Leitsatz (amtlich)
Die Entziehung einer Rente nach RVO § 1293 Abs 2 in Verbindung mit SVD 3 Nr 1 steht nicht im Ermessen des Versicherungsträgers und ist daher - unbeschadet des SGG § 80 Nr 1 - vor Erhebung der Klage nicht in einem Vorverfahren nachzuprüfen.
Normenkette
SGG § 80 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; SGG § 79 Fassung: 1953-09-03; SVD 3 Nr. 1 Fassung: 1945-10-14
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Celle vom 26. September 1956 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte entzog durch Bescheid vom 13. März 1954 die der Klägerin seit 1953 gewährte Invalidenrente nach § 1293 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage verurteilte das Sozialgericht in Braunschweig die Beklagte - unter Aufhebung dieses Bescheides - zur Weitergewährung der Rente über den Entziehungstag hinaus. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht dieses Urteil auf und wies die Klage ab. Eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen der Klägerin sei nicht nachzuweisen. Da die Klägerin aber nicht invalide sei, rechtfertige sich trotzdem die Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit Nr. 1 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 der Britischen Militärregierung vom 14. Oktober 1945 (ArbBl. f.d. britische Zone 1947 S. 12). Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Revision ein. Diese ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist jedoch nach § 160 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft.
Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und das Gesetz bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG schon deshalb nicht verletzt sein kann, weil über einen Ursachenzusammenhang im Sinne dieser Vorschrift überhaupt nicht entschieden worden ist und auch nicht zu entscheiden war, hätte sie nur statthaft sein können, wenn ein von der Klägerin gerügter Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG durchgreifen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Klägerin rügt die Verletzung des § 79 Nr. 1 SGG; soweit die Entziehung der Rente auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit Nr. 1 der SVD Nr. 3 gestützt sei, betreffe der Entziehungsbescheid nicht eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, weil die auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F., Ziff. 1 SVD Nr. 3 gestützte Rentenentziehung im Ermessen des Versicherungsträgers stehe; der die Aufhebung dieses Bescheides begehrenden Klage hätte daher nach § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren vorausgehen müssen. Da es an diesem Vorverfahren fehle, hätte das Landessozialgericht - so ist ihr Vorbringen zu verstehen - nicht in der Sache selbst entscheiden dürfen, sondern hätte die Klage als unzulässig abweisen müssen. Diese Rege greift jedoch schon deshalb nicht durch, weil entgegen der Auffassung der Klägerin die Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit Nr. 1 der SVD Nr. 3 nicht im Ermessen des Versicherungsträgers steht, der Versicherungsträger die Rente vielmehr entziehen muß, wenn feststeht, daß der Versicherte nicht invalide ist. In § 1293 Abs. 2 RVO a.F. heißt es zwar, daß die Entziehung der Rente "zulässig" sei. Da die Bedeutung dieses Begriffes in der Gesetzessprache nicht immer denselben Sinn hat, wären zwar an sich verschiedene Auslegungen möglich. Wenn auch dieser Begriff vor allem die Bedeutung der Einräumung einer Rechtsmacht zum Handeln hat, so ist doch vielfach auch damit die Bedeutung der Einräumung eines Ermessens zum Handeln verbunden. Entscheidend ist jeweils der Zusammenhang, in welchem dieser Begriff im Einzelfall gebraucht wird. Nach Ansicht des erkennenden Senats bezweckte der Gesetzgeber mit § 1293 Abs. 2 RVO a.F. lediglich die Einräumung einer Handlungsmacht. Ohne die Vorschriften des § 1293 RVO a.F. hätte der Versicherungsträger grundsätzlich keine Rechtsmacht zur Rentenentziehung, weil dieser die Rechtskraft des ergangenen Bewilligungsbescheides entgegenstände. Es bedurfte also einer ausdrücklichen Übertragung dieser Rechtsmacht an den Versicherungsträger durch den Gesetzgeber. Diese Ermächtigung zum Handeln war im Grundsatz bereits durch § 1304, der noch bis zum Inkrafttreten der Verordnung (VO.) vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419) galt, um dann durch den im wesentlichen gleichlautenden § 1293 Abs. 1 RVO a.F. ersetzt zu werden, erteilt. Noch während der Geltung des § 1304 RVO wollte der Gesetzgeber aus Ersparnisgründen - um zu Unrecht bewilligte Rentenleistungen korrigieren zu können - diese Ermächtigung darüber hinaus erweitern. Er erteilte daher dem Versicherungsträger eine über die Vorschrift des § 1304 RVO hinausgehende befristete weitere Ermächtigung, in Durchbrechung der Rechtskraft von Bewilligungsbescheiden die Rente auch dann zu entziehen, wenn zwar eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Versicherten nicht nachzuweisen war, aber festgestellt wurde, daß der Versicherte nicht invalide war. Aus diesem Grunde erging § 24 des am 31. Dezember 1933 in Kraft getretenen Gesetzes zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung vom 7. Dezember 1933 (RGBl. I S. 1059), der vorschrieb, daß die Entziehung der Renten aus der Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung - beschränkt bis zum 31. Dezember 1937 - "auch" ohne wesentliche Änderung zulässig sei, wenn eine erneute Prüfung ergab, daß der Rentenempfänger nicht invalide war. Der Gesetzgeber wollte hierdurch also lediglich für eine gewisse Übergangszeit von dem Erfordernis des Nachweises der "wesentlichen Änderung" absehen, wollte also nur zum Ausdruck bringen, daß die nach § 1304 RVO erst bei dem doppelten Nachweis einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse und dem Nichtmehrvorliegen von Invalidität mögliche Rentenentziehung vorübergehend "auch" zulässig sein sollte, wenn nur festgestellt wurde, daß Invalidität nicht vorlag. Da § 1304 RVO a.F. (später § 1293 Abs. 1 RVO a.F.) die Entziehung der Rente nicht in das Ermessen des Versicherungsträgers stellt, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen dem Versicherungsträger die Entziehung der Rente zur Pflicht macht, muß aus dem Wörtchen "auch" in § 24 des Gesetzes vom 7. Dezember 1933 (später § 1293 Abs. 2 RVO) entnommen werden, daß hiermit nur eine Erweiterung der bereits in § 1304 RVO a.F. enthaltenen Rechtsmacht zum Handeln bezweckt war, daß aber im übrigen an den Grundsätzen der Rentenentziehung nichts geändert werden sollte. Hätte der Gesetzgeber die Entziehung der Rente für diese Übergangszeit in Abweichung des § 1304 RVO a.F. in das Ermessen des Versicherungsträgers stellen wollen, so hätte er das Wörtchen "auch" nicht einzusetzen brauchen. Darüber hinaus hätte er, wenn er einen von dieser Auslegung abweichenden Willen gehabt hätte, dies deutlich zum Ausdruck bringen müssen, da es der Systematik des Rechts der Invalidenversicherung in entscheidendem Maße widerspricht, wenn die Weitergewährung von Rentenleistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht und deren Gewährung also nur von dem Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, niemals aber von dem Ermessen des Versicherungsträgers abhängig ist, ausnahmsweise in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt werden sollte. Weder das Gesetz noch die amtliche Begründung ergeben irgendeinen Hinweis auf einen derartigen Willen des Gesetzgebers; (vgl. Anlage zum RABl. 1933 Nr. 36, Teil IV - An. Nr. 121 - S. 8 unter e; vgl. auch Eckert-Hoffmeister - Dobbernack, VO. v. 17.5.1934). Auch § 608 RVO, der eine ähnliche Regelung wie § 1293 RVO a.F. zum Inhalt hat, ist immer in diesem Sinne ausgelegt worden. Obwohl auch in § 608 nur gesagt ist, daß bei einer wesentlichen Änderung der Umstände eine neue Feststellung erfolgen "kann", ist nie zweifelhaft gewesen, daß bei Vorliegen dieser Voraussetzung eine neue Feststellung erfolgen muß (vgl. RVA. E. Nr. 1469, AN. 1895 S. 260, Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 3 zu § 608 RVO). Diese Auslegung des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. wird auch gestützt durch Art. IV § 5 der VO. vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419). Danach konnte die Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO auch durch die Spruchinstanzen erfolgen. Da auch nach der schon damals herrschenden Rechtsauffassung wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung Ermessensentscheidungen grundsätzlich nicht von den Gerichten, sondern nur von den Verwaltungsbehörden getroffen werden konnten, muß hieraus geschlossen werden, daß der Gesetzgeber diese Entscheidungen nicht als Ermessensentscheidungen angesehen hat. Man kann nicht einwenden, daß er in diesen Übergangsfällen den Spruchinstanzen ausnahmsweise Ermessensentscheidungen übertragen wollte; denn wie sich aus dem Kommentar von Eckert-Hoffmeister-Dobbernack zur VO. vom 17. Mai. 1934, Erläuterung zu Art. IV § 5 ergibt, ist diese Übergangsvorschrift nur erlassen worden, um auch der Revisionsinstanz noch die Möglichkeit der Rentenentziehung in diesen Fällen zu geben, weil sie nach damaliger Rechtsauffassung das neue Recht noch nicht anwenden konnte, wenn die Entscheidung des Oberversicherungsamts vor dem 1. Januar 1934 ergangen war. Ausdrücklich wird angeführt, daß den Oberversicherungsämtern das Recht der Rentenentziehung nach neuem Recht "selbstverständlich" schon ohnedies zustehe. Der Gesetzgeber hat also nicht angenommen, daß es sich bei diesen Entscheidungen um Ermessensentscheidungen handelt. Auch das Reichsversicherungsamt hat bereits den Standpunkt vertreten, daß die Entziehung der Rente "geboten" sei, wenn die Voraussetzungen des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. vorliegen (AN. 1937 S. 278). Nach alledem war der Entziehungsbescheid vor Erhebung der Klage nicht in einem Vorverfahren nach § 79 SGG nachzuprüfen.
Obwohl der 1. Senat in seinem Urteil vom 9. Februar 1956 (BSG. 2, 188 [195] und der 3. Senat in seinem Urteil vom 23. August 1956 (BSG. 3, 209 [214]) einen von dieser Auffassung abweichenden Standpunkt vertreten haben, bedurfte es einer Anrufung des Großen Senats nicht. Der 1. Senat hat, wie er auch auf Anfrage bestätigt hat, diese abweichende Rechtsansicht nur beiläufig geäußert; seine Entscheidung beruht in ihrem Kern nicht auf dieser Auffassung. Der 3. Senat hat auf Anfrage erklärt, er halte an seiner Rechtsansicht, daß es sich bei der Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. um eine Ermessensentscheidung handele, nicht fest.
Auch die weiteren Verfahrensrügen der Klägerin greifen nicht durch. Die Klägerin übersieht, daß es grundsätzlich Sache des Tatsachengerichts ist, welchem Gutachten es folgen will. Eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt hier jedenfalls nicht vor, da das Landessozialgericht überzeugend dargelegt hat, daß auf Grund der eingeholten Gutachten bei der Klägerin Invalidität nicht vorliegt. Insbesondere kann keine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung darin erblickt werden, daß das Landessozialgericht sich u.a. auf ein Aktengutachten gestützt hat; seine Beweiswürdigung verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze. Auch ist nicht ersichtlich, daß das Landessozialgericht gegen seine Amtsermittlungspflicht verstoßen hätte. Nach dem dem Urteil zugrunde gelegten schlüssigen Gutachten durfte das Landessozialgericht ohne weitere Ermittlungen annehmen, daß die Klägerin noch eine Reihe der aufgezählten Arbeiten verrichten kann.
Da die Revision somit unstatthaft ist, mußte sie nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen