Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Bindung an die Zulassung der Berufung
Orientierungssatz
Das LSG ist an seine eigene Entscheidung, die Berufung zuzulassen, gebunden, auch wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht übersteigt. Die zugelassene Berufung darf deshalb nicht aus diesem Grund als unzulässig verworfen werden, sondern es hat vielmehr eine vollständige Überprüfung im Berufungsverfahren stattzufinden.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 144 Abs. 3
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Beschluss vom 29.04.2016; Aktenzeichen L 4 SO 80/14 ZVW) |
SG Gießen (Urteil vom 27.03.2012; Aktenzeichen S 20 SO 50/08) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. April 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit ist die Höhe von Ansprüchen des Klägers nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Der prozessunfähige Kläger bezieht laufend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen). Er begehrt von dem Beklagten im vorliegenden Verfahren höhere Leistungen für die Zeit vom 1.7.2007 bis zum 30.6.2008. Seine Anträge und die Klagen, die das Sozialgericht (SG) Gießen verbunden hat, hatten keinen Erfolg (Urteil des SG vom 27.3.2012). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers die Berufung zugelassen (Beschluss vom 5.7.2012) und seine Berufung sodann als unzulässig verworfen, weil er partiell prozessunfähig sei (Urteil vom 26.9.2012). Diese Entscheidung (verbunden mit weiteren 13 Verfahren) hat der Senat aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgesehen habe (Beschluss vom 8.4.2014 - B 8 SO 47/13 B). Im Berufungsverfahren hat das LSG die Verfahren wieder getrennt und Justizinspektor S zum besonderen Vertreter bestellt und die Berufung als unzulässig verworfen (Beschluss vom 29.4.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Berufung sei unzulässig. Der für die Zeit vom 1.7.2007 bis 30.6.2008 vom Kläger geltend gemachte Beitrag betrage nur 29,52 Euro (Jahresbeitrag zum Allgemeinen Automobilclub Deutschland <ADAC>) sowie monatliche Versicherungsbeiträge zur Rechtsschutzversicherung des ADAC in Höhe von insgesamt 81,96 Euro (12 mal 6,83 Euro); der Wert des Beschwerdegegenstandes erreiche damit die Grenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht.
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss und macht geltend, das LSG habe die Sache nicht mehr als unstatthaft verwerfen dürfen, weil es die Berufung zuvor selbst durch Beschluss nach § 144 Abs 1 Satz 1 SGG zugelassen habe. Auf diesem Verfahrensmangel könne der Beschluss auch beruhen. Das LSG habe den Streitgegenstand unzulässig auf die Leistungshöhe nur unter Berücksichtigung des Mitgliedsbeitrags zum ADAC und die Beiträge zur Rechtsschutzversicherung des ADAC beschränkt. Bei zutreffender Auslegung des Klagebegehrens und nach Erteilung entsprechender Hinweise habe aber eine vollständige Überprüfung des Bedarfs des Klägers und des zu berücksichtigenden Einkommens zu erfolgen. Diese Prüfung habe das LSG bezogen auf den streitbefangenen Zeitraum nach wie vor nicht durchgeführt; auch die in Bezug genommene Entscheidung im Parallelverfahren (L 4 SO 86/14 ZVW) enthalte diese Prüfung nicht. Es sei aber nicht auszuschließen, dass sich nach umfassender Prüfung ein Anspruch auf höhere Leistungen ergebe.
II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Da der gerügte Verfahrensmangel auch vorliegt, konnte der angefochtene Beschluss gemäß § 160a Abs 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Das LSG hat zu Unrecht ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlassen. Es war an seine eigene Entscheidung gebunden, die Berufung zuzulassen, obwohl der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht überstieg. Es durfte deshalb die zugelassene Berufung nicht aus diesem Grund als unzulässig verwerfen (vgl § 144 Abs 3 SGG). Die Zulassungsentscheidung eröffnet vielmehr eine vollständige Überprüfung im Berufungsverfahren.
Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 18 mwN). Eine Sachprüfung wegen des streitbefangenen Zeitraums hat das LSG nach wie vor nicht durchgeführt. Es ist dabei im Streit um die Höhe der Leistungen nicht auf die Überprüfung unter den vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkten beschränkt; die Pflicht zur Überprüfung besteht vielmehr unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten, worauf der Klägerbevollmächtigte zutreffend hinweist. Diese Prüfung lässt der Beschluss des LSG nicht im Ansatz erkennen, sodass schon angesichts der fehlenden Feststellungen ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen ist.
Das LSG wird abschließend ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 11773844 |
NZS 2018, 751 |