Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Verweisung auf Arbeitsplätze, die mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch ausgefüllt werden können. Vorlage an den Großen Senat
Orientierungssatz
Dem Großen Senat werden gem § 43 SGG folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Ist es dafür, ob ein Versicherter erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO ist, erheblich, ob Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten), die er mit seiner ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind?
2. Im Falle der Bejahung der Frage zu 1.:
Ist es erheblich, in welcher Zahl solche Arbeitsgelegenheiten vorhanden sind?
3. Im Falle der Bejahung der Frage zu 2.:
Darf der Versicherte auf solche Arbeitsgelegenheiten nur dann verwiesen werden, wenn sie in (zumindest) nennenswerter oder mehr als nur bedeutungsloser oder nicht ganz unerheblicher Zahl oder aber in ausreichender oder genügender oder praktisch ins Gewicht fallender Zahl vorhanden sind?
4. Im Falle der Bejahung der Frage zu 3.:
Nach welchen Grundsätzen oder Maßstäben ist die erforderliche Zahl näher zu bestimmen?
5. Im Falle der Bejahung der Fragen zu 1., 2. oder 3.:
Müssen die Arbeitsgelegenheiten am Wohnort des Versicherten bzw in dessen näherer täglich zu erreichender Umgebung vorhanden sein?
6. Ist es zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken?
Oder bedarf es wegen des vom Gesetzgeber des § 1247 Abs 2 RVO im Einklang mit der sozialen Wirklichkeit vorausgesetzten Vorhandenseins von Arbeitsgelegenheiten jedweder Art keiner Feststellung darüber, daß der Versicherte die ihm verbliebene Leistungsfähigkeit in einer Arbeitsgelegenheit verwerten kann?
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2; SGG § 43
Tenor
Dem Großen Senat werden gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt.
I
1) Ist es dafür, ob ein Versicherter erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ist, erheblich, ob Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten) die er mit seiner ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind?
2) Im Falle der Bejahung der Frage zu 1):
Ist es erheblich, in welcher Zahl solche Arbeitsgelegenheiten vorhanden sind?
3) Im Falle der Bejahung der Frage zu 2):
Darf der Versicherte auf solche Arbeitsgelegenheiten nur dann verwiesen werden, wenn sie in (zumindest) nennenswerter oder mehr als nur bedeutungsloser oder nicht ganz unerheblicher Zahl oder aber in ausreichender oder genügender oder praktisch ins Gewicht fallender Zahl vorhanden sind?
4) Im Falle der Bejahung der Frage zu 3):
Nach welchen Grundsätzen oder Maßstäben ist die erforderliche Zahl näher zu bestimmen?
5) Im Falle der Bejahung der Fragen zu 1), 2) oder 3):
Müssen die Arbeitsgelegenheiten am Wohnort des Versicherten bzw. in dessen näherer täglich zu erreichender Umgebung vorhanden sein?
6) Ist es zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken?
II
Oder bedarf es wegen des vom Gesetzgeber des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung im Einklang mit der sozialen Wirklichkeit vorausgesetzten Vorhandenseins von Arbeitsgelegenheiten jedweder Art keiner Feststellung darüber, daß der Versicherte die ihm verbliebene Leistungsfähigkeit in einer Arbeitsgelegenheit verwerten kann?
Gründe
I
Der im Jahre 1900 geborene Kläger ist gelernter Schlosser. Die Beklagte gewährt ihm auf Grund des Bescheides vom 1. Februar 1962 Rente wegen Berufsunfähigkeit; er begehrt stattdessen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. März 1963). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben, den Bescheid der Beklagten geändert und diese verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. September 1961 an zu gewähren; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 31. Januar 1964). Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger noch leichte Männerarbeiten überwiegend im Sitzen für höchstens drei Stunden täglich verrichten. Es hat die Auffassung vertreten, die Möglichkeit, Einkommen zu erzielen, setze das Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze voraus. Daß es für den Kläger Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gebe, hat das LSG nicht feststellen können.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) rügt. Sie meint, von ausschlaggebender Bedeutung bleibe die Frage, ob der Versicherte gesundheitlich noch in der Lage sei, leichte Männerarbeiten in gewissem Umfange zu verrichten. Sei dies zu bejahen und verfüge der Arbeitsmarkt grundsätzlich über entsprechende Arbeitsplätze, so könnten die Voraussetzungen des § 1247 Abs. 2 RVO nicht als erfüllt angesehen werden. Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Berlin vom 31. Januar 1964 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 27. März 1963 zurückzuweisen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
1) Nach § 43 SGG kann der erkennende Senat in einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen, wenn nach seiner Auffassung die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordert. Daß alle in der Beschlußformel enthaltenen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung haben, bedarf keiner näheren Begründung. Der erkennende Senat ist aber auch der Auffassung, daß die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordert, daß der Große Senat über die genannten Fragen - von deren Beantwortung auch die Entscheidung in der vorliegenden Sache abhängt - entscheidet.
2) Daß die Rechtsprechung der SG und LSG zu den vorgelegten Rechtsfragen uneinheitlich ist, zeigen schon die Urteile, die in der vorliegenden Sache und in den fünf anderen Sachen ergangen sind, in denen der erkennende Senat in seiner Sitzung vom 25. Juli 1968 dem Großen Senat dieselben Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt hat. Von diesen insgesamt sechs Sachen mit je zwei Urteilen von SG und LSG betreffen fünf männliche Versicherte; nur in einem Falle (12 RJ 10/65) ist die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit einer Versicherten streitig. Im folgenden werden die unterschiedlichen Auffassungen der in Betracht kommenden Instanzgerichte getrennt nach Männern und Frauen dargestellt, wobei zwar die Daten der jeweiligen Urteile, nicht aber deren Aktenzeichen, wohl aber diejenigen der Revisionen angegeben werden:
Männer :
Das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit bejahend:
LSG Berlin, Urteil vom 31. Januar 1964, (12 RJ 174/64):
Das LSG hält den Kläger (geboren 1900, gelernter Schlosser, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der leichte Männerarbeiten überwiegend im Sitzen höchstens drei Stunden täglich ausführen kann, für erwerbsunfähig. Zwar könne der Kläger mit drei Arbeitsstunden täglich mehr als 1/5 des Tageslohnes eines vergleichbaren Arbeiters verdienen, jedoch setze die Möglichkeit, Einkommen zu erzielen, das Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze voraus. Für den in seiner Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigten Kläger gebe es in Berlin nach den Auskünften der Direktoren der Arbeitsämter II und III Berlin, der Zentralstelle der Berliner Arbeitgeberverbände und des Gewerbeaufsichtsamts Berlin und dem Monatsbericht des Landesarbeitsamts Berlin vom 30. September 1962 sowie nach den den Berufsrichtern des LSG anläßlich von Betriebsbesichtigungen (z. B. bei Osram, Schering und Borsig) gegebenen Auskünften keine Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl. Die wenigen möglicherweise vorhandenen Arbeitsplätze würden entweder nicht vermittelt oder seien nicht bekannt oder stünden nur langjährigen Betriebsangehörigen oder Schwerbeschädigten zur Verfügung, nicht aber dem freien Wettbewerb der Arbeitnehmer. Daß weder das Arbeitsamt noch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Auskünfte über Arbeitsplätze mit täglichen Arbeitszeiten von zwei bis drei Stunden geben könnten, habe die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin selbst betont. Da die Beklagte mit ihrer Behauptung, es gebe für den leistungsgeminderten Kläger noch hinreichende Arbeitsplätze in Berlin, die Ablehnung des sonst berechtigten Rentenanspruchs begründen wolle, gingen die Folgen davon, daß sich dies nicht habe feststellen lassen, zu ihren Lasten.
SG Duisburg, Urteil vom 24. Februar 1964, (12 RJ 18/66):
Nach umfangreichen Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsgelegenheiten hat das SG dem Kläger (geboren 1901, zuletzt Vorzeichner, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), den es für fähig erachtet hat, noch leichte Arbeiten vier bis fünf Stunden täglich in staubfreien Betrieben auszuführen, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannt, weil Arbeitsplätze für Teilzeitbeschäftigte, deren Anforderungen der Kläger noch erfüllen könne, in Oberhausen, dem Wohnort des Klägers, und in der Umgebung von Oberhausen nicht vorhanden seien.
LSG Nordrhein-Westfalen, 3. Senat, Urteil vom 16. September 1964, (12 RJ 580/64):
Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger (geboren 1908, gelernter Former, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit) noch leichte körperliche und geistig anspruchslose Männerarbeiten vorwiegend im Sitzen bis zu 5 Stunden arbeitstäglich verrichten. Zwar könne der Kläger, rein zeitlich gesehen, noch entsprechende Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes z. B. als Stanzer, Montierer, Verpacker oder Sortierer in gewisser Regelmäßigkeit bis zu fünf Stunden arbeitstäglich leisten, jedoch reiche die rein theoretische Feststellung, der Versicherte könne nach den ärztlichen Beurteilungen noch fünf Stunden erwerbstätig sein, zur Annahme der Erwerbsfähigkeit nicht aus, wobei unter Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit zu verstehen sei, die vorhandene Arbeitskraft durch eine auf Gewinn abzielende Tätigkeit zu nutzen. Ob der Versicherte bestimmte Tätigkeiten noch leisten bzw. ob er auf sie verwiesen werden könne, dürfe nicht nur medizinisch geprüft werden, sondern es müsse auch - wie in BSG 19, 147 verlangt - feststehen, daß es entsprechende Arbeitsplätze in ausreichender Zahl gebe. Teilzeitbeschäftigungen für männliche Arbeitskräfte mit der eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Klägers (Denkverlangsamung, Konzentrationsminderung, Reproduktionsschwäche und leichte Störung der Merkleistungen) seien nach den Auskünften verschiedenster Branchen, Dachorganisationen und Behörden in der Regel nicht in ausreichender Zahl vorhanden oder würden, wenn sie in Ausnahmefällen eingerichtet seien, alten Betriebsangehörigen vorbehalten.
SG Duisburg, Urteil vom 16. März 1966, (12 RJ 140/67):
Das SG gibt an, der Rechtsprechung des BSG zu folgen und lehnt vornehmlich die dagegen gerichtete Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen, 14. Senat (vgl. 12 RJ 18/66), ab. Es hält den Kläger (geboren 1908, zuletzt Hilfsarbeiter, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der noch leichte körperliche, überwiegend im Sitzen zu verrichtende Tätigkeiten ohne geistige Anforderungen in geschlossenen Räumen bis zu vier Stunden täglich ausführen könne, für erwerbsunfähig.
Das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit verneinend:
SG Berlin, Urteil vom 27. März 1963, (12 RJ 174/64):
Das SG hat dem Kläger (geboren 1900, gelernter Schlosser, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der nach der medizinischen Beurteilung nur noch leichte Männerarbeiten vorwiegend im Sitzen für drei Stunden täglich verrichten kann, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit versagt, ohne die Frage nach dem Vorhandensein von Arbeitsplätzen aufzuwerfen und zu prüfen.
SG Düsseldorf, Urteil vom 15. Oktober 1963, (12 RJ 580/64):
Auch dieses SG ist bei der Prüfung, ob der Kläger (geboren 1908, gelernter Former, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der an einem vorzeitig einsetzenden cerebralen Abbauprozeß auf wahrscheinlich arteriosklerotischer Grundlage, leichter Merkschwäche, physischer Verlangsamung, neurotischer Fixierung internistischer Krankheitsvorgänge, einem Bandscheibenschaden der Halswirbelsäule und einer neuro-vegetativen Übererregbarkeit leidet, erwerbsunfähig ist, nicht darauf eingegangen, ob es für einen so in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkten Versicherten Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt. Es hat den Kläger deshalb nicht für erwerbsunfähig erklärt, weil dessen gesundheitliche Schäden nicht so erheblich seien, daß er nicht doch noch ohne besondere Gefährdung seiner Gesundheit leichte Arbeiten im Sitzen bzw. im Sitzen im Wechsel mit Stehen, im Freien und in geschlossenen Räumen fortgesetzt in einem zeitlichen Umfang von vier bis fünf Stunden täglich verrichten könnte.
SG Gelsenkirchen, Urteil vom 5. Juli 1966, (12 RJ 178/67):
Das SG hat sich ebenfalls auf die Prüfung der medizinischen Seite des Falles beschränkt. Der Kläger (geboren 1911, Presseschmied, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit) könne bei nicht zu langer Anfahrt noch täglich drei bis vier Stunden eine leichte Arbeit unter Witterungsschutz, möglichst im Sitzen, verrichten. Zu prüfen, ob es solche Arbeitsplätze für Männer in nennenswerter Zahl gebe, hat das SG abgelehnt. Entgegen der Auffassung des BSG komme es bei der Prüfung der Frage, ob ein Versicherter erwerbsunfähig sei, nicht darauf an, in welcher Zahl dem eingeschränkten Leistungsvermögen des Versicherten entsprechende Arbeitsplätze vorhanden seien. Entscheidend sei nur die ursächliche Verknüpfung zwischen Gesundheitsstörungen und der Fähigkeit zum Ausüben einer Erwerbstätigkeit.
LSG Nordrhein-Westfalen, 14. Senat, Urteil vom 19. Oktober 1965 (12 RJ 18/66):
Das LSG hat den Kläger (geboren 1901, früher Vorzeichner, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der arbeitstäglich noch vier bis fünf Stunden im Sitzen, im Stehen oder im Umhergehen und ohne Unterbrechungen in staubfreien Betrieben ohne schweres Heben oder häufiges Bücken arbeiten kann (z. B. Kleinteile sortieren oder stanzen, Kontrollarbeiten ausführen, wobei ihm seine Erfahrungen als Vorzeichner zustatten kämen, Schlösser zusammensetzen, Schalttafeln überwachen, kleinere Gegenstände verpacken oder als Fahrradwächter oder als Wächter in Parkhäusern tätig sein) nicht für erwerbsunfähig gehalten. Es hat sich eingehend mit der Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt und sich dagegen ausgesprochen, daß eine ausdrückliche Feststellung dessen erforderlich sei, daß es Arbeitsplätze für die in Betracht kommenden Tätigkeiten, seien sie frei oder besetzt, in zumindest nennenswerter Zahl gebe (BSG: Urteil vom 15.3.1962 - 4 RJ 199/61 -, SozR Nr. 5 zu § 1247 RVO; Urteil vom 28.5.1963 - 12/4 RJ 142/61 -, BSG 19, 147; Urteil vom 23.6.1964 - 11/1 RA 84/63 -, SozR Nr. 8 zu § 1247 RVO; Urteil vom 4.11.1964 - 11/1 RA 287/62 -).
Das LSG wendet gegen die Rechtsprechung des BSG u. a. ein, es führe zu dem - nach seiner, des LSG, Auffassung - untragbaren Ergebnis, daß ungelernten Arbeitern zwar sofort Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren sei, während derjenige, der Kenntnis erworben habe, erst dann in den Genuß einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit komme, wenn er nicht oder fast nicht mehr arbeiten könne. Es könne nur auf eine ursächliche Verknüpfung zwischen Gesundheitsstörungen und der Fähigkeit zum Ausüben einer Erwerbstätigkeit ankommen, nicht aber darauf, ob Arbeitsplätze, die dem eingeschränkten Leistungsvermögen angepaßt sind, auch zur Verfügung stehen.
Wegen seiner Bedeutung für die Entscheidung der vorgelegten Rechtsfragen ist dieses Urteil, veröffentlicht in Breithaupt 1966, 224, in Abschrift als Anlage 1 beigefügt.
LSG Nordrhein-Westfalen, 14. Senat, Urteil vom 10. Februar 1967, (12 RJ 140/67):
Das LSG hält in diesem Fall (Kläger geboren 1908, zuletzt Hilfsarbeiter, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit) an der von ihm mit Urteil vom 19. Oktober 1965 (12 RJ 18/66; vgl. Anlage 1) eingeleiteten Rechtsprechung fest und nimmt gegen das zwischenzeitlich ergangene Urteil des 5. Senats des BSG vom 17 Dezember 1965 - 5 RKn 112/62 - (BSG 24, 181 = SozR RVO § 1246 Nr. 54 = § 1247 Nr. 12) folgendermaßen ablehnend Stellung:
"Soweit das BSG durch Urteil vom 17.12.1965 (Breithaupt 1966 S. 221) darauf hingewiesen hat, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit könnten wegen ihrer besonderen Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiete des Arbeitslebens unbedenklich und ohne Beweiserhebung die Feststellung treffen, Arbeitsplätze der hier in Betracht kommenden Art seien nicht nur in völlig unbedeutendem Umfang vorhanden, wird die grundsätzliche Meinung des Senats, daß es auf das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen nicht ankommt, nicht beeinflußt. Dabei kann unerörtert bleiben, welche Bedeutung dem Wechsel der Ansicht des BSG zukommt, das früher angenommen hat, Arbeitsplätze müßten in zumindest nennenswerter Zahl vorhanden sein, während es im Urteil vom 17.12.1965 meint, solche Arbeitsplätze dürften nicht nur in völlig unbedeutendem Umfang gegeben sein. Mit dieser Abschwächung von tatsächlichen Voraussetzungen ist das Problem jedoch nicht zu lösen, denn auch die Frage, ob es Arbeitsplätze bestimmter Art in nicht nur unbedeutendem Umfang gibt, ist aus den vom Senat im einzelnen im Urteil vom 19.10.1965 abgehandelten Gründen nicht beantwortbar.
Sie kann insbesondere nicht mit "besonderen Kenntnissen und Erfahrungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf dem Gebiete des Arbeitslebens" gelöst werden. Zwar bedürfen gemäß § 291 ZPO, der gemäß § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar ist, Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, keines Beweises. Zu diesen offenkundigen Tatsachen rechnen sowohl die allgemeinkundigen, die weite, verständige Kreise für feststehend halten, wie auch die gerichtskundigen Tatsachen, die der Richter kraft seines Amtes, sei es aus früheren Prozessen oder aus früheren Sachverständigengutachten kennt (vgl. Baumbach, Anm. 1 zu § 291 ZPO). Eine solche Offenkundigkeit liegt aber nicht vor, wie gerade die durchgeführten Ermittlungen ergeben haben, denn es besteht weithin Unsicherheit darüber, ob und in welchem Umfang die hier in Betracht kommenden Arbeitsplätze vorhanden sind.
Soweit das BSG mit dem Hinweis auf die "Erfahrungen" andeuten wollte, daß allgemeine Erfahrungssätze, die der Lebenserfahrung oder der Fachkunde entspringen, die Feststellung des Vorhandenseins der Arbeitsplätze erübrigen oder erleichtern könnten, muß wiederum auf das bereits Gesagte verwiesen werden. Darüber hinaus kann es sich bei den Erfahrungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht um die Kenntnisse eines Gerichts als einer Behörde, sondern immer nur um die Kenntnisse und Erfahrungen der Mitglieder der einzelnen Spruchkörper handeln. Daß dazu in den Tatsacheninstanzen außer den Berufsrichtern auch die ehrenamtlichen Beisitzer gehören, bedarf keiner Erörterung. Wohl aber ist in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll, daß die Erfahrungen der Berufsrichter sich erst nach kürzerer oder längerer Arbeit im Beruf bilden können und auch hier wieder davon abhängig sind, wie lange und auf welchen den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebieten der Richter tätig war, Außerdem können die (möglicherweise unterschiedlichen) Kenntnisse und Erfahrungen der Berufsrichter sich von denen der ehrenamtlichen Beisitzer deutlich unterscheiden, je nachdem, aus welchen Gebieten der entsprechende ehrenamtliche Beisitzer stammt und welche beruflichen Bindungen und Beziehungen er zu den aufzuwerfenden Fragen hat. Diese stark unterschiedlichen Erfahrungen und Kenntnisse aller zu einem Spruchkörper gehörenden Richter lassen es schon im allgemeinen zweifelhaft erscheinen, welches nun im einzelnen die entsprechenden besonderen Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiete des Arbeitslebens sind. Sie müssen aber sicher dann als Entscheidungsgrundlage außer Betracht bleiben, wenn die vom Senat in anderen Sachen und von den verschiedenen anderen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit durchgeführten Ermittlungen zu keinem konkreten Ergebnis geführt haben. ..."
LSG Nordrhein-Westfalen, 4. Senat, Urteil vom 9. März 1967, (12 RJ 178/67):
Das LSG hat es abgelehnt, dem Kläger (geboren 1911, Presseschmied, Empfänger von Rente wegen Berufsunfähigkeit), der noch mindestens drei Stunden arbeitstäglich leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen vorwiegend im Sitzen verrichten kann, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuzuerkennen. Auch dieser Senat des LSG Nordrhein-Westfalen lehnt die Rechtsprechung des BSG ab. Eine auszugsweise Abschrift der Entscheidungsgründe ist als Anlage 2 beigefügt (S. 9 bis 29).
Frauen :
SG Hamburg, Urteil vom 25. März 1963, (12 RJ 10/65):
Das SG hat den (Rentenentziehungs-) Fall (Klägerin geboren 1906, keinen Beruf erlernt) nur nach der medizinischen Seite geprüft und die Rentenentziehung für gerechtfertigt erklärt.
LSG Hamburg, Urteil vom 26. November 1964, (12 RJ 10/65):
In derselben Sache hat das LSG Hamburg den entgegengesetzten Standpunkt eingenommen. Es hat die Klägerin, die nur noch leichte manuelle Arbeiten vorwiegend im Sitzen auf die Dauer von vier bis sechs Stunden täglich in geschlossenen, trockenen und wohltemperierten Räumen und ohne Anforderungen an ein gesteigertes Arbeitstempo, nicht mit Bücken oder Heben und Tragen von Lasten verbunden, verrichten konnte, für erwerbsunfähig erklärt. Die Klägerin müsse sich zwar auf alle ungelernten Tätigkeiten einfacher Art verweisen lassen, zu deren Verrichtung sie imstande sei, jedoch könne sie zulässigerweise nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, für die ein im Wettbewerb zugängliches allgemeines Arbeitsfeld bestehe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme (Bekundungen eines berufskundlichen Sachverständigen, Monatsberichte des Arbeitsamtes Hamburg vom 29. Oktober 1964 und des Landesarbeitsamtes Schleswig-Holstein-Hamburg vom 6. November 1964, Auskünfte der Arbeits- und Sozialbehörde Hamburg vom 17. November 1964 und der Oberpostdirektion Hamburg vom 24. November 1964) gebe es zwar für weibliche Arbeitskräfte einen Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeiten, dieser stehe aber nur solchen weiblichen Arbeitnehmern offen, die während der verkürzten Arbeitszeit voll einsatzfähig seien. Die fortschreitende Automation habe viele Arbeitsplätze für einfache ungelernte Lohnarbeiten im Sitzen ohne körperliche Beanspruchung fortfallen lassen. Die wenigen zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze im Briefverteildienst der Bundespost mit überwiegend sitzender Tätigkeit blieben den dem Mutterschutzgesetz unterliegenden Arbeitskräften, den Schwerbeschädigten und langjährigen Mitarbeitern vorbehalten. Die Nachfrage nach Heimarbeiten übersteige das Angebot; beschäftigt werden könnten nur solche Heimarbeiterinnen, die eine möglichst große Arbeitsmenge pünktlich und sauber verarbeitet abzuliefern imstande seien. Die ohne Vermittlung des Arbeitsamts - etwa durch Zeitungsanzeigen - angebotenen Arbeitsplätze mit Teilzeitbeschäftigung stünden nur solchen Bewerberinnen offen, die innerhalb der verkürzten Arbeitszeit voll einsatzfähig seien. Mangels geeigneter Teilzeitarbeitsplätze bestehe für die Klägerin praktisch keine Möglichkeit mehr, auf dem Arbeitsmarkt mit dem verbliebenen Leistungsvermögen einen Erwerb zu erzielen, so daß sie entgegen der Auffassung der beklagten LVA Hamburg weiterhin erwerbsunfähig sei.
3) Soweit Entscheidungen der LSGe veröffentlicht sind, verstärken sie den Eindruck der Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung der Berufungsgerichte. Die LSGe haben sich zum Teil der Rechtsprechung des BSG angeschlossen, und zwar mit der Folge, daß sie die Revision nicht mehr zulassen, so daß derartige Urteile nur noch mit der Verfahrensrevision des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG angefochten werden können und auch angefochten worden sind, wie eine Reihe derartiger Revisionen zeigt. Andere LSGe haben jedoch der Rechtsprechung des BSG, nicht zuletzt wegen der nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten der Aufklärung dessen, ob Teilzeitarbeitsgelegenheiten vorhanden sind, die Gefolgschaft versagt, die Revision aber zugelassen. Die unterschiedliche Rechtsprechung der LSGe läßt sich durch folgende veröffentlichte Entscheidungen belegen, deren Leitsätze hier in der zeitlichen Reihenfolge der Entscheidungen wiedergegeben werden (bereits unter II 2 aufgeführte Entscheidungen sind in dieser Zusammenstellung nicht enthalten):
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Juli 1962, Breith. 1962, 1073, Revision: 1 RA 287/62:
EU-Rente steht einem Versicherten nicht zu, der noch 2-3 Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit mit gewisser Regelmäßigkeit nachgehen kann. Ob es ein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen für 2-3 ständige Tätigkeiten gibt, braucht nicht geprüft zu werden.
LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 8. Mai 1963, ZfS 1963, 409 Nr. 18, rechtskräftig:
Zur Frage der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit einer Typhus-Bakterienausscheiderin.
Die Beurteilung der Frage, ob Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, hängt von den zu ermittelnden Verhältnissen im Einzelfall ab. Dabei kann auch der praktische Ausschluß vom Arbeitsmarkt die Annahme der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit begründen.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 19. November 1963, Breith. 1964, 956, Revision wurde nicht zugelassen, rechtskräftig:
Zu der (EU-) Frage, ob für einen im nördlichen Niedersachsen wohnhaften männlichen Versicherten, der nur noch 3 bis 4 Stunden täglich Arbeiten "ohne irgendwelche körperliche Belastungen" verrichten kann, hinreichende Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 13. Januar 1964, Breith. 1964, 391 = Ns MinBl. 1964, Rechtsprechungsbeilage Nr. 5, S. 18; Revision wurde nicht zugelassen:
Ein Versicherter, dem nur noch drei Stunden täglich leichte Arbeit zuzumuten ist, ist eu, wenn es für ihn in unmittelbarer Nähe seines Wohnortes keine seinem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplätze, insbesondere auch nicht Heimarbeitsplätze, in nennenswertem Umfang gibt ....
LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Februar 1964, Breith. 1964, 728, rechtskräftig:
Erhält der Kläger im Laufe des Rechtsstreits anstelle der beantragten Rente wegen EU Altersruhegeld, so ist die Berufung unzulässig.
Ein wesentlicher Verfahrensmangel ist in diesen Fällen nicht deshalb gegeben, weil das SG es unterließ, für die Zeit vor Einweisung des Altersruhegeldes die Frage des Grenzfalles einer EU (3 bis 4 Stunden täglicher Arbeitsfähigkeit) durch Nachprüfung von Arbeitsgelegenheiten zu vertiefen.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 18. März 1964, Breith. 1964, 954, rechtskräftig:
Einem Versicherten, der nur noch für 2 bis 3 Jahre eine leichte Tätigkeit von 4 bis 6 Stunden täglich verrichten kann, ist ein Umzug aus seinem Eigenheim in der Regel nicht mehr zuzumuten.
Bei der Prüfung der Frage, ob er durch Aufnahme einer auswärtigen Arbeit mit wöchentl. Familienheimfahrt (sog. Wochenendpendeln) die Hälfte seines Vergleichslohnes verdienen könnte, sind von dem auswärts erzielbaren Bruttoverdienst die Aufwendungen für die getrennte Haushaltsführung (möbliertes Zimmer, Gasthausessen, Familienheimfahrten) abzuziehen. Als Erfahrungssätze für die durch getrennte Haushaltsführung entstehenden Mehrkosten können die im öffentlichen Dienst geltenden Sätze der Trennungsentschädigung herangezogen werden.
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26. Mai 1964, Breith. 1964, 959 = Mitt.Ruhrkn. 1965, 51, Revision: 5 RKn 111/64; Fassung des Leitsatzes in Breith. 1964, 959:
Ein Versicherter, der täglich 4 Std. leichte, nicht nur im Sitzen noch mögliche Arbeiten verrichten kann, ist im Industriegebiet (Ruhr) nicht schon deshalb eu, weil das örtliche AA entsprechende Arbeitsplätze in der Regel nicht vermittelt.
Andere Fassung des Leitsatzes in Mitt.Ruhrkn. 1965, 51:
Eine Erwerbsunfähigkeit in gewisser Regelmäßigkeit im Sinne des § 47 Abs. 2 RKG kann auch dann ausgeübt werden, wenn der Versicherte nur noch in der Lage ist, leichte Arbeiten, z. B. als Fahrradwächter, Bote, Fahrstuhlführer oder Pförtner, bis zu vier Stunden täglich zu verrichten. Durch diese Arbeiten können mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielt werden.
Arbeitsplätze für Teilzeitbeschäftigte stehen im Raume Dortmund auch in nennenswertem Umfang zur Verfügung.
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26. Mai 1964, ZfS 1964, 459 = SGb 1965, 419, hier mit zustimmender Anm. von Ehmecke ; Revision nicht zugelassen:
Ein Versicherter, der im Gehen und Stehen behindert ist und nur noch 4 Stunden täglich leichte Arbeiten im Sitzen, infolge Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit einer Hand (Dupuytren) aber keine Heimarbeit mehr, verrichten kann, ist erwerbsunfähig i. S. von §§ 47 Abs. 2 RKG, 1247 Abs. 2 RVO, 24 Abs. 2 AVG, wenn es in unmittelbarer Nähe seines Wohnortes keine seinem körperlichen Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang gibt.
Von einem solchen Versicherten zu verlangen, an einen Ort zu verziehen, an dem für ihn in Betracht kommende Arbeitsplätze (4 Stunden leichte Arbeit im Sitzen) in nennenswertem Umfang vorhanden sind, oder als sog. Wochenendpendler einen solchen Arbeitsplatz aufzusuchen, verbietet sich schon deshalb, weil dies mit dem auch im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben nicht vereinbar wäre, da der Versicherte bei einer Arbeit von 4 Stunden täglich nur einen dementsprechend geringen Verdienst erzielen würde.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 30. Juli 1964, Breith. 1965, 123, Revision: 12 RJ 490/64:
Für männliche Handarbeiter, welche arbeitstäglich nicht mehr 8 Std. arbeiten können, sind in Niedersachsen Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl nicht vorhanden. Können sie - ärztlich gesehen - nur noch 4 Std. täglich arbeiten, so ist EU gegeben ....
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. November 1964, Breith. 1965, 386, zugelassene Revision zurückgenommen:
Arbeitsfähigkeit für 2 bis 3 Stunden sitzender Tätigkeit bedingt EU. Der Eintritt der EU ist nach dem klaren Wortlaut des Ges. von der Einschränkung der Möglichkeit abhängig, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und hierdurch Einkünfte zu erzielen.
Der Rentenanspruch hängt nicht von der Feststellung ab, daß die EU ihre alleinige Ursache in der Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Rentenbewerbers hat. Auch im Rentenvers. Recht gilt bzgl. der Kausalität die Lehre von der wesentlichen Verursachung insbesondere bei der Prüfung der Frage, ob die Fähigkeit des Rentenbewerbers zum Erwerb "infolge" der im Ges. gen. Beeinträchtigungen seines Gesundheitszustandes gemindert ist.
LSG Hamburg, Urteil vom 26. November 1964, Breith. 1965, 211, Revision 12 RJ 50/65:
Eine 61jährige angelernte Näherin, die aus gesundheitlichen Gründen nur noch leichte, überwiegend im Sitzen zu verrichtende Frauenarbeiten für die Dauer von arbeitstäglich 4 bis 5 Std. ohne Zeitdruck und ohne Benötigung des Feinsehvermögens leisten kann, ist mangels eines Arbeitsfeldes eu.
LSG Hamburg, Urteil vom 9. Dezember 1964, SozSich 1966, 24, Revision: 4 RJ 51/65:
Ein ungelernter männlicher Arbeitnehmer, der wegen erheblicher Durchblutungsstörungen in beiden Beinen nur noch leichte Arbeiten für die Dauer von 5 bis 6 Stunden täglich vorwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit eines jederzeitigen Wechsels der Körperhaltung bei Auftreten von Beschwerden zwischen Geh-, Steh- und Sitzbelastung in wohltemperierten Räumen verrichten kann, ist erwerbsunfähig, weil es für ihn, entsprechend der Einschränkung seines Leistungsvermögens, in Betracht kommende Teilzeitarbeitsplätze in nennenswerter Zahl nicht gibt.
Auch für die Verrichtung einfacher Bürohilfsarbeiten durch ungelernte, eingeschränkte leistungsfähige männliche Arbeitnehmer gibt es bei der Notwendigkeit einer verkürzten Arbeitszeit kein Arbeitsfeld.
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Mai 1965, Breithaupt 1966, 36 = SGb 1966, 55 - mit ablehnender Anm. von Odendahl, Wilhelm -:
Bei der Prüfung der Frage, ob ein Versicherter erwerbsunfähig ist, bedarf es - entgegen BSG - keiner Feststellung, ob es in nennenswertem Umfang Arbeitsplätze gibt, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann.
LSG Hamburg, Urteil vom 23. September 1965, Breith, 1966, 230:
Zur Frage der Bemessung eines "allg. Arbeitsfeldes nennenswerten Umfangs" in einer Großstadt. Ein älterer ungelernter männlicher Arbeitnehmer, der nur bis zu 6 Stunden täglich leichte Arbeiten im Sitzen mit der Möglichkeit einer Unterbrechung durch vorübergehende Geh- oder Stehtätigkeit in geschlossenen und heizbaren Räumen verrichten kann, darf nicht auf die abstrakte Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit verwiesen werden.
LSG Nordrhein-Westfalen, 4. Senat, Urteil vom 22. September 1966, DAngVers 1966, 374, mit Anm. von Meyer, J.:
Bei der Feststellung, ob ein Versicherter erwerbsunfähig ist, ist das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen, an denen der Versicherte den ihm verbliebenen Rest seiner Erwerbsfähigkeit auszunutzen vermag, nicht zu prüfen.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 8. März 1967, Breith. 1967, 1016 = Vers.R. 67, 998= ZfS 1967, 346:
Ein Arbeiter, der wegen Lungenblähung, Bronchitis, Herzmuskelschaden und Wirbelsäulenveränderungen nur noch 5 - 6 Stunden täglich leichte Arbeiten in staub- und zugluftfreien Betrieben oder der ganztägig nur noch ausgesprochen leichte Arbeiten im Sitzen verrichten kann, ist auch in einer typischen Industriestadt wie Delmenhorst erwerbsunfähig.
LSG Niedersachsen, Urteil vom 8. Juni 1967, DB 1967, 1508 = VersR 1967, 951, rechtskräftig:
Die Zahl der geringfügigen (§ 66 AVAVG) Teilzeitarbeitsplätze für männliche Arbeiterrentenversicherte beträgt in Niedersachsen 0,27 % der Ganztags-Arbeitsplätze. Sie sinkt auf weniger als 0,1 - 0, 17 %, wenn die für den jeweiligen Versicherten nach Schwere der Tätigkeit und Fähigkeiten und Kenntnissen ungeeigneten Arbeitsplätze ausgeschieden werden. Auch der Ballungsraum Hannover bedeutet keine Ausnahme. Es liegt kein Anlaß zu der Annahme vor, daß die Verhältnisse im übrigen Bundesgebiet wesentlich anders lägen. Ein männlicher Versicherter, der nicht mehr ganztägig arbeiten kann, ist hiernach regelmäßig erwerbsunfähig.
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 1967, Breith. 1968, 303, Revision: 4 RJ 11/68:
Sowohl bei der Beurteilung der EU wie auch bei der der BU kommt es darauf an, ob eine effektive Möglichkeit der Verwertung des restlichen Leistungsvermögens auf entsprechenden Arbeitsplätzen vorhanden ist. Halbtagsarbeitsplätze für Männer gibt es nur in sehr beschränktem Umfang und nur in bestimmten Erwerbszweigen.
4) Im Schrifttum werden die dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegten Rechtsfragen sowie die unter II 5) aufgeführte Rechtsprechung des BSG seit langem und bis in die jüngste Zeit hinein lebhaft erörtert. Um einen Anhalt für die Auseinandersetzungen im Schrifttum zu geben, wird auf folgende, etwa in der zeitlichen Reihenfolge ihres Erscheinens geordnete Veröffentlichungen aus der Zeit vom 1. Januar 1967 an bis heute verwiesen:
Tannen, DRV 1967, 51, 52,
Roess, SozVers 1967, 104,
Bekemeier, SGb 1967, 145,
ders., SozVers 1967, 135,
Hensel, SGb 1967, 295,
Habs, Med.Sachv. 1967, 168,
Stoetzner, SGb 1967, 335,
Bekemeier, Gewerksch . Rundschau 1967, 358,
Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 1967, 121, 126,
Martens, WzS 1967, 289, 326, 356,
Broede, SozVers 1967, 295,
Schimanski, SozSich 1967, 326,
Martens, SGb 1967, 484,
Laege, SozFortschr. 1967, 248, 252,
Bremkens, Kompass 1968, 17,
Scheerer, Kompass 1968, 20,
Becker, ZfF 1968, 50,
Scheerer, SGb 1968, 112, 114 (Anm. zum Urteil des 5. Senats des BSG vom 13. April 1967 - 5 RKn 108/66 -),
Sauer, SGb 1968, 98,
Bekemeier, SozVers 1968, 101,
Dannenberg, Med.Sachv. 1968, 160.
5) Aber auch innerhalb des BSG gehen die Auffassungen zu den vorgelegten Rechtsfragen auseinander. Dies zeigen sowohl die veröffentlichten Entscheidungen von Senaten des BSG (nachfolgend unter a) als auch die Mitteilungen, welche die Vorsitzenden des 1., 4., 5. und 11. Senats nach Besprechung mit den übrigen Berufsrichtern ihrer Senate dem 12. Senat auf dessen Anfrage gemacht haben (nachfolgend unter b).
a) Es handelt sich um folgende Entscheidungen des 4., 5., 11. und 12. Senats des BSG, die hier in ihrer zeitlichen Reihenfolge aufgeführt werden:
4. Senat, Urteil vom 15. März 1962 - 4 RJ 199/61 -, (SozR RVO § 1247 Nr. 5):
"... Der Versicherte kann auf Tätigkeiten, die er aufgrund seines Gesundheitszustandes noch auszuüben vermag und mit denen ihm die Erzielung mehr als geringfügiger Einkünfte möglich ist, nicht verwiesen werden, wenn es derartige Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht oder nicht in nennenswertem Umfang gibt".
12. Senat, Urteil vom 28. Mai 1963 - 12/4 RJ 142/61 - (BSG 19, 147 = SozR RVO § 1247 Nr. 6):
"Unter 'Erwerbstätigkeit' i. S. des § 1247 Abs. 2 RVO ist eine auf Gewinn abzielende Tätigkeit zu verstehen. Dabei kann der Versicherte grundsätzlich nur auf körperliche Tätigkeiten in abhängiger Stellung verwiesen werden, für die es Arbeitsplätze zumindest in nennenswerter Zahl, seien sie frei oder besetzt, überhaupt gibt.
Bei der Prüfung der Frage, ob es für eine Tätigkeit Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl überhaupt gibt, ist von normalen Verhältnissen auszugehen, nicht aber z. B. von einem vorübergehenden Zustand extremen Mangels der Arbeitskräfte ...".
11. Senat, Urteil vom 23. Juni 1964 - 11/1 RA 84/63 - (BSG 21, 133 = SozR RVO § 1247 Nr. 8):
"... die Voraussetzungen der 2. Alternative können auch dann erfüllt sein, wenn der Versicherte noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben, aber nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann. Läßt sich nicht feststellen, daß ein nur noch beschränkt Erwerbsfähiger - obwohl er dies will - mit der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann, so sind die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG ebenfalls erfüllt (Fortführung der Rechtspr, des BSG in BSG 19, 147 ff = SozR RVO § 1247 Bl. Aa 3 Nr. 6)".
11. Senat, Urteil vom 4. November 1964 - 11/1 RA 287/62 - (Die Praxis 1965, 138):
(Auszug aus den Gründen):
"... die Arbeitsämter sind jedenfalls in der Lage zu übersehen, ob und inwieweit in ihrem Bereich überhaupt Erwerbsmöglichkeiten für beschränkt Erwerbsfähige vorhanden sind; darüber hinaus können für ihren örtlichen Bereich möglicherweise auch Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammern, Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, Hauptfürsorgestellen sowie Gewerbeaufsichtsämter Auskünfte geben. Soweit die Rentenversicherungsträger und die Gerichte solche Ermittlungen anzustellen haben, werden sie damit nicht "gewissermaßen als Arbeitsamt" für die in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten tätig; sie haben nicht - wie die Arbeitsämter - Arbeitsuchenden freie Arbeitsstellen nachzuweisen, sie haben vielmehr nur sich selbst ein Bild über die Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen, die auf dem Arbeitsmarkt allgemein und (oder) in bestimmten beruflichen Tätigkeiten für die in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten bestehen, weil davon die Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG abhängt. Sind solche geeignete Erwerbsmöglichkeiten vorhanden, dann kann der Versicherte nicht als erwerbsunfähig angesehen werden; es bleibt dann ihm überlassen, ob er diese Möglichkeit nutzt. Läßt sich dagegen nicht feststellen, daß für einen in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten Erwerbsmöglichkeiten vorhanden sind, durch die er "mehr als nur geringfügige Einkünfte" erzielen kann, so ist davon auszugehen, daß die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 24 Abs. 2 AVG gegeben sind.
5. Senat, Urteil vom 23. März 1965 - 5 RKn 92/61 - (SozR RKG § 47 Nr. 2 = SozR RVO § 1247 Nr. 11):
"Zur Auslegung des Begriffs der "Erwerbsunfähigkeit" (Anschluß an BSG 19, 147 = SozR Nr. 6 zu § 1247 RVO).
Zur Frage nach Art und Umfang der Ermittlungen für die Feststellung, ob es für Verweisungstätigkeiten Arbeitsplätze - sie seien frei oder besetzt - in zumindest nennenswerter Zahl in dem vom Versicherten täglich zu erreichenden Wirtschaftsgebiet gibt".
5. Senat, Urteil vom 17. Dezember 1965 - 5 RKn 112/62 - (BSG 24, 181 = SozR RVO § 1246 Nr. 56 = SozR RVO § 1247 Nr. 12):
"Bei der Verweisung auf zumutbare Tätigkeiten kommt es grundsätzlich nicht darauf an, wieviel Arbeitsplätze für solche Tätigkeiten vorhanden sind, es sei denn, daß die Zahl der entsprechenden Arbeitsplätze praktisch bedeutungslos ist.
Die Gerichte der SGb verletzen nicht die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung, wenn sie die Entscheidung, bestimmte Arbeitsplätze seien nicht mehr in völlig unbeträchtlichem Umfang vorhanden, aufgrund ihrer besonderen Erfahrungen auf dem Gebiet des Arbeitslebens treffen; Beweise darüber brauchen regelmäßig nicht erhoben zu werden".
5. Senat, Urteil vom 13. April 1967 - 5 RKn 108/66 - (SozR RVO § 1247 Nr. 14):
"Stellt ein Tatsachengericht der SGb, ohne Beweise zu erheben, allein aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen des Arbeitslebens fest, daß es für einen Versicherten, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch in der Lage ist, halbschichtig leichte Arbeiten im Sitzen und im Stehen in geschlossenen Räumen zu verrichten, in wirtschaftlichen Ballungsgebieten Arbeitsplätze in nennenswerter, d. h. mehr als nur bedeutungsloser Zahl gibt, so verstößt es hiermit nicht gegen § 128 SGG".
b) Äußerungen der Vorsitzenden des 1., 4., 5. und 11. Senats:
aa. Der eine dieser Senate neigt in der Mehrheit seiner Berufsrichter dazu, an der "konkreten Betrachtungsweise" festzuhalten, sie aber insofern zu modifizieren, als die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung beschränkt werden sollen.
bb. In einem anderen Senat sind die Berufsrichter grundsätzlich der Auffassung, daß das Vorhandensein einer Arbeitsgelegenheit aus dem Begriff der Erwerbsfähigkeit nicht herausgelöst werden könne und deshalb die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung ihrer Verwertbarkeit im Wirtschaftsleben beurteilt werden müsse. Für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit müsse es genügen, daß Erwerbsmöglichkeiten, denen der Bewerber um eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit gewachsen sei, überhaupt vorhanden seien; auf deren Anzahl sowie darauf, ob sie frei oder besetzt seien, könne es nicht ankommen. Weder von einem Versicherungsträger noch von einem Sozialgericht könne mehr verlangt werden, als daß sie sich - für die Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall der Rentenbewerber berufsunfähig oder gar erwerbsunfähig ist - über die allgemeinen Verhältnisse des Arbeitsmarktes in ihrem Zuständigkeitsbereich geeignete Unterlagen für die Aufstellung eines Erfahrungssatzes verschafften. Bei derartigen Unterlagen handle es sich nicht um Ermittlungen des Sachverhalts im Einzelfall, sondern um die Ermittlung von Erfahrungssätzen. Soweit Erfahrungssätze revisibel seien, könne auch das Revisionsgericht durch eigene Ermittlungen prüfen, ob ausreichende tatsächliche Unterlagen für ihre Feststellung vorlägen. Erfahrungssätze müßten aber als solche in die Verhandlung eingeführt werden, weil nicht vorausgesetzt werden könne, daß den am Streitverfahren Beteiligten diese Erfahrungssätze und die Umstände, auf denen sie beruhten, bekannt seien. Mit welchen Methoden man zur Aufstellung solcher Erfahrungssätze gelange, könne offen bleiben. Jedenfalls sollte allein eine Auskunft der Arbeitsverwaltung nicht genügen, weil diese - bisher jedenfalls - im wesentlichen den Arbeitsmarkt für Vollbeschäftigte analysiere und auch nur Vermittlungen "unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes" vorgenommen habe. Anders liege es wohl nur bei der Vermittlung von anerkannten Schwerbeschädigten. In allen anderen Fällen aber sei doch derjenige, der Arbeitskräfte für Teilzeitarbeiten suche, darauf angewiesen, durch Zeitungsanzeigen oder auf ähnliche Weise die bei ihm offene Stelle bekanntzugeben. - Eine wirkliche und gerechte Lösung des Problems könne nicht durch die Rechtsprechung allein gefunden werden. Dem großen Überhang von Erwerbsunfähigkeitsrenten gegenüber den Berufsunfähigkeitsrenten könne wirksam nur dadurch vorgebeugt werden, daß in größerem Ausmaß als bisher Teilzeitarbeitsplätze für Männer und Frauen geschaffen würden. Dies sei eine vordringliche Aufgabe der Wirtschaft, die aber wohl nur in Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber und den Gewerkschaften gelöst werden könne. Zu solchen dringend erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen werde es wohl eher kommen, wenn der Standpunkt von BSG 19, 147 aufgegeben werde.
cc. Die Berufsrichter eines dritten Senats haben sich im wesentlichen der Auffassung angeschlossen, die unten zu IV im einzelnen dargelegt wird. Nach ihrer Meinung werde man grundsätzlich davon ausgehen können, daß ein Versicherter, der nach seinem Gesundheitszustand in der Lage sei, einer Halbtagsbeschäftigung nachzugehen, nicht erwerbsunfähig sei, Sei die Erwerbsfähigkeit dagegen so eingeschränkt, daß der Versicherte nicht mehr halbtägig arbeiten könne, werde man ihn in der Regel als erwerbsunfähig ansehen müssen, weil solche Arbeitsplätze auf dem Arbeitsmarkt nach allgemeiner Erfahrung nicht verfügbar seien. Bei bestimmten Berufen (z. B. Küchenhelferinnen, Heimarbeitern, Stundenbuchhaltern) könne ausnahmsweise etwas anderes gelten. Auch einen Versicherten, der Halbtagsarbeit nur mit wesentlichen zusätzlichen Einschränkungen verrichten könne (z. B. mit häufigen Pausen oder nur bei mehrfachem Wechsel im Sitzen und Stehen), werde man aus demselben Grunde regelmäßig als erwerbsunfähig ansehen müssen. - Die Ansicht, wonach es bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit auf die Frage der Arbeitsgelegenheit überhaupt nicht ankomme, sei abzulehnen.
dd. Die Berufsrichter des letzten der befragten Senate haben die Meinung begrüßt, daß an der Auffassung, die dem in BSG 19, 147 veröffentlichten Urteil zugrunde liege, nicht mehr festgehalten werden sollte. Sie haben die Meinung gebilligt, die unter V des näheren begründet wird. Eine allseits befriedigende Lösung zu finden, erscheine nicht möglich. Eine Neuorientierung der Rechtsprechung zu § 1247 Abs. 2 RVO mit der unten zu V dargelegten Begründung dürfte die Risiken der Rentenversicherung klarer von denen der Arbeitslosenversicherung abgrenzen und praxisgerechter sein als eine Lösung mit der unten zu IV dargelegten Begründung.
III
Der 12. Senat neigt zu der Ansicht, daß an der Auffassung nicht mehr festgehalten werden sollte, die seinem - insoweit dem Urteil des 4. Senats vom 15. März 1962 (SozR RVO § 1247 Nr. 5) sowie der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (AN 1907 S. 465 Nr. 1311; 1921 S. 334, 336 Nr. 2647) sich anschließenden - Urteil vom 28. Mai 1963 - 12/4 RJ 142/61 - (BSG 19, 147 = SozR RVO § 1246 Nr. 6) zugrunde liegt,
bei der Prüfung der Frage, ob Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 1247 Abs. 2 RVO vorliegt, könne der Versicherte grundsätzlich nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die es Arbeitsplätze zumindest in nennenswerter Zahl überhaupt gebe.
Die Berufsrichter des 12. Senats sind sich jedoch in der Begründung nicht einig. Daher werden im folgenden (unter IV und V) die unterschiedlichen Auffassungen der Berufsrichter des 12. Senats im einzelnen dargelegt. - In I 5 und 6 der Beschlußformel bestehen solche Unterschiede in den Auffassungen nicht, geht die Ansicht vielmehr dahin, daß die dort aufgeführten Fragen zu verneinen sind.
IV
Die eine Auffassung ist die folgende:
1) Bei den dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegten Rechtsfragen geht es in erster Linie um das Problem, welche Bedeutung das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheit in der Rentenversicherung für die Erwerbsunfähigkeit (wie übrigens auch die Berufsunfähigkeit) hat, und damit zugleich um das Problem der Abgrenzung der Rentenversicherung von der Arbeitslosenversicherung. Ein Problem ist dies deshalb, weil Erwerbsfähigkeit nun einmal mehr ist als bloß Arbeitsfähigkeit (im Sinne der Fähigkeit, körperliche oder geistige Arbeit zu verrichten), nämlich die Fähigkeit, durch Arbeit etwas - d. h. ein Gut von wirtschaftlichem Wert - zu erwerben. (So schon Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. I, Berlin 1893, S. 331: "Die Erwerbsfähigkeit ist nicht einfache Arbeitsfähigkeit, sondern die Fähigkeit, durch Arbeit einen Erwerb zu machen; Erwerbsfähigkeit ist verwertbare Arbeitsfähigkeit"; ähnlich Bd. II, Berlin 1905, S. 662; Siefart, Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete des Versicherungswesens, 3. Aufl. 1908, S. 25; Kaskel/Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, Berlin 1912, S. 192: "Der Begriff der Invalidität deckt sich also auch nicht mit dem der Arbeitsunfähigkeit"; aus neuerer Zeit z. B. SozR RVO § 1246 Nr. 27.) Voraussetzung dafür, daß man durch Arbeit etwas erwirbt, ist aber eben, daß man seine Arbeitsfähigkeit irgendwo anbringen kann, d. h. daß man eine Arbeitsgelegenheit finden kann. Ein geeigneter Arbeitsplatz - besetzt oder frei - muß also jedenfalls vorhanden sein. Es geht demnach nicht an, zu meinen, es komme überhaupt nicht darauf an, ob entsprechende Arbeitsplätze für vermindert Erwerbsfähige vorhanden sind, wie die Vertreter der sog. abstrakten Betrachtungsweise wollen (zu vgl. besonders Gottmann in SozVers 1965, 201 und die dort angeführte Literatur).
Die sog. abstrakte Betrachtungsweise kann auch nicht damit begründet werden - wie es verschiedentlich versucht worden ist -, nach dem Gesetz komme es nur auf eine ursächliche Verknüpfung zwischen Gesundheitsstörungen und der Fähigkeit zum Ausüben einer Erwerbstätigkeit an, nicht aber darauf, ob Arbeitsplätze zur Verfügung ständen. Gewiß ist es richtig, daß Ursache (wesentliche, nicht alleinige Bedingung) der MdE Krankheit oder andere Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte sein müssen (§ 1247 Abs. 2 ebenso wie § 1246 Abs. 2 RVO); jedoch ist es eben die Erwerbsfähigkeit, die durch Krankheit oder dergl. gemindert sein muß, nicht nur die Arbeitsfähigkeit, und die Erwerbsfähigkeit des Versicherten ist (sogar bis zum Nullpunkt) gemindert, wenn überhaupt kein für ihn geeigneter Arbeitsplatz (besetzt oder frei) vorhanden ist.
2) Im Anschluß an die amtliche Begründung des Entwurfs des Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889, die deutlich erkennen läßt, daß schon der damalige Gesetzgeber das Problem gesehen hat und peinlich darauf bedacht war, die Rentenversicherung von Aufgaben einer Arbeitslosenversicherung zu distanzieren (Näheres in Bd. 1 der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes S. 193, 195), hat die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts sich zunächst dahin ausgesprochen, keineswegs habe der Mangel an Arbeitsgelegenheit bei der Prüfung der Invalidität unbedingt außer Betracht zu bleiben; wem, obwohl er noch Arbeit verrichten könne, durch Krankheit, Gebrechen oder dergl. der Arbeitsmarkt dauernd verschlossen und dadurch die Möglichkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit überhaupt entzogen sei, der sei invalide, denn in einem solchen Falle könne von einer Erwerbsfähigkeit, d. h. von einer Fähigkeit durch Arbeit sich einen Erwerb zu verschaffen, keine Rede sein (AN 1893 S. 95 Nr. 250; ebenso AN 1901 S. 431 Nr. 907 und AN 1909 S. 502 Nr. 1421). Also: Wem der Arbeitsmarkt durch Krankheit usw. dauernd verschlossen ist, der ist invalide. Der Arbeitsmarkt ist aber dem Versicherten dauernd verschlossen, wenn es Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten), die er ausfüllen kann, überhaupt nicht gibt.
3) Im Jahre 1906 ist das Reichsversicherungsamt dann aber einen scheinbar kleinen, in Wahrheit sehr bedeutungsvollen Schritt weitergegangen: Es hat dem Falle, daß einem Versicherten der Arbeitsmarkt dauernd verschlossen ist, weil es für ihn geeignete Arbeitsplätze überhaupt nicht gibt, den Fall gleichgestellt, daß es solche Arbeitsplätze nur noch in ganz unerheblichem Maße gibt und der Versicherte diese Gelegenheit nicht in nennenswertem Umfang ausnutzen kann (AN 1907 S. 465 Nr. 1311, auch AN 1921 S. 334, 336 Nr. 2647).
4) Eine spätere Rechtsprechung und Literatur hat dann sogar so formuliert, ein Rentenbewerber könne nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, für die Arbeitsplätze, die dem freien Wettbewerb zugängig seien, in ausreichender (oder genügender) Zahl vorhanden seien; wenn die Zahl solcher Arbeitsplätze stets so gering sei, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fielen, hätten sie außer Betracht zu bleiben. (So wohl zuerst BSG 5, 84, 86 zu § 35 RKG - 5. Senat -; 8, 31 zu § 23 AVG - 1. Senat -; etwa gleichzeitig Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 1. Aufl., S. 75 Anm. II 2 a Abs. 5 zu § 1246 RVO ohne nähere Begründung; weitere Rechtsprechung und Literatur oben zu II.)
5) Es empfiehlt sich dringend, zu der ursprünglichen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (oben zu 2) zurückzukehren.
In jener Rechtsprechung ist einerseits die sog. abstrakte Betrachtungsweise abgelehnt, wenn man unter dieser die Meinung versteht, es komme allein auf die Arbeitsfähigkeit an, ist aber andererseits klar ausgedrückt, daß der Mangel an Arbeitsgelegenheit bei der Prüfung der Invalidität nur in dem Sinne zu berücksichtigen ist, daß ein Versicherter, für den es trotz Arbeitsfähigkeit Arbeitsplätze, die er ausfüllen kann, überhaupt nicht gibt, erwerbsunfähig ist. Danach ist umgekehrt, wenn es überhaupt Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten) gibt, die auszufüllen der Versicherte noch fähig ist, die Zahl dieser Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten) unerheblich, ist es also ohne Bedeutung, ob sie "in ganz unerheblichem Maße" oder "in nennenswerter Zahl" oder "in ausreichender (genügender) Zahl" oder "in praktisch ins Gewicht fallender Zahl" vorhanden sind.
6) Für eine dahingehende Rechtsprechung spricht insbesondere:
a) Mit der im Jahre 1906 begonnenen Rechtsprechung (oben zu 3) hat das Reichsversicherungsamt den klaren Rechtsstandpunkt durch Einführung eines unbestimmten Rechtsbegriffs verlassen und sich damit gleichsam auf eine schiefe Ebene begeben, auf der, wie die weitere Entwicklung gezeigt hat, schließlich kein Halten mehr war. Zwar ist bekannt, daß die Rechtsordnung ohne unbestimmte Rechtsbegriffe nicht auskommt, jedoch sind sie, soweit sie nicht unvermeidlich sind, im Interesse der Rechtssicherheit von Übel. Die Begriffe "nennenswert", "ausreichend", "genügend", "praktisch ins Gewicht fallend" und dergl. sind solche unbestimmte Rechtsbegriffe, die präziser zu begrenzen ganz außerordentlichen Schwierigkeiten begegnet. Dies ist in der Rechtsprechung sehr deutlich geworden. Während das Reichsversicherungsamt, wie seine oben zu 3) angeführten Entscheidungen zeigen, nur in gewissen äußersten Fällen das Nichtvorhandensein von Arbeitsplätzen in nennenswerter Zahl angenommen hat (vgl. dazu auch EuM 33 S. 45, 47), gibt es Entscheidungen von Landessozialgerichten, in denen z. B. ausgesprochen ist, für männliche, nichtqualifizierte Arbeitskräfte mit einer Arbeitsleistung von höchstens sechs bis sieben Stunden täglich gebe es keine in nennenswerter Zahl dem allgemeinen Wettbewerb zugänglichen Arbeitsplätze (Breithaupt 1965, 830, 832 - LSG Baden-Württemberg -); ein Arbeiter, der ganztägig nur noch ausgesprochen leichte Arbeiten im Sitzen verrichten könne, sei auch in einer typischen Industriestadt erwerbsunfähig (VersR 1967, 998 (L) = ZfS 1967, 346 - LSG Niedersachsen -); ein männlicher Versicherter, der nicht mehr ganztägig arbeiten könne, sei regelmäßig erwerbsunfähig (VersR 1967, 951 (L) - Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht -); für ungelernte Arbeiter, die ganztägig und ohne sonstige wesentliche Einschränkungen leichte Arbeiten im Sitzen oder vorwiegend im Sitzen verrichten könnten, gebe es dem freien Wettbewerb zugängliche Arbeitsplätze selbst in einer Millionenstadt nicht in nennenswerter (oder ausreichender) Zahl (Fall von SozR RVO § 1246 Nr. 59 - LSG Berlin -). Die Rückkehr zu der ursprünglichen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts wäre gleichbedeutend mit der Rückgewinnung eines klaren Rechtsstandpunktes.
b) Diese Rückkehr brächte ferner eine systematisch klare, saubere Abgrenzung von Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung. Besonders durch Entscheidungen des Inhalts, der Versicherte könne nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die es Arbeitsplätze in ausreichender (genügender) Zahl gebe (oben zu 4), wird die Kompetenzgrenze der Rentenversicherung weit überschritten. Dies machen die folgenden Erwägungen deutlich. Bekanntlich besteht Einigkeit darüber, daß es für die Rentenversicherung bei der Prüfung der Frage, ob Erwerbsunfähigkeit (Berufsunfähigkeit) vorliegt, unerheblich ist, ob die Arbeitsplätze, die vorhanden sind, frei oder besetzt sind; daß es Sache der Arbeitslosenversicherung ist, sich derer anzunehmen, die an an sich vorhandene Arbeitsplätze nicht herankommen, weil diese schon besetzt sind. Ist dem aber so, dann ist zu folgern: daß der Grund dafür, daß die Arbeitsplätze schon besetzt sind, der ist, daß ihre Zahl so gering ist, kann keinen Unterschied machen . Es muß dabei bleiben, daß es unerheblich ist, ob die Arbeitsplätze aus welchen Gründen auch immer , besetzt sind, d. h. auf die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze kann es nicht ankommen.
c) So würde man auch zu einer sozialpolitisch sinnvollen Aufgabenverteilung unter die verschiedenen Versicherungszweige gelangen, im Sinne schon der amtlichen Begründung zu dem Entwurf des Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889: "Die Aufgabe des Entwurfs ist nicht die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, sondern gegen Erwerbsunfähigkeit". Für Arbeitsgelegenheiten zu sorgen und vor allem die - sei es in großer, sei es in geringer oder ganz geringer Zahl - vorhandenen Arbeitsplätze und die zu ihrer Ausfüllung noch Fähigen zusammenzubringen, ist aber eine geradezu typische Aufgabe der Arbeitsvermittlung, und eine geradezu typische Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist es, für diejenigen zu sorgen, die wegen eines Mißverhältnisses zwischen der zu geringen Zahl der Arbeitsplätze und der Zahl der zu ihrer Ausfüllung Fähigen einen Arbeitsplatz nicht finden. - Dafür zu sorgen, daß der in seiner Erwerbsfähigkeit erheblich Beeinträchtigte nicht im Niemandsland zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung bleibt, weil er weder Rente noch Arbeitslosengeld oder dergl. erhält und auch nicht in Arbeit vermittelt wird, ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Dafür, daß er diese Aufgabe sieht, spricht die neue Vorschrift in Art. 5 Nr. 1 des Finanzänderungsgesetzes 1967 (BGBl I 1259, 1276).
d) Endlich würden so die ganz außerordentlich großen praktischen Schwierigkeiten vermieden, die für die Rentenversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sich daraus ergeben, daß die gegenwärtige Rechtsprechung des BSG es notwendig macht, über die größere oder geringere Zahl von Arbeitsgelegenheiten (besonders Teilzeitarbeitsplätzen) in bestimmten Gebieten Beweise zu erheben. Diese Schwierigkeiten spielen eine besondere Rolle in der Begründung zahlreicher landessozialgerichtlicher Urteile, in denen die LSG der Rechtsprechung des BSG die Gefolgschaft versagt haben. In diesem Zusammenhang verdienen Interesse ganz besonders das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen Breithaupt 1966, 224, aber auch die Ausführungen von Burdenski in dem schon genannten Band 1 der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes S. 216 sowie die Ausführungen von Bekemeier in SozVers 1967, 135, es erscheine nach den bisherigen Erfahrungen kaum möglich, ein objektives und zuverlässiges Bild vom Arbeitsmarkt für Teilzeitbeschäftigung zu gewinnen. (zu vgl. auch Bekemeier in SGb 1967, 145: Es müsse eingeräumt werden, daß die vom BSG vertretene konkrete Auffassung in der Praxis kaum durchführbar sei.)
Die soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und im Lande Berlin bietet eine Fülle von Arbeitsgelegenheiten, die weit über das hinausgehen, was üblicherweise an Arbeitsplätzen bekannt ist. Wegen ihrer Verschiedenheit in Art und Umfang sind die Arbeitsgelegenheiten nur zum Teil von den Arbeitsbehörden erfaßt. Zu einem nicht unerheblichen Teil können vorhandene Arbeitsgelegenheiten aus mannigfachen Gründen amtlich oder statistisch nicht ausgewiesen werden, so etwa, weil es beim Vorhandensein derartiger Arbeitsgelegenheiten keine Meldepflicht gegenüber den Arbeitsbehörden gibt, oder weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Finanzamt über das Arbeitsverhältnis keine Angaben gemacht haben.
Die Beantwortung der Frage, ob es Arbeitsgelegenheiten, denen der Rentenbewerber gewachsen ist, überhaupt gibt, würde keine Beweisschwierigkeiten machen. Sie wird bei noch arbeitsfähigen Rentenbewerbern angesichts der nahezu unerschöpflichen Lebenssituationen so gut wie stets zu bejahen sein (Beispiel für eine Ausnahme vielleicht der Fall der an Ozaena leidenden Magd, AN 1893 S. 95 Nr. 250), und zwar auf Grund von Erfahrungssätzen, Dies ist der Grund dafür, daß die vorstehend vertretene - nicht abstrakte - Betrachtungsweise doch nahezu völlig zu den gleichen praktischen Ergebnissen wie diese führt.
7) Bei der Entscheidung darüber, ob ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nicht nur nicht mehr vollschichtig arbeiten kann, sondern aus solchen Gründen noch zusätzlichen wesentlichen Einsatzbeschränkungen unterliegt, erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO (§ 24 Abs. 2 AVG) ist, (vgl. Dapprich, SGb 1966, 385) wird zu prüfen sein, ob Erwerbsunfähigkeit deshalb zu bejahen ist, weil ein solcher Versicherter eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben kann (1. Alternative des § 1247 Abs. 2 RVO). Hierbei handelt es sich aber naturgemäß um eine andere Frage als die vorstehend zu 1) bis 6) behandelte, ob Bewerber um Erwerbsunfähigkeitsrente (Berufsunfähigkeitsrente) nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden können, für die es Arbeitsplätze (Arbeitsgelegenheiten) in nennenswerter (ausreichender, genügender) Zahl gibt.
Nach alledem sollten von den Rechtsfragen, die dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt werden, die Frage zu I 1 bejaht, die Fragen zu I 2 und II verneint werden; die letzte auch deswegen, weil es für die Annahme, der Gesetzgeber des § 1247 Abs. 2 RVO habe das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten jedweder Art vorausgesetzt, keinen Anhalt gibt. - Die Frage zu I b sollte verneint werden; die gegenteilige Auffassung bedeutet eine Beschränkung auf nur ein Beweismittel, die im Gesetz keine Stütze findet.
V
Die andere Auffassung geht dahin:
1) Die unter IV dargelegte Auffassung, in jedem Einzelfall die Feststellung zu verlangen, daß dem eingeschränkten Leistungsvermögen des Versicherten entsprechende Arbeitsgelegenheiten "überhaupt" vorhanden sind, wird nicht geteilt. Wenn es darauf ankommen soll, ob dem eingeschränkten Leistungsvermögen des Versicherten entsprechende Arbeitsgelegenheiten "überhaupt" vorhanden sind, werden damit die in der Rechtsprechung der Tatsachengerichte aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Tatsachenermittlung nicht ausgeräumt. Ob verlangt wird, daß entsprechende Arbeitsgelegenheiten in (zumindest) nennenswerter oder mehr als nur bedeutungsloser oder nicht ganz unerheblicher Zahl oder aber in ausreichender oder genügender oder praktisch ins Gewicht fallender Zahl vorhanden sind, oder ob verlangt wird, daß solche Arbeitsgelegenheiten "überhaupt" vorhanden sind, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Jedenfalls sind auch im Einzelfalle besondere Feststellungen über das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten erforderlich.
Die "konkrete" Betrachtungsweise hat bisher nicht klar und systematisch geordnet zu erkennen gegeben, welche Voraussetzungen sie im einzelnen für die Zuerkennung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verlangen will. Insbesondere scheint es zweifelhaft, ob nach dieser Auffassung zu den Anspruchsvoraussetzungen einer solchen Rente auch gehört, daß Arbeitsgelegenheiten für das eingeschränkte Leistungsvermögen des Versicherten in dem von der bisherigen Rechtsprechung des BSG genannten, oben erwähnten Umfang nicht vorhanden sind. Sollte das Nichtvorhandensein von Arbeitsgelegenheiten als eine der Anspruchsvoraussetzungen gefordert werden, wäre diese Anspruchsvoraussetzung, nämlich das Nichtvorhandensein von Arbeitsgelegenheiten, ebenfalls voll zu beweisen und nicht etwa nur glaubhaft zu machen. Folgerichtig müßte dann, wenn das Nichtvorhandensein von Arbeitsgelegenheiten mangels ausreichender Beweise nicht festgestellt werden könnte, der Rentenanspruch abgewiesen werden.
2) Welche Schwierigkeiten sich ergeben würden, wenn auf irgendeine zulässige Weise das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten im Einzelfalle festgestellt werden müßte, zeigen folgende Erwägungen: Feststellungen über das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten könnten auf verschiedene Weise getroffen werden, und zwar
a) durch besondere Beweiserhebungen oder
b) durch gerichtskundige oder allgemeinkundige Tatsachen oder
c) aufgrund eines Erfahrungssatzes.
Besondere Beweiserhebungen im Einzelfall zu verlangen (a), würde bedeuten, die bisher schon in Verwaltung und Rechtsprechung zu Tage getretenen Erschwernisse einer genauen Ermittlung einfach zu übergehen. Wegen des steten Wandels in der gesamten Wirtschaft, aber auch wegen der in jedem Falle anders gearteten persönlichen Einsatzfähigkeit des Versicherten erscheint es nicht angängig, das Vorhandensein bestimmter Arbeitsgelegenheiten als gerichtskundig oder allgemeinkundig (b) oder als Erfahrungssatz (c) anzusehen. Zudem müßten der Annahme einer gerichtskundigen oder allgemeinkundigen Tatsache oder eines besonderen Erfahrungssatzes entsprechende Feststellungen vorausgehen, die aber wiederum ohne die mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbundenen Ermittlungen nicht möglich wären. Abgesehen davon, daß die auf einer besonderen Beweiserhebung beruhenden Feststellungen (a) mit der Revision angegriffen werden könnten, wäre dies auch bei den Feststellungen nach b) und c) möglich, wenn unter Vorbringen entsprechender Tatsachen und Beweismittel dargelegt werden würde, daß die als allgemein- oder gerichtskundig angenommenen Tatsachen falsch seien oder daß es den angenommenen Erfahrungssatz nicht gebe. Das Revisionsgericht kann zwar Bestehen und Inhalt eines besonderen Erfahrungssatzes als einer Rechtsnorm nachprüfen. Eigene Tatsachenfeststellungen kann es aber dazu nicht treffen. Das Revisionsgericht müßte demnach stets das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Nicht zuletzt könnten die aufgezeigten Schwierigkeiten bei der Tatsachenfeststellung auch ein Anzeichen dafür sein, daß die "konkrete" Betrachtungsweise von einer unzutreffenden Auslegung des § 1247 Abs. 2 RVO ausgeht.
3) Die Ermittlungen über das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken (vgl. II 5 b aa), läßt sich mit der grundsätzlich nicht beschränkbaren Sachaufklärungspflicht der Tatsachengerichte (§§ 103, 106 SGG) nicht vereinbaren.
4) Indes kommt es auf Beweiserhebungen nicht an, wenn man nachstehender Auffassung folgt:
§ 1247 Abs. 2 RVO stellt es auf die "Erwerbstätigkeit" des Versicherten ab. Erwerbstätigkeit ist eine auf Gewinn zielende Arbeit. Die Arbeitsleistung muß für den Empfänger der Arbeitsleistung einen wirtschaftlichen Wert haben, so daß dieser dafür ein Entgelt zahlt. Daher ist bei der "Erwerbstätigkeit" zweierlei zu unterscheiden:
a) Zum einen geht es um die Verhältnisse in der Person des Versicherten. Er muß nach seinen körperlichen und geistigen Kräften fähig sein, durch Arbeit ein Entgelt zu erzielen. Ist diese gesundheitliche Fähigkeit eingeschränkt oder entfallen, greift die Rentenversicherung ein. Sie stellt bestimmte Tatbestandsmerkmale auf, bei deren Vorliegen der Versicherte erwerbsunfähig im Sinne der Rentenversicherung ist und deshalb Anspruch auf Rente hat. Diese Tatbestandsmerkmale sind:
Die gesundheitlichen Fähigkeiten des Versicherten für sich genommen
1. reichen nicht mehr für eine in gewisser Regelmäßigkeit zu verrichtende Erwerbstätigkeit aus, oder
2. erlauben es dem Versicherten nicht, mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen.
b) Andererseits bezieht sich die Erwerbstätigkeit auf die Verhältnisse außerhalb der Person des Versicherten. Dies sind die Verhältnisse auf der Seite der Empfänger von Arbeitsleistungen, also auf der Seite der Arbeitgeber. Soweit beim Arbeitgeber die Erwerbsmöglichkeiten beschränkt sind, also keine oder nur eingeschränkte Arbeitsgelegenheiten vorhanden sind, greift die Arbeitslosenversicherung ein. Abgesehen von den Besonderheiten der neuen Regelung des § 76 Abs. 1 a AVAVG stellt die Arbeitslosenversicherung - abweichend von der Rentenversicherung - bestimmte Tatbestände als Voraussetzung dafür auf, daß Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu gewähren sind, wie z. B. übliche Bedingungen des Arbeitsmarktes usw (§§ 74 bis 76 AVAVG).
Da gesundheitlichen Einschränkungen einer Erwerbsfähigkeit meist auch eingeschränkte Erwerbsmöglichkeiten im (allgemeinen) Arbeitsleben gegenüberstehen, sind die Tatbestände, für die die Rentenversicherung eintritt, und diejenigen, für die Arbeitslosenversicherung in Frage kommt, abzugrenzen. Bei der Vielfalt an Arbeitsmöglichkeiten jeder Art und jeden Umfangs in der sozialen Wirklichkeit brauchte aber das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten mit bestimmten, der gesundheitlichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit entsprechenden Anforderungen in § 1247 Abs. 2 RVO nicht als Tatbestandsmerkmal, das in jedem Fall besonders (konkret) festgestellt werden muß, aufgenommen zu werden. Der Gesetzgeber findet stets eine Lebenswirklichkeit vor, hier die durch Technik und freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsform bestimmte soziale Wirklichkeit. Aus der Fülle dieser Lebensverhältnisse greift er die konkreten Tatbestandsmerkmale heraus, die er je nach seiner sozialpolitischen Grundvorstellung und dem Zweck der beabsichtigten Gesetzgebung als rechtserheblich für die Festsetzung bestimmter Rechtsfolgen ansieht. Die für die Sozialversicherung im weiteren Sinne (RVO, AVAVG) interessierende soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik bietet eine Fülle von Arbeitsgelegenheiten, die nach Art, Anlage, Umfang und Anforderungen außerordentlich verschieden und einem stetigen Wandel unterworfen sind. Sie sind nur z. T. innerhalb gewisser Bereiche einheitlich geregelt (Tarifverträge u. ä.) und nur teilweise erfaßt (Arbeitsämter). Zwingende Vorschriften, die eine bestimmte Ausgestaltung sämtlicher Arbeitsverhältnisse oder Anmeldung aller Arbeitsgelegenheiten beim Arbeitsamt anordnen würden, bestehen nicht, so daß die Einflußnahme der Arbeitsämter auf die Besetzung freier Arbeitsgelegenheiten und die Auswahl der Arbeitskräfte nur beschränkt ist. Nur die einzuhaltenden Grenzen sind vorgeschrieben (z. B. Arbeitszeit, Nachtarbeit, Arbeitsschutz, Mutterschutz u. ä.). Aus dieser Vielfalt der Lebensverhältnisse im sozialen Bereich hat der Gesetzgeber für die Gewährung von Leistungen aus der Rentenversicherung und aus der Arbeitslosenversicherung bestimmte Tatbestände ausgewählt, bei deren Vorliegen er bestimmte Leistungen gewährt wissen will.
Deshalb hat der Gesetzgeber in § 1247 Abs. 2 RVO davon abgesehen, eine Prüfung auch dahin zu verlangen, daß bestimmte Arbeitsgelegenheiten vorhanden sind. Der rentenberechtigende Grad der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte des Versicherten ist nach § 1247 Abs. 2 RVO vielmehr dann erreicht, wenn eine Erwerbstätigkeit nicht mehr in gewisser Regelmäßigkeit möglich ist oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielt werden können.
Die hier hervorgehobene Tendenz des Gesetzgebers, die Risiken aus dem Mangel an Arbeitsgelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und nicht der Rentenversicherung zu übertragen, ist in jüngster Zeit durch § 76 Abs. 1 a AVAVG bestätigt worden. Nach § 76 Abs. 1 a AVAVG, eingefügt durch Art. 5 Nr. 1 des Finanzänderungsgesetzes 1967, wird Arbeitslosengeld auch denjenigen Personen gewährt, die wegen Minderung ihres Leistungsvermögens keine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben können, wenn diese Personen noch nicht berufsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sind. Dieser Tendenz hatte bereits der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in seiner Antwort auf die "Kleine Anfrage" Nr. 1 und 3 (BT-Drucks. V zu 2030) Rechnung getragen, indem er erklärte, die Arbeitslosenversicherung solle dann eintreten, wenn infolge der aus gesundheitlichen Gründen herabgesetzten Erwerbsfähigkeit die in Frage kommenden Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt seien.
Berücksichtigt man dies, so ist damit der Auslegung des § 1247 Abs. 2 RVO der Boden entzogen, die bei gesundheitlich eingeschränkter Erwerbsfähigkeit fordert, es sei ausdrücklich festzustellen, daß entsprechende Arbeitsgelegenheiten vorhanden sein müssen. Wenn das Reichsversicherungsamt dies in seiner früheren Rechtsprechung gefordert hat, ist zu bedenken, daß sich seitdem die soziale Struktur grundlegend geändert hat. Vor allem bestand damals noch keine Arbeitslosenversicherung als eigenständige soziale Versicherung; eine solche ist erst durch das AVAVG vom 16. Juli 1927 geschaffen worden.
5) Diese Auffassung läßt sich demnach wie folgt zusammenfassen:
a) Zwischen den Risiken der Renten- und der Arbeitslosenversicherung wird eine klare Grenze gezogen.
b) Feststellungen über das Vorhandensein und die Zahl der Arbeitsgelegenheiten entfallen.
c) Andere, nicht in der gesundheitlichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit liegende Umstände in der Person des Versicherten, wie Wohnort u. ä., sind nicht entscheidend.
6) Demnach ist die zu I 1) gestellte Rechtsfrage zu verneinen. Eine Antwort auf die Rechtsfragen zu I 2) bis 6) erübrigt sich. Die Rechtsfrage zu II ist zu bejahen.
Fundstellen