Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel. Rechtliches Gehör. Urteil. Wirksamkeit vor Zustellung. Schriftliche Niederlegung der Urteilsformel. Unterschrift. Verlautbarung. Innerer Geschäftsbetrieb
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Urteil kann schon vor der in § 133 S. 1 SGG vorgeschriebenen Zustellung wirksam und damit für das Gericht unabänderbar sein, wenn die Urteilsformel schriftlich niedergelegt und von den beteiligten Richtern unterschrieben worden ist und sich das Gericht durch Verlautbarung gebunden, d.h. sich des Urteils entäußert hat, indem dieses mit dem Willen des Gerichts aus dem inneren Geschäftsbetrieb hinausgetreten ist.
2. Eine solche Verlautbarung liegt auch dann vor, wenn der Urteilstenor der Geschäftsstelle übergeben wurde und ein Beteiligter auf Anfrage über die Entscheidung unterrichtet wird, etwa von der Geschäftsstelle im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden.
3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet nur, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht, gibt einem Beteiligten aber keinen Anspruch darauf, mit seinem Vorbringen auch in der Sache Erfolg zu haben, letztlich also „erhört” zu werden.
Normenkette
SGG §§ 62, 133 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 2, § 169 Sätze 2-3, § 202 S. 1; SGB X § 33; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 318
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. November 2018 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wendet sich in der Hauptsache gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 20 bzw 30. Mit Urteil vom 16.11.2018, das ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das LSG entschieden, dass die angefochtenen Bescheide der Beklagten für den Zeitraum 30.4.2015 bis 7.5.2015 vollständig und entsprechend dem Anerkenntnis der Beklagten vom 12.11.2018 für die Zeit ab dem 8.5.2015 insoweit aufgehoben werden, als der GdB auf weniger als 30 herabgesetzt wird. Im Übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Berufungsgericht habe sich mit seinen Ausführungen im Schreiben vom 25.11.2018 zur Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg und dem Bestimmtheitsgebot des § 33 SGB X nicht auseinander gesetzt. Schriftsätze, die vor der Verkündung des Urteils eingehen, seien aber vom Gericht zu berücksichtigen. Vorliegend sei die Verkündung gemäß § 133 S 1 SGG durch die Zustellung des Urteils ersetzt worden, die am 15.12.2018 erfolgt sei.
II
Die Beschwerde ist nicht zulässig. Der Kläger hat in seiner allein fristgerechten Beschwerdebegründung vom 15.3.2019 den von ihm allein gerügten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 S 3 SGG erforderlichen Weise bezeichnet.
Der Kläger trägt vor, das LSG habe in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass sein Schreiben vom 25.11.2018 nicht mehr zu berücksichtigen sei, nachdem ihm auf telefonische Nachfrage auf Veranlassung des Berichterstatters in Rücksprache mit dem Vorsitzenden durch die Geschäftsstelle der Tenor mitgeteilt worden sei. Dies sei jedoch nicht zutreffend. Das Schreiben vom 25.11.2018 hätte vom LSG berücksichtigt werden müssen, weil ihm das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil des LSG erst am 15.12.2018 zugestellt worden sei. Zwar ist es zutreffend, dass nach § 133 S 1 SGG bei Urteilen, die nicht aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen, die Verkündung durch Zustellung ersetzt wird. Der Kläger verkennt jedoch, dass ein Urteil schon vor der in § 133 S 1 SGG vorgeschriebenen Zustellung wirksam und damit für das Gericht nach § 202 S 1 SGG iVm § 318 ZPO unabänderbar sein kann. Das kann dann der Fall sein, wenn die Urteilsformel schriftlich niedergelegt und von den beteiligten Richtern unterschrieben worden ist und sich das Gericht durch Verlautbarung gebunden, dh sich des Urteils entäußert hat, in dem dieses mit dem Willen des Gerichts aus dem inneren Geschäftsbetrieb hinausgetreten ist (vgl BGH Beschluss vom 12.7.2012 - IX ZB 270/11 - Juris RdNr 8; BGH Urteil vom 1.4.2004 - IX ZR 117/03 - Juris RdNr 8; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 125 RdNr 4b). Eine solche Verlautbarung liegt auch dann vor, wenn der Urteilstenor der Geschäftsstelle übergeben wurde und ein Beteiligter auf Anfrage über die Entscheidung unterrichtet wird, etwa - wie vorliegend der Kläger am 23.11.2018 - von der Geschäftsstelle im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden (vgl BSG Urteil vom 14.12.1978 - 2 RU 23/77 - SozR 1500 § 124 Nr 5 S 9 f; BVerwG Beschluss vom 11.5.2015 - 7 B 18/14 - Juris RdNr 7; BFH Beschluss vom 8.3.2011 - IV S 14/10 - Juris RdNr 9; Keller, aaO, Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 133 RdNr 5; Harks in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 133 RdNr 7, jeweils mwN). Warum trotz der hiernach bereits am 23.11.2018 eingetretenen Bindungswirkung des angefochtenen Urteils das Schreiben des Klägers vom 25.11.2018 - und insbesondere dort enthaltener etwaiger neuer Vortrag - vom Berufungsgericht bei der Entscheidungsfindung noch hätte berücksichtigt werden müssen, zeigt der Kläger nicht auf.
Im Übrigen trägt er selbst vor, dass sich das LSG gleichwohl ("Ungeachtet dessen …") in den Entscheidungsgründen von sich aus mit den von ihm in diesem Schreiben (und in dem als dessen Anlage beigefügten Schreiben vom 23.11.2018) vorgetragenen Argumenten sowohl hinsichtlich der dort zitierten Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg als auch zum Bestimmtheitsgebot des § 33 SGB X sowie der Problematik einer rückwirkenden Aufhebung auseinander gesetzt habe. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet jedoch nur, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht (stRspr, zB BSG Beschluss vom 29.10.2018 - B 13 R 4/18 BH - Juris RdNr 6 mwN). Genau dies hat das LSG aber getan, indem es ausgeführt hat, dass dem klägerischen Schreiben vom 25.11.2018 kein neuer - dh aus früheren Schreiben des Klägers nicht bereits bekannter - Vortrag zu entnehmen sei, der zu einer anderen Beurteilung hätte führen können. Das Prozessgrundrecht auf rechtliches Gehör gibt einem Beteiligten keinen Anspruch darauf, mit seinem Vorbringen auch in der Sache Erfolg zu haben, letztlich also "erhört" zu werden. Dass das LSG der Rechtsansicht des Klägers nicht gefolgt ist und er das Berufungsurteil inhaltlich für unzutreffend hält, eröffnet die Revisionsinstanz nicht (vgl stRspr, zB Senatsbeschluss vom 28.9.2018 - B 9 V 21/18 B - Juris RdNr 11 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die nicht formgerecht begründete Beschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13219868 |