Leitsatz (amtlich)

Eine Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, wenn im Falle der Zulassung der Revision das Revisionsgericht über eine an sich klärungsbedürftige Frage des sachlichen Rechts deswegen nicht entscheiden könnte, weil dem ein in der Revisionsinstanz fortwirkender und von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel entgegensteht.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 06.12.1979; Aktenzeichen L 5 A 102/78)

SG Koblenz (Entscheidung vom 30.08.1978; Aktenzeichen S 5 A 24/78)

 

Gründe

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 6. Dezember 1979 ist teils unzulässig, teils unbegründet.

Auf die Beschwerde ist die Revision zuzulassen, wenn - von dem hier nicht geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) abgesehen - die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, wobei der geltend gemachte Verfahrensmangel ua nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). In der Begründung der Beschwerde muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Der Kläger erblickt eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darin, daß über die durch § 16 des Sozialgesetzbuchs, Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB 1) vom 11. Dezember 1975 (BGBl I S 3015) normierten "gewissen Rechtsgrundsätze zur Antragstellung" hinaus "höchstrichterliche Leitlinien im Hinblick auf die Frage, welche Anforderungen an formlose Anträge zu stellen sind und welche Bedeutung ihnen im Hinblick auf Rechtsfolgen zukommt, die der Antragsteller nicht beabsichtigt hat und auch nicht billigt", fehlten. Es kann auf sich beruhen, ob - wie dies für die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde erforderlich ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) - mit dieser Formulierung die zu entscheidende Rechtsfrage klar bezeichnet und ferner ersichtlich gemacht worden ist, weshalb ihrer Klärung eine grundsätzliche Bedeutung zukommt (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 17). Jedenfalls ist in diesem Umfange die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet.

Daß die vom Beschwerdeführer aufgezeigte Rechtsfrage der Klärung durch höchstrichterliche Entscheidung bedarf, verleiht für sich allein der Rechtssache noch keine grundsätzliche Bedeutung. Zu der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage muß deren Klärungsfähigkeit hinzutreten. Das Revisionsgericht muß nach und aufgrund der Zulassung der Revision in der Lage sein, über die klärungsbedürftige Rechtsfrage auch sachlich entscheiden zu können. Nur unter dieser Voraussetzung ist die angestrebte Entscheidung geeignet, bezüglich der klärungsbedürftigen Rechtsfrage die Rechtseinheit zu wahren oder zu sichern oder die Fortbildung des Rechts zu fördern (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 7 und 31). Ist dem Revisionsgericht hingegen - etwa wegen Irrevisibilität des maßgebenden Rechts (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 160 Nr 10) oder aus prozessualen Gründen - eine Sachentscheidung von vornherein verwehrt, so fehlt es an der erforderlichen Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage mit dem Ergebnis, daß trotz ihrer Klärungsbedürftigkeit der Rechtssache eine grundsätzliche Bedeutung nicht zukommt.

Das gilt auch vorliegend. Im Falle der Zulassung der Revision wäre der Senat an einer sachlichen Entscheidung über die nach Meinung des Klägers klärungsbedürftigen Rechtsfragen gehindert. Einer Sachentscheidung würde nämlich ein von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel entgegenstehen. Schon die Berufung des Klägers ist - was sowohl das Sozialgericht (SG) in der seinem Urteil vom 30. August 1978 beigegebenen Rechtsmittelbelehrung als auch das LSG bei seiner Sachentscheidung übersehen haben - unzulässig gewesen. Sie betrifft Rente für einen abgelaufenen Zeitraum und ist damit nicht zulässig (§ 146 SGG). Der Kläger vertritt - insbesondere wegen der Konsequenzen hinsichtlich seiner Beitragspflicht zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) - die Ansicht, sein Schreiben vom 20. April 1976 dürfe nicht als Rentenantrag angesehen werden; dieser sei erst in dem am 23. November 1976 bei der Beklagten eingegangenen Formblattantrag enthalten. Er erstrebt somit eine Zurückverlegung des Rentenbeginns vom 22. April 1976 (Eingang des Schreibens vom 20. April 1976 bei der Beklagten) auf den 23. November 1976. Der von diesen Daten bestimmte Zeitraum war in dem insofern maßgebenden Zeitpunkt des Eingangs der Berufung bereits verstrichen. Die Berufung hat somit lediglich Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betroffen. Ihre hieraus resultierende Unzulässigkeit hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten. Die Zulässigkeit der Berufung gehört zu den unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen, die in jedem Stadium des Verfahrens und demnach im Rahmen einer zulässigen Revision auch vom Revisionsgericht zu beachten sind, ohne daß der Revisionsgegner den Verfahrensmangel ausdrücklich rügen müßte (BSGE 21, 292, 294; BSG SozR 1500 § 147 Nr 2 S 2; jeweils mwN). Im Falle ihrer Zulassung (und prozeßordnungsgemäßen Einlegung und Begründung) müßte der Senat die Revision des Klägers schon deswegen zurückweisen, weil seine Berufung unzulässig gewesen ist. Eine Entscheidung über die nach seiner Meinung klärungsbedürftigen sachlich-rechtlichen Fragen käme nicht in Betracht. Damit fehlt der Rechtssache eine grundsätzliche Bedeutung.

Soweit der Kläger als Zulassungsgrund einen Verfahrensmangel durch Verletzung des § 106 SGG geltend macht, ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig. Der Kläger hat einen Verfahrensmangel nicht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Sein Vorbringen, das Schreiben vom 20. April 1976 habe nicht zwingend als Rentenantrag und schon gar nicht als Antrag auf Beginn der Mitgliedschaft in der KVdR angesehen werden müssen, ist unerheblich. Die Auslegung einer Willenserklärung des Versicherten obliegt im Rahmen des ihnen nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zustehenden Rechtes der freien Beweiswürdigung den Tatsachengerichten. Auf eine Verletzung dieser Vorschrift kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Im übrigen läßt der Kläger außer acht, daß § 106 Abs 1 SGG sich ausschließlich auf das gerichtliche Verfahren bezieht und den Vorsitzenden lediglich verpflichtet, auf die Stellung sachdienlicher Anträge im Gerichtsverfahren hinzuwirken. Daß und mit welcher Begründung sich aus der Vorschrift eine Verpflichtung des Vorsitzenden herleiten läßt, einen Beteiligten zur Modifizierung oder Berichtigung seiner in dem vor Klageerhebung durchgeführten Verwaltungsverfahren gestellten Anträge zu veranlassen, ist dem Vorbringen des Klägers nicht zu entnehmen.

Die Beschwerde ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 363

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