Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör Übergehung des Fragerechts der Beteiligten. Zurückverweisung
Orientierungssatz
Die Verletzung des Fragerechts eines Beteiligten iS der §§ 116, 118 SGG iVm §§ 397, 402, 411 ZPO, das als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG anzusehen ist, kann einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen, wenn der Beteiligte die nach seiner Ansicht erläuterungsbedürftigen Punkte dem Gericht rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung schriftlich mitgeteilt hat und die aufgeworfenen Fragen objektiv sachdienlich sind (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 222/04 B = SozR 4-1500 § 62 Nr 4).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 116, 118, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; ZPO §§ 397, 402, 411
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 14.12.2011; Aktenzeichen L 4 SB 75/10) |
SG Frankfurt am Main (Gerichtsbescheid vom 07.10.2010; Aktenzeichen S 11 SB 119/07) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die 1968 geborene Klägerin beansprucht die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 ab August 2005.
Auf ihren Erstantrag von August 2005 stellte das beklagte Land - vorbehaltlich einer Entscheidung der Berufsgenossenschaft hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen eines von der Klägerin am 25.11.2002 erlittenen Wegeunfalls - den GdB der Klägerin ab 25.11.2002 mit 20 fest (Bescheid vom 26.9.2005). Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog der Beklagte die medizinischen Unterlagen der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft bei, die eine Verletztenrente mangels einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vH versagt hatte (Bescheid vom 15.11.2005). Daraufhin lehnte der Beklagte den Antrag auf Feststellung einer Behinderung ab und hob gleichzeitig den unter Vorbehalt erteilten Bescheid vom 26.9.2005 auf (Bescheid vom 2.8.2006). Das anschließende Widerspruchsverfahren blieb für die Klägerin erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11.1.2007).
Während des folgenden Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) zog der Beklagte ärztliche Unterlagen aus der parallelen Gerichtsakte S 8 U 187/06 sowie von der Deutschen Rentenversicherung Bund bei und wertete die Gutachten von Prof. Dr. D. vom 3.8.2007 auf nervenärztlichem Gebiet, von Dr. R. vom 19.11.2008 auf neuropsychologischem Gebiet, von Dr. K. vom 31.8.2007 auf orthopädisch-unfallchirurgischem Gebiet sowie von Dr. H. vom 20.7.2009 auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet aus. Sodann stellte er mit Bescheid vom 12.7.2010 unter Abänderung des Bescheides vom 2.8.2006 bei der Klägerin wegen "seelischer Störungen" einen GdB von 80 mit Wirkung ab 15.7.2009 fest. Die von der Klägerin darüber hinaus aufrechterhaltene Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 7.10.2010 abgewiesen, weil die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ab Antragstellung habe. Insbesondere gebe es keine Anhaltspunkte dafür, einen GdB von 80 bereits ab August 2005 festzustellen. Denn erst durch die Begutachtung bei Dr. H. sei eine schwere seelische Erkrankung nachgewiesen worden.
Im anschließenden Berufungsverfahren hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) bei dem Arzt für Neurologie Dr. M. ein Gutachten eingeholt, das am 28.8.2011 erstattet worden ist. Dieser Sachverständige hat den Gesamt-GdB der Klägerin ab dem 2.4.2007 mit 80 bewertet, dem Zeitpunkt des neurologisch-psychiatrischen Befundberichtes des Diplompsychologen S. Er ist der Ansicht, für das Vorliegen einer schweren neurologisch-psychiatrischen Erkrankung bereits zum Zeitpunkt des Erstantrags im August 2005 gebe es keine Anhaltspunkte. Zu diesem Gutachten hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 10.10.2011 Stellung genommen und mit weiterem Schriftsatz vom 29.11.2011 ua beantragt, den Gutachter im Termin am 14.12.2011 zu seinem Gutachten zu befragen. Durch Urteil vom 14.12.2011 hat das LSG nach mündlicher Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Diese Entscheidung hat es im Wesentlichen wie folgt begründet:
Nachdem der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat unter Abänderung der angefochtenen Bescheide bei der Klägerin ab Antragstellung im August 2005 einen GdB von 20 und für die Zeit von April 2007 bis 14.7.2009 einen GdB von 60 festgestellt habe, seien die angefochtenen Bescheide nunmehr rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Feststellung eines GdB von 100 rückwirkend für den gesamten Zeitraum ab August 2005, wie von der Klägerin angestrebt, scheide aus, weil es für ein Vorliegen einer derart schweren neurologisch-psychiatrischen Erkrankung bereits zum Zeitpunkt des Erstantrags keine Anhaltspunkte gebe. Dr. M. habe überzeugend dargelegt, dass die von dem Beklagten vorgenommene Bewertung des GdB mit 80 jedenfalls nicht zu niedrig sei. Eine Ladung dieses Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung sei entgegen dem Antrag der Klägerin vom 29.11.2011 nicht erforderlich gewesen, weil die Klägerin keine - und erst recht keine konkreten - Fragen an den Sachverständigen mitgeteilt habe.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin als Verfahrensmangel ua eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 GG, § 62 SGG) geltend. Das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem Antrag auf Befragung des Sachverständigen Dr. M. im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14.12.2011 nicht gefolgt.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angegriffene Urteil des LSG vom 14.12.2011 beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art 103 GG, § 62 SGG) verletzt.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Darüber hinaus soll dieses Verfahrensgrundrecht sicherstellen, dass das Vorbringen der Beteiligten vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (vgl BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Aus ihm ergibt sich zwar keine Pflicht des Prozessgerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Die Beteiligten müssen aber ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen innerhalb einer angemessenen Zeit haben. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl BVerfGE aaO), zB wenn ein Gericht - ohne entsprechende Beweisaufnahme - das Gegenteil des Vorgebrachten annimmt, den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt (vgl BVerfGE 22, 267, 274) oder wenn es auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, es sei denn, der Tatsachenvortrag ist nach der materiellen Rechtsauffassung des Gerichts unerheblich (BVerfGE 86, 133, 146). Art 103 Abs 1 GG schützt indes nicht davor, dass ein Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt (BVerfGE 64, 1, 12; 76, 93, 98).
Die Klägerin legt im Rahmen ihrer Nichtzulassungsbeschwerde hinreichend konkret und auch begründet dar, das LSG habe sich mit den von ihr im Schriftsatz vom 10.10.2011 vorgebrachten kritischen Fragen zum Gutachten des Dr. M. vom 28.8.2011 nicht auseinandergesetzt, sodass die Zurückweisung ihres mit Schriftsatz vom 29.11.2011 gestellten Antrags auf Befragung des Sachverständigen Dr. M. zu dessen Gutachten im Termin vom 14.12.2011 wegen einer Verletzung des § 62 SGG rechtswidrig sei.
Die Verletzung des Fragerechts eines Beteiligten iS der §§ 116, 118 SGG iVm §§ 397, 402, 411 ZPO, das als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG anzusehen ist (vgl BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4), kann einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen, wenn der Beteiligte die nach seiner Ansicht erläuterungsbedürftigen Punkte dem Gericht rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung schriftlich mitgeteilt hat und die aufgeworfenen Fragen objektiv sachdienlich sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 6). Die vor dem LSG nicht rechtskundig vertretene Klägerin hat bereits mit Schriftsatz vom 10.10.2011 konkrete erläuterungsbedürftige Punkte benannt, wegen derer der Sachverständige Dr. M. befragt werden sollte. Diese Fragen sind auch objektiv sachdienlich. So kritisiert die Klägerin eine fehlende Auseinandersetzung des Sachverständigen mit dem Umstand, dass bei ihr über Jahre hinweg die gebotene Diagnostik unterlassen worden sei. Dabei sei zu berücksichtigen, dass auch nicht dokumentierte Schädigungen von qualifizierten Gutachtern noch Jahre nach ihrer Entstehung erkannt und wissenschaftlich begründet werden könnten. Weiterhin fehle es an einer konkreten Angabe dazu, ab welchem Zeitpunkt die Einzel-GdB-Werte gelten sollten. Ferner habe der gerichtliche Sachverständige sein Gutachten nicht dem wissenschaftlichen Standard entsprechend erstattet und sich nicht mit den maßgeblichen Leitlinien auseinandergesetzt. Indem das LSG in seiner Entscheidung (Seite 11 des Urteils) den Antrag der Klägerin auf Befragung des Sachverständigen mit der Begründung abgelehnt hat, diese habe keine und erst recht keine konkreten Fragen an den Sachverständigen mitgeteilt, übergeht es vollständig die im Schriftsatz der Klägerin vom 10.10.2011 angesprochenen Punkte und verletzt so den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör.
Das angefochtene Urteil kann auch auf diesem Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Befragung des Sachverständigen der Rechtsstreit einer anderen, für die Klägerin günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.
Ob darüber hinaus der weitere von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler einer nicht vorschriftsmäßig besetzten Richterbank des LSG (vgl § 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG) im Hinblick darauf vorliegt, dass das LSG im Urteil vom 14.12.2011 einen gegen den Vorsitzenden Richter des LSG gerichteten Ablehnungsantrag der Klägerin als unzulässig verworfen hat, kann dahinstehen, weil es ausreicht, dass die vorinstanzliche Entscheidung an einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG leidet.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der ihm durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen