Leitsatz (amtlich)
Das Gericht kann nach Lage der Akten auch entscheiden, wenn keiner der Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung erscheint, sofern in der Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach Lage der Akten hingewiesen worden ist.
Normenkette
SGG § 126 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Celle vom 16. März 1955 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Revision im angefochtenen Urteil nicht zugelassen. Sie ist deshalb nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
In dieser Hinsicht hat die Revision in erster Linie geltend gemacht, das LSG. hätte nicht nach Lage der Akten entscheiden dürfen, weil keiner der Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG. erschienen sei. Diese Rüge geht fehl. Zwar regelt § 126 SGG ausdrücklich nur den Fall, daß einer der Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint. Doch zwingt das im ersten Halbsatz des § 126 SGG verwendete Wort "auch" zu der Annahme, daß nicht nur in diesem Falle eine Entscheidung nach Aktenlage möglich ist. Die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift zeigt, daß als Alternative zu der in § 126 SGG hervorgehobenen Möglichkeit der Fall des Ausbleibens sämtlicher Beteiligter miterfaßt werden sollte, vorausgesetzt daß in der Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach Aktenlage hingewiesen worden ist. Nach mehrfachen Erörterungen des § 74 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung (entspricht dem jetzigen § 126 SGG) hat die Bundesregierung die jetzige Fassung des § 126 SGG mit der Begründung vorgeschlagen, diese Fassung sei "zur Klarstellung" zu wählen, daß auch im Falle des Ausbleibens sämtlicher Beteiligter nach Lage der Akten entschieden werden könne (Deutscher Bundestag, 1. Wahlp., Drucks. Nr. 4357 Anl. 3, zu Nr. 28 (S. 49)); die vorgeschlagene Fassung wurde ohne weitere Erörterung zum Gesetz erhoben.
Diese mit dem Wortlaut des § 126 SGG in Einklang stehende Auffassung des Gesetzgebers entspricht auch allein dem das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit beherrschenden Grundsatz der Beschleunigung (vgl. BSG. 1 S. 36 (38)). In klarem Widerspruch zu diesem Grundsatz würde die Erledigung des Rechtsstreits ungerechtfertigt verzögert werden, wenn das Verfahren, wie die Revision meint, bei Nichterscheinen der Beteiligten ruhen müßte, bis einer der Beteiligten es wieder aufnimmt. Wie das Gericht in diesem Falle unter der Voraussetzung, daß auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist (§ 110 Satz 2), verhandeln kann - wobei sich die "Verhandlung", falls nicht eine Beweiserhebung stattfindet (vgl. § 127 SGG), nach Lage der Dinge allerdings regelmäßig auf die Darstellung des Sachverhalts beschränkt (§ 112 Abs. 1 Satz 2 SGG) -, so kann es auch ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden (im Ergebnis zustimmend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: März 1957 S. 248 t ff.; Peters-Sautter-Wolff, SGG, Stand: Mai 1957, Anm. 3 zu § 126; Hofmann-Schroeter, SGG 2. Aufl., Anm. 3 zu § 126; Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Stand: April 1957, Anm. 3 zu § 126). Ob eine Entscheidung nach Lage der Akten auch dann möglich ist, wenn einer der Beteiligten einer solchen Entscheidung widersprochen hat, kann dahingestellt bleiben, weil ein solcher Widerspruch hier nicht vorliegt.
Die in § 126 SGG für eine Entscheidung nach Aktenlage geforderte Voraussetzung, daß die Beteiligten in der Ladung auf die Möglichkeit einer solchen Entscheidung hingewiesen worden sind, ist erfüllt, wie die Verfügung des Vorsitzenden des Senats, mit der die Ladung der Beteiligten zum Termin der mündlichen Verhandlung angeordnet wurde, erkennen läßt. Zutreffend ist das Berufungsgericht somit davon ausgegangen, daß es nach Lage der Akten entscheiden durfte.
Weiterhin hat der Kläger gerügt, daß das LSG. zu Unrecht eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers im Sinne des § 1293 Abs. 1 RVO (alter Fassung) angenommen habe. Er hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der Gutachter Dr. W seine auf die Kriegsdienstbeschädigung zurückzuführende Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 40 vom Hundert, der Facharzt für Orthopädie Cr. C hingegen auf 90 vom Hundert geschätzt habe. Soweit mit dieser Rüge geltend gemacht werden soll, daß das Berufungsgericht die Grenzen des Rechts zur freien Beweiswürdigung verletzt habe (§ 128 Abs. 1 SGG), ist dieses Vorbringen nicht schlüssig. Die Einschätzung der durch Kriegsdienstbeschädigung hervorgerufenen Minderung der Erwerbsfähigkeit hat keine unmittelbare Beziehung zu der Frage der Invalidität des Klägers, die vom LSG. nach § 1254 RVO (alter Fassung) beurteilt worden ist. Von diesem Standpunkt aus hat das LSG. - gestützt auf die insoweit übereinstimmenden Gutachten von Dr. W und Dr. C - festgestellt, daß dem Kläger Arbeiten zugemutet werden könnten, die es ihm ermöglichten, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Es ist nicht ersichtlich, daß das LSG. bei dieser Feststellung die Grundsätze des Rechts der freien Beweiswürdigung verkannt hat.
Auch die weitere Rüge, die sich gegen die Feststellung des LSG. richtet, es gebe in Braunschweig in gewerblichen Betrieben viele mechanische Tätigkeiten, die leicht erlernbar seien und die im Sitzen ausgeübt werden könnten, ist nicht begründet. Das LSG. konnte diese Feststellung auf Grund seiner allgemeinen Erfahrungen und seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse treffen und diese Tatsache somit als offenkundig ansehen, ohne daß es einer besonderen Beweisaufnahme in dieser Richtung bedurfte.
Da somit keine der Rügen durchgreift, mit der der Kläger Verfahrensmängel geltend gemacht hat, muß die Revision als unzulässig nach § 169 Satz 2 SGG verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen