Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung. streitige Beurteilungen von Sachverständigen
Orientierungssatz
In einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem Beurteilungen von Sachverständigen vorliegen und zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, muss jeder Beteiligte damit rechnen, dass das Gericht auch zu seinen Ungunsten entscheiden kann. Dementsprechend kann es zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geboten sein, vorsorglich weitere Beweisanträge zu stellen.
Normenkette
SGG §§ 62, 109, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Mai 2012 in der Fassung des Beschlusses vom 26. September 2012 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat nach mündlicher Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter mit Urteil vom 22.5.2012 einen Anspruch des Klägers auf Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen eines Vorfalls vom 5.12.1997 verneint. Dieses Urteil ist zunächst gemäß § 136 Abs 4 SGG in verkürzter Form abgefasst und den Beteiligten zugestellt worden. Mit Beschluss vom 26.9.2012 hat das LSG durch den Berichterstatter unter Berufung auf § 139 SGG das Urteil um Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung ergänzt. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der geltend gemachte Zulassungsgrund ist nicht ordnungsgemäß dargetan worden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 S 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Kriterien hat der Kläger nicht hinreichend Rechnung getragen.
Der im Berufungsverfahren bereits anwaltlich vertretene Kläger rügt als Verfahrensmangel (Verstoß gegen Art 103 Abs 1 GG) den Erlass einer sog Überraschungsentscheidung. Das LSG habe seine Entscheidung auf den bislang unerörtert gelassenen Gesichtspunkt der nach Auffassung des Sachverständigen Dr. W. bei der Einschätzung der behandelnden Psychiater fehlenden Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Diagnoseschlüsseln gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wende gegeben, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht habe rechnen müssen. Damit macht der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG geltend, welche er allerdings nicht schlüssig dargetan hat.
Hierzu hätte der Kläger unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrensganges vorbringen müssen, inwiefern er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es besteht nämlich insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen; denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG Beschlüsse vom 31.8.1993 - 2 BU 61/93 - HVBG-INFO 1994, 209, vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und vom 17.2.1999 - B 2 U 141/98 B - HVBG-INFO 1999, 3700; BVerfGE 66, 116, 147; 74, 1, 5; 86, 133, 145). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188, 190).
Damit hätte es der Darlegung des Klägers bedurft, weshalb er auch vor dem Hintergrund der gerichtlichen Verfügungen vom 28.3. und 31.5.2011, wonach die Berufung angesichts der Beweislage keine Aussicht auf Erfolg habe, unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Ein derartiger Vortrag wäre hier umso mehr erforderlich gewesen, als in einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem Beurteilungen von Sachverständigen vorliegen und zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, jeder Beteiligte, also auch der Kläger, damit rechnen muss, dass das Gericht auch zu seinen Ungunsten entscheiden kann. Dementsprechend hätte der Kläger zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör vorsorglich weitere Beweisanträge stellen können und müssen, zumal das LSG offenbar nicht zu erkennen gegeben hat, es wolle der Beurteilung von Dr. W. nicht folgen (vgl auch dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22).
Schließlich hat der Kläger auch nicht dargelegt, inwiefern er in der mündlichen Verhandlung des LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35).
Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen