.1954 BVBl 1954, 38 Nr. 21) sind seit BSGE 13, 166 verstummt (jetzt: Verwaltungsvorschrift Nr. 3 b zu § 42 BVG).
4. Bei der Beratung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965, mit dem Satz 2 des § 1265 RVO geschaffen wurde, beanstandete man die Unterhaltsersatzfunktion – das für die Rente an die frühere Ehefrau vorherrschende Prinzip – als unzulänglich (Bundesrats-Drucks 319/64 vom 10.7.1964). Früheren Ehefrauen wurde, falls eine Witwenrente nicht zu gewähren war, eine Hinterbliebenenrente dann zugestanden, wenn der Versicherte wegen schlechter Vermögens- und Erwerbsverhältnisse zur Unterhaltsleistung nicht imstande gewesen war. Dafür war es nunmehr gleichgültig, daß die geschiedene Frau zu Lebzeiten des Versicherten einen Unterhaltsanspruch nicht gehabt, durch seinen Tod also insoweit eine Einbuße nicht erlitten hatte, Sie sollte, nachdem sie der Verstorbene selbst nicht unterstützt hatte, wenigstens den Nutzen aus seiner Versicherung ziehen. Die Rechtswohltat des RVÄndG ging damit über das Ziel, eine Unterhaltslücke zu schließen, hinaus; das Gesetz brach aber nicht völlig mit dem Grundsatz der Surrogation. Für diejenige geschiedene Frau, welche über eigenes ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt hatte, hatte es bei der Vorschrift des § 1265 Satz 1 RVO sein Bewenden.
5. Durch das RRG wurde die Unterhaltsersatzfunktion von 1972 weiter abgebaut. Dem Anspruch auf Geschiedenen-Witwenrente soll jetzt nur noch entgegenstehen, daß die geschiedene Frau beim Tod des Versicherten aus Erträgnissen ihres Vermögens den Lebensbedarf bestreiten konnte. Dagegen ist es gleichgültig, daß ihre Unterhaltsbedürftigkeit wegen hinreichender eigener Arbeitseinkünfte entfällt. Diese Forderung mag der Gesetzgeber auch aufgegeben haben, um die geschiedene Frau, die gearbeitet hatte, nicht schlechter zu stellen als diejenige, die aus anderen Mitteln versorgt worden war (Kurt Maier, Die DAngVers 1973, 140, 141). Beherrschend und für die gewandelte Blickrichtung bezeichnend war aber ein anderer, dem Gesetz selbst zu entnehmender Beweggrund. Aus der Versicherung des geschiedenen Mannes sollen diejenigen Frauen einen Ausgleich erhalten, die während der Ehe wegen der Erziehung oder der Sorge für ein waisenrentenberechtigtes oder behindertes Kind oder wegen vorgerückten Lebensalters an einer Berufstätigkeit gehindert waren, also insoweit für die Wechselfälle des Lebens nicht selbst Vorsorgen konnten und nunmehr, solange sie berufs- oder erwerbsunfähig sind oder ein Kind betreuen oder nachdem sie das 60. Lebensjahr vollendet haben, nicht mehr voll arbeiten können (BSGE 38, 269, 271; 42, 156, 158), Die neuen Akzente in § 1265 Satz 2 RVO haben der 1. und der 11. Senat des BSG (BSGE aaO) überzeugend auf den Einfluß der Eherechtsreform zurückgeführt (die Reformdiskussion setzte Ende 1969 ein, Hirsch, ZRP 1971, 82; zur Vorwirkung von Gesetzentwürfen: Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, 19 f, 37). Der inhaltliche Einfluß dieses Reformvorhabens auf Satz 2 Nrn 2 und 3 des § 1265 RVO ist unverkennbar und naheliegend, weil beide Gesetze in Zukunft nebeneinander gelten sollten (dazu der Abgeordnete Dr. Schellenberg bei der 3. Beratung des Entwurfs zum RRG am 21. September 1972, Deutscher Bundestag, 6. WP, S. 11711 B: „noch vor der Eherechtsreform”; hierzu auch Kloepfer aaO, 177 f.). Die Nummern 2 und 3 des § 1265 RVO entsprechen den unterhaltsrechtlichen Regelungen der §§ 1569 ff BGB in der Fassung des 1. EheRG vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421), insbesondere dem Unterhaltsanspruch wegen Betreuung eines Kindes (§ 1570), wegen Alters (§ 1571) und wegen Krankheit (§ 1572). Sie lassen hier wie dort schon in ihrer äußeren Normgestaltung einen ähnlichen Villen erkennen. Die ehebedingte Unterhaltsbedürftigkeit wird nicht mehr, wie noch durch das RVÄndG, in einer Generalklausel umschrieben, sondern in mehreren genauer umgrenzten Tatbeständen aufgeführt (vgl. Rechtsausschußbericht, BT-Drucks 7/4361 vom 28.11.1975, S 16).
Sie verdeutlichen die Erwägung, daß der geschiedene Ehegatte nicht lediglich unter dem Gesichtspunkt der fortwirkenden Unterhaltsverpflichtung in den rentenversicherungsrechtlichen Schutz einbezogen sein soll. Vielmehr soll der Aufgabenverteilung zwischen den Ehegatten während der Ehe Rechnung getragen werden. Haushaltsführung und Kinderbetreuung sollen der Erwerbstätigkeit des Verdieners gleichgestellt werden, § 1265 Satz 2 RVO wird nunmehr von zwei unterschiedlichen Grundkonzeptionen beherrscht. Zum einen soll, wie der einleitende Teil des § 1265 Satz 2 RVO („Ist eine Witwenrente nicht zu gewähren …”) zeigt, die „echte” Witwe vor einer Benachteiligung bewahrt bleiben (zu BT-Drucks IV/3233 S 6; Pappai, BArbBl 1966, 23, 25, 27). Vor dem Tode des Versicherten standen die Unterhaltsansprüche einer neuen und der geschiedenen Ehefrau im gleichen Rang (Hoffmann/Stephan, EheG, Komm 1968, Randziff. 30 und 31 zu § 59 im Anschluß an RGZ 75, 433, 435; OLG München NJW 1954, 1730), Der Gleichrangigkeit entspricht die Aufteilung der Hinterbliebenenrenten nach der jeweiligen Ehedauer (§ 1268 Abs. 4 Satz 1 RVO). – Zum anderen kündigt sich die Wertung des EheRG bereits positivrechtlich an. Das Reformbestreben ist von der Absicht geleitet 9: dem „Unterhaltsanspruch eines geschiedenen Ehegatten … grundsätzlich Vorrang vor dem eines neuen Ehegatten” einzuräumen (Zweiter Bericht des Rechtsausschusses des Bundestags, BT-Drucks 7/4361 – Vorblatt S 2). An dieser Kursänderung nimmt die Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO zwar noch nicht teil. Das Witwenprivileg bleibt unberührt. Der Reformwille schlägt sich aber doch – wie ausgeführt – in Einzelregelungen dieser Vorschrift nieder. Alter und neuer Leitgedanke – Unterhaltsersatzfunktion und Ausgleich für ehebedingten Versorgungsausfall – regieren beide, jedenfalls soweit sie einander nicht widersprechen, die Auslegung des § 1265 Satz 2 RVO. Hierbei fällt ins Gewicht, daß gegenüber der geschiedenen Frau die Unterhaltsersatzfunktion und zugleich die am Scheidungsverschulden orientierte Lösung in ihren Anwendungsfeldern auf einen Restbestand zurückgedrängt sind. Damit kam der Gesetzgeber einer Anschauung entgegen, die für die rentenversicherungsrechtliche Position der geschiedenen Frau den „moralischen Aspekt” als unannehmbar ansah (vgl. Langkeit, Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag, 1968, F 96, 97 f.). In den Vordergrund tritt heute das gesetzgeberische Interesse an der sozialen Sicherung der Frau, die wegen ihrer Aufgaben als Hausfrau und Mutter ihre eigene Vorsorge hatte vernachlässigen müssen und auch später gehindert ist, sich um ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit zu bemühen. Bei diesem Stand der Gesetzesentwicklung erscheint eine Interpretation angebracht, welche dem Grad des Scheidungsverschuldens eine nur nachgeordnete Bedeutung beimißt. Dies spricht dafür, den Fall des Unterhaltsbeitrags bei beiderseits gleichverschuldeter Scheidung in die Regelung des § 1265 RVO und besonders in die des Satzes 2 dieser Vorschrift einzubeziehen.
6. Der 4. Senat erblickt im Verhältnis von § 1265 Satz 2 RVO zu § 60 EheG eine Unstimmigkeit. Die eine Vorschrift unterbinde, was die andere notwendig gebiete. Richtig ist, daß § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO die Fragen nach der Fähigkeit des Versicherten zur Unterhaltsleistung und – soweit es um das Erwerbseinkommen der früheren Ehefrau geht – nach ihrer Bedürftigkeit nicht stellt. Die Antworten auf beide Fragen sind aber für die konsequente Anwendung des § 60 EheG unerläßlich. Diese Vorschrift begnügt sich nicht damit, präzise Tatbestände als Voraussetzungen ihrer Rechtsfolge aufzustellen. Vielmehr gibt sie sowohl das Ob-überhaupt als auch das Wie, die Höhe und die Dauer des Unterhaltsbeitrags der richterlichen Zumessung nach einer weitverzweigten Sachaufklärung und Sachwürdigung anheim. Ohne Abwägung aller für die richterliche Billigkeitsentscheidung maßgebenden Momente ist die Existenz eines Anspruchs auf Unterhaltsbeitrag nicht abzusehen und nicht vorauszuberechnen. Die Anspruchsermittlung würde jedoch vereitelt, wenn – wie es § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO vorsieht – wesentliche Teile des nach § 60 EheG zu bewertenden Sachverhalts außer acht bleiben oder fingiert werden müßten.
Dies zwingt indes nicht zu dem Schluß, § 60 EheG müsse bei der Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO ausgenommen sein. Es ist die Eigenart der letztgenannten Bestimmung, daß wesentliche Bereiche der Wirklichkeit außer acht bleiben. Deshalb wird die Sachverhaltserforschung nicht nur im Zusammenhang mit dem ehegesetzlichen Unterhaltsbeitrag abgeschnitten, wenn dies auch dort besonders auffällig in Erscheinung tritt. Außerdem darf nicht Übersehen werden, daß der Richterspruch nach § 60 Satz 1 EheG sich von sonstigen richterlichen Entscheidungen in Unterhaltssachen nicht unterscheidet. Wie sonst ist auch das – den Beitrag „zubilligende” – Urteil ein Akt richterlicher Erkenntnis und nicht eine Tatbestands- oder Rechtsfolgengestaltung (BGH LM Nr. 1 zu § 60 EheG). Billigkeitsüberlegungen fließen hier wie dort in die konkrete Rechtsfindung ein (dazu neben § 60 Satz 1 auch § 59 Abs. 1 Satz 1 EheG). Das Abwägen gegeneinanderstehender Interessen, einschließlich solcher unterhaltsberechtigter oder unterhaltspflichtiger Verwandter, kann durch Fiktion von Tatbestandsteilen erschwert sein; möglicherweise wird dadurch die Einzellösung aber auch erleichtert (vgl. BSGE 42, 56, 58 f.). Ein durchschlagendes Argument ist sonach in der besprochenen Normenverschiedenheit nicht zu sehen.
7. Der 4. Senat des BSG hat in SozR 2200 § 1265 Nr. 21 gemeint, die Auslegung, die er dem Begriff „Unterhaltsverpflichtung” in § 1265 Satz 2 RVO gegeben habe, sei vom Gesetzgeber „gebilligt” worden; denn dieser habe bei der Gesetzesänderung – gemeint ist die Verabschiedung des RRG – in Kenntnis der Rechtsprechung an dem Begriff festgehalten.
Dem ist nicht beizutreten. Schon die in Frage kommenden Daten lassen den Zweifel darüber aufkommen, ob der Gesetzgeber die Begriffserklärung durch den 4. Senat gekannt hat. Das in Rede stehende, in SozR Nr. 63 zu § 1265 RVO veröffentlichte Urteil erging ohne mündliche Verhandlung am 28. Juni 1972, Den Beteiligten wurde es am 28. Juli 1972 zugestellt. Erst danach war es der Öffentlichkeit zugänglich. Der Antrag, der zur jetzigen Fassung des Gesetzes führte, wurde am 21. September 1972 – während der 3. Lesung des RRG-eingebracht. Die Kürze der Zwischenzeit, die außerdem in die Parlamentsferien fiel, läßt kaum den Schluß zu, die einschlägige Rechtsprechung sei rechtzeitig und ausreichend ins Bewußtsein der an der Gesetzgebung beteiligten Personen gedrungen. Gegen eine solche Folgerung wird ohnehin eingewandt, man dürfe bei den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften die juristische Detailkenntnis von älteren Entscheidungen nicht überschätzen (Grünwald JZ 1968, 752, 753). Jedenfalls kann ein Schweigen des Gesetzgebers ebenso als Zustimmung oder Duldung wie als Ausklammerung gelten (RGZ 162, 244, 256; Flume, Verhandlungen des 46. DJT 1966, II K 22 f.). Anders ist es nur, wenn es auf eine erschöpfende Regelung aller mit der Gesetzesänderung verbundenen Rechtsfolgen abgesehen war und wenn die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten erkennbar eine deutliche Vorstellung von einer bestimmten Auslegungspraxis hatten. Darauf darf jedoch nur gebaut werden, wenn ein Gesetz seit längerem, in ständiger Übung einheitlich erläutert worden ist (BVerfG NJW 1966, 295, 296; 1967, 197, 198; BSGE 20, 233, 237 f.; 33, 112, 115; BVerwG NJW 1967, 946 f.; Buchholz Nr. 47 zu 421.0 Prüfungswesen; BAG DB 1974, 1071; ferner für eine im Zweifel der Tradition folgende Gesetzesanwendung: Hruschka, Festschrift für Larenz, 1973, 181, 186 ff, 192 f.). So war es hier nicht. Die Meinungen in der erwähnten Auslegungsfrage waren geteilt (vgl. Tümmler, Diskussionsbeitrag auf der Regionaltagung des Deutschen Sozialgerichtsverbandes in Hamburg am 20. und 21. Oktober 1966; in: Ehe und Familie im Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht, 1967, 182 f.). Außerdem war abzuwarten, ob und wie die gefundene Lösung sich zur Interpretation des sinnverwandten Satzes 1 des § 1265 RVO verwenden ließ (BSG SozR Nr. 29 zu § 1265 RVO). Jedenfalls hatte sich durch die einzelne, erst kurze Zeit zurückliegende Entscheidung die Rechtsanwendung noch nicht so festigen können, daß eine ausdrückliche Gesetzesänderung, wenn sie gewollt gewesen wäre, hätte erwartet werden können.
IV.
Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, daß der Begriff der Unterhaltsverpflichtung in § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO sich mit der Klausel in Satz 1 aaO „Unterhalt nach den Vorschriften des EheG” inhaltlich deckt. Dieser Begriff und diese Klausel erfassen die Pflicht zum Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG.
Fundstellen