Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsweg. Bestimmung des zuständigen Gerichts durch das BSG bei sog negativem rechtswegübergreifenden Kompetenzkonflikt. Durchbrechung der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses. willkürliche Entscheidung. zuständiges Sozialgericht bei Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der GKV
Orientierungssatz
1. Eine Durchbrechung der Bindungswirkung einer Verweisung kommt nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht.
2. Willkür liegt nicht bereits bei einer fehlerhaften Auslegung des Gesetzes, sondern vielmehr erst dann vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grund entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl nur BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S).
3. Ein Ausnahmefall liegt nicht vor, wenn das SG davon ausgegangen ist, dass der konkret im Einzelfall des streitigen Arzneimittels festgelegte Preismoratorioum-Rabatt auf der Grundlage des § 130a Abs 3a S 4 SGB 5 im Streit steht und nicht eine Entscheidung auf Bundesebene iS von § 57a Abs 4 SGG.
Normenkette
SGG § 57a Abs. 4, § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98; GVG § 17a Abs. 2 S. 3; GG Art 19 Abs. 4; SGB V § 130a Abs. 3a S. 4
Verfahrensgang
SG Lübeck (Entscheidung vom 27.08.2019; Aktenzeichen S 51 KR 521/19) |
Tenor
Das Sozialgericht Lübeck wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
I. Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen mit Sitz in R.. Der Beklagte hat für das von ihr im Juli 2011 eingeführte Arzneimittel A. nach § 130a Abs 3a Satz 4 SGB V auf Basis des Preises des von ihr bereits in den Verkehr gebrachten Arzneimittels V. einen erweiterten Preismoratorium-Rabatt in Höhe von 37,45 Euro festgelegt und in das GKV-Abrechnungsverzeichnis aufgenommen. Zur Berechnung der Abschlagspflicht hat der Beklagte seine nach § 130 Abs 3a Satz 11 SGB V getroffenen "Regelungen zum Herstellerabschlag nach § 130a Abs 3a - Leitfaden zu § 130a Abs 3a SGB V" herangezogen, in dem ua Kriterien zur Ermittlung der Vergleichspackung und der Abschlagshöhe getroffen sind. Mit ihrer im Dezember 2015 beim SG Berlin erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Festlegung eines Preismoratorium-Rabattes durch die Beklagte. Das erweiterte Preismoratorium sei nicht anwendbar, weil es bereits an der hierfür erforderlichen Preiserhöhung fehle. Die Regelungen in § 130a Abs 3a SGB V seien verfassungswidrig.
Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das SG Berlin für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das für den Sitz der Klägerin örtlich zuständige SG Lübeck verwiesen (Beschluss vom 25.6.2019 - S 89 KR 4244/15 - PharmR 2019, 486 ff). Eine Sonderzuständigkeit nach § 57a Abs 4 SGG greife nur für eine Entscheidung, die sich ausschließlich auf die Ebene der Entscheidung oder des Vertrags auf Bundesebene beziehe (Hinweis auf BSG vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S - juris RdNr 10; BSG vom 18.7.2012 - B 12 SF 5/12 S - juris RdNr 9). Streitgegenstand der Feststellungsklage sei die vom Beklagten konkret berechnete Abschlagspflicht für das von der Klägerin in Verkehr gebrachte Arzneimittel. Auch wenn der Beklagte die konkrete Ermittlung der Abschlagshöhe auf Grundlage seines Leitfadens vorgenommen habe, sei dieser dadurch nicht unmittelbar streitgegenständlich. Seine Wirksamkeit und Auslegung seien lediglich inzident im Rahmen der Rechtmäßigkeit des festgelegten Preismoratoriums zu prüfen. Aus dem Klageantrag und dem zugrundeliegenden Sachverhalt ergebe sich gerade nicht, dass die Klägerin ausschließlich eine (abstrakte) Feststellung der Gültigkeit des Leitfadens begehre.
Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das SG Lübeck gleichfalls für örtlich unzuständig erklärt und das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts angerufen (Beschluss vom 27.8.2019). Das SG Berlin habe prüfen müssen, ob die Festlegung eines Preismoratorium-Rabattes für das von der Klägerin vertriebene Arzneimittel A. durch die Beklagte eine Entscheidung iS des § 57a Abs 4 SGG darstelle. Dies sei der Fall, weil hiermit durch den auf Bundesebene tätigen Spitzenverband verbindlich eine einheitliche Preisgestaltung vorgenommen werde. Der Beschluss des SG Berlin sei nicht bindend, weil es die Rechtsnatur der - zutreffend als Streitgegenstand eingeordneten - Festlegung des Preismoratorium-Rabattes durch den Beklagten nicht beurteilt habe.
II. Die Voraussetzungen zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG ("negativer Kompetenzkonflikt") durch das BSG liegen vor. Das SG Lübeck konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S - SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).
Das SG Lübeck ist zum zuständigen Gericht zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Berlin vom 25.6.2019 gebunden ist. Das Gesetz bestimmt in § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG, dass eine Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht. Eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grundes entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt (stRspr; vgl nur BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S - juris RdNr 6 mwN).
Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor. In der Begründung zu seinem Verweisungsbeschluss ist das SG Berlin zu dem Ergebnis gelangt, dass vorliegend keine Entscheidung auf Bundesebene iS des § 57a Abs 4 SGG unmittelbar im Streit steht. Hierfür hat es sich auf die Rechtsprechung des vormals zuständigen 12. Senats des BSG bezogen, wonach mehr dafür spreche, dass die örtliche Zuständigkeit der in § 57a Abs 4 SGG bezeichneten Sozialgerichte nur für solche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringungsrecht der GKV angeordnet werde, die sich ausschließlich auf die Ebene der Entscheidung oder des Vertrages auf Bundesebene beziehen, also Entscheidungen oder Verträge insoweit "betreffen", als diese selbst und unmittelbar im Streit stehen (vgl BSG vom 18.7.2012 - B 12 SF 5/12 S - juris RdNr 9 mwN; Bockholdt, SGb 2012, 317, 321). Entgegen der Ansicht des SG Lübeck ist nicht erkennbar, dass das SG Berlin die Verweisung ausgehend von einem unzutreffend bestimmten Streitgegenstand vorgenommen hat. Es ist davon ausgegangen, dass vorliegend der konkret im Einzelfall des streitigen Arzneimittels festgelegte Preismoratorium-Rabatt auf der Grundlage des § 130a Abs 3a Satz 4 SGB V, den die Klägerin nicht für anwendbar hält, im Streit steht. Dieses vom SG Berlin zugrunde gelegte Normverständnis und seine darauf gegründete Entscheidung können nach dem dargelegten Prüfungsmaßstab nicht von vornherein als mit dem Gesetz "eindeutig" unvereinbar oder "willkürlich" angesehen werden, weshalb es bei der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses bleibt.
Fundstellen
Dokument-Index HI13597939 |