Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 29.05.1996; Aktenzeichen L 1 Ka 1/95)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29. Mai 1996 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten der Beklagten für das Beschwerdeverfahren.

 

Tatbestand

I

Die Vertreterversammlung (VV) der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) wählte den Kläger, der zur Zeit der DDR Kreishygienearzt gewesen war und einige Jahre (bis 1981) auch Kontakt zur Staatssicherheit (Stasi) gehabt hatte, im Jahr 1991 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Vorstandes. Im November 1991 gab er – ebenso wie alle anderen gewählten Mandatsträger – schriftlich die Erklärung ab, weder direkt oder wissentlich indirekt mit der Stasi zusammengearbeitet noch an sie Informationen über Personen weitergegeben zu haben. Im Januar 1993 bestätigte die VV ihn in seinem Amt für die bis Ende 1996 laufende Amtsperiode.

Im August 1993 berichtete die sog Gauck-Behörde der Beklagten, daß der Kläger „Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit” (IM) gewesen sei und in diesem Rahmen auch Berichte über Personen abgefaßt habe (während der Kläger geltend macht, nur in beruflich-fachlicher Hinsicht betreffend Gesundheitswesen und Hygiene mit der Stasi Kontakt gehabt zu haben). Daraufhin beschloß die VV am 27. November 1993 – nach Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage in ihrer Satzung (§ 7 Abs 4) – seine Amtsenthebung. Nach einem Beschluß des Sozialgerichts (SG), daß diese Verfahrensweise rechtswidrig sei, beschloß die VV erneut am 26. November 1994 seine Amtsenthebung.

Das vom Kläger angerufene SG sah die Amtsenthebung als rechtswidrig an: Art 103 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) sei verletzt, da im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung im November 1991 die Sanktion der Amtsenthebung nicht existiert habe (Urteil vom 2. Februar 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage unter Aufhebung des SG-Urteils abgewiesen: Die Amtsenthebung sei jedenfalls in der Gestalt des zweiten Beschlusses der VV vom 26. November 1994 – nach Vorliegen der Rechtsgrundlage des § 7 Abs 4 der Satzung – rechtens. Art 103 Abs 2 GG stehe nicht entgegen, weil die Amtsenthebung keine Strafe im Sinne dieser Verfassungsbestimmung darstelle.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat keinen Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig und im übrigen unbegründet.

Der vom Kläger allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) setzt voraus, daß sich die zu treffende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) über den Einzelfall hinaus auswirkt (Grundsätzlichkeit der Rechtssache), daß die umstrittene Rechtsfrage durch die Revisionsentscheidung in dieser Sache geklärt werden kann (Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage) und daß die aufgeworfene Rechtsfrage der Klärung bedarf (Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage). Alles dies muß der Beschwerdeführer in seiner Revisionsbegründung darlegen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nichtzulassungsbeschwerde nicht schon deshalb insgesamt unbegründet ist, weil die vom Kläger aufgeworfenen Fragen infolge Erledigung der Hauptsache nicht mehr klärungsfähig sind. Für eine Erledigung könnte sprechen, daß die Amtsperiode, für die der Kläger gewählt worden war, mit Ende des Jahres 1996 ablief und das Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses zweifelhaft erscheint (zur Erledigung des Nichtzulassungsbeschwerde-Verfahrens vgl BVerwGE 72, 93 f). Die Frage der Erledigung und einer deshalb fehlenden Klärungsfähigkeit braucht hier aber nicht entschieden zu werden, denn die vom Kläger eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist ohnehin aus anderen Gründen zurückzuweisen.

Bei einer der drei vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen (Beschwerdebegründung S 20 ff) fehlt es an der erforderlichen Darlegung der Klärungsfähigkeit und Klärungsbedürftigkeit (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Bei den anderen beiden Fragen ist dies zwar ausreichend dargelegt; die von ihm geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung liegt aber nicht vor.

Unzulässig ist die Beschwerde, soweit der Kläger die Frage aufwirft, ob das LSG das Beurteilungsermessen bzw die Einschätzungsprärogative der VV durch eigenes Beurteilungsermessen ersetzen dürfe, und hierzu ausführt, daß das LSG sich für die Annahme eines groben Pflichtenverstoßes nicht auf denselben Grund wie die VV bei ihrem Amtsenthebungsbeschluß gestützt habe (Beschwerdebegründung S 20 iVm S 27 ff). Dazu fehlt es an der erforderlichen Darlegung der Klärungsfähigkeit; denn die vom Kläger gestellte Frage kann in einem Revisionsverfahren so nicht zur Klärung anstehen. Die Bewertung des LSG, daß der Kläger eine wahrheitswidrige Ehrenerklärung abgegeben und dadurch die Voraussetzungen für eine Amtsenthebung erfüllt habe, stimmt nämlich mit dem vom LSG festgestellten Inhalt des Bescheides überein. Im Berufungsurteil wird insoweit ausgeführt, daß nach dem Bescheid vom 16. Dezember 1994 „nicht das Ausmaß, sondern das wahrheitswidrige Leugnen der früheren Kontakte zum MfS … ausschlaggebend für die Amtsenthebung” gewesen sei (LSG-Urteil S 9). Nur wenn der Kläger diese Feststellungen mit Verfahrensrügen angegriffen hätte, könnte die von ihm aufgeworfene Frage, ob das Gericht seine Beurteilung an die Stelle derjenigen der VV bzw KÄV setzen dürfe, möglicherweise zur Klärung anstehen. Diese Feststellungen des LSG sind jedoch nicht angegriffen worden. Ausführungen dazu, weshalb seine Beschwerde dennoch zur Klärung der von ihm aufgeworfenen Rechtsfrage führen kann, fehlen indessen. Damit ist den Anforderungen einer formgerechten Begründung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) nicht Rechnung getragen.

Unbegründet ist die Beschwerde hinsichtlich der weiteren Fragen.

Für grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig hält der Kläger zunächst die Frage, ob die Enthebung von einem Ehrenamt in der KÄV auf satzungsrechtlicher Grundlage nicht zumindest wegen eines a u c h strafenden Charakters gegen Art 103 Abs 2 GG verstoße (Beschwerdebegründung S 20 iVm S 21 ff). Eine solche grundsätzliche Bedeutung vermag der Senat indessen nicht zu erkennen; denn es bedarf keiner Klärung durch ein Revisionsverfahren, daß es sich bei der Amtsenthebung nicht um eine Strafe im Sinne des Art 103 Abs 2 GG handelt:

Art 103 Abs 2 GG gilt nur für pönalisierende Sanktionen mit repressiv-strafendem Charakter, wie dies etwa im Kriminalstrafrecht, im Ordnungswidrigkeitenrecht und auch zB im Disziplinarrecht der Fall ist (vgl betr Ordnungswidrigkeitenrecht BVerfGE 9, 137, 142 f; 42, 261, 262 f, und ferner zB BVerfGE 71, 108, 114; 81, 132, 135; 87, 363, 391; 87, 399, 411; vgl betr Disziplinarstrafen sowie ehren- und berufsgerichtliche Sanktionen BVerfGE 26, 186, 203 f; 33, 125, 164; 45, 346, 351; 60, 215, 233 f). Bei der Sanktion muß es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) um die Zufügung eines „Übels” mit spezifischem Unwerturteil in Form eines Eingriffs in die persönliche Freiheit oder in das Vermögen handeln (so vor allem BVerfGE 42, 261, 262 f mit Bezugnahme auf BVerfGE 9, 137, 144 f).

Die Amtsenthebung in körperschaftlichen Satzungen ist indessen von ihrem Rechtsgehalt her keine repressiv-strafende Maßnahme. Sie ist ein Rechtsakt, der die erfolgte Amtseinsetzung wieder rückgängig macht, um die Selbstverwaltung vor groben Pflichtverletzungen zu bewahren (BSGE 48, 243, 247 = SozR 5310 § 6 Nr 2 S 9/10). Sie hat als solche präventiven Charakter, indem sie künftigen erneuten Pflichtverletzungen vorbeugen soll. Nur wenn zusätzlich zur Amtsenthebung noch eine Kriminal- oder Disziplinarstrafe oder ein Bußgeld angedroht wäre bzw verhängt würde, wäre insoweit Art 103 Abs 2 GG einschlägig. Ein solcher zusätzlicher Eingriff in die persönliche Freiheit oder in das Vermögen des Klägers steht hier aber nicht im Streit. Daraus, daß eine Maßnahme – wie auch Amtsenthebungen in manchen Fällen – diskriminierende Wirkungen entfalten kann, ergibt sich nicht die Anwendbarkeit des Art 103 Abs 2 GG. Auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des BVerfG vom 23. Oktober 1985 (BVerfGE 71, 108), die die Verhängung eines Bußgeldes im Zusammenhang mit der Abberufung von einem Ehrenamt betraf. Das BVerfG hat das im Zusammenhang mit der Abberufung verhängte Bußgeld mangels ausreichenden Bußgeldtatbestandes für unvereinbar mit Art 103 Abs 2 GG erklärt. Die Anwendung dieser Verfassungsbestimmung auch auf die Abberufung als solche hat das BVerfG erkennbar nicht in Betracht gezogen. Auch in anderen Fällen zieht das BVerfG Art 103 Abs 2 GG immer nur insoweit heran, als eine Verhaltensweise straf- oder bußgeldbewehrt ist (vgl zB BVerfGE 80, 244, 256 f betr strafbewehrtes Vereinsverbot; BVerfGE 81, 70, 94 betr bußgeldbewehrtes Mietwagen-Rückkehrgebot).

Eine Klärungsbedürftigkeit vermögen auch die vom Kläger herangezogenen Ausführungen von L., … die ebenfalls das SG Dresden in seinem Urteil vom 2. Februar 1995 angeführt hat, nicht zu begründen. Dessen Ausführungen (Rechtssoziologie 1 ≪1972≫, S 53 ff: „Abwicklungen von Enttäuschungen”) betreffen nur die Wirkungen in soziologischer Hinsicht. Sie können nicht dartun, daß die Enthebung von einem Ehrenamt in der Selbstverwaltung als solche eine pönalisierende Strafe im Sinne der zu Art 103 Abs 2 GG erfolgten Begriffsbildung darstellt.

Eine klärungsbedürftige grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage vermag der Senat ferner nicht in der vom Kläger aufgeworfenen Frage zu sehen, ob eine solche Amtsenthebung allein aufgrund autonomen Satzungsrechts ohne gesetzliche Grundlage erfolgen könne (Beschwerdebegründung S 20 iVm S 23 ff). Soweit sich der Kläger für seine Forderung nach einer gesetzlichen Regelung auf die seiner Meinung nach vorliegende Wesensart als Strafe iS des Art 103 Abs 2 GG beruft (aaO S 23/24), ist auf obige Ausführungen zu verweisen, die ergeben, daß diese Verfassungsnorm nicht einschlägig ist und daher die Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage nicht begründen kann. Aber es gibt auch keine sonstigen Gesichtspunkte, die eine gesetzliche Regelung erfordern. Der Kläger zieht zum Vergleich die Vorschriften über die Feststellung der Wählbarkeit in die Organe der Landesärzte-, -zahnärzte- und -tierärztekammern heran (aaO S 25 f). Der Fall der Feststellung der (Nicht-)Wählbarkeit mit eventueller negativer Folge für den Status ist indessen nicht, wie der Kläger meint, „in Funktion und Wirkung voll und ganz vergleichbar mit der Amtsenthebung wegen Amtspflichtverletzung” (aaO S 26). Die Frage der Amtsenthebung ist viel deutlicher als die Wählbarkeitsfrage dem internen Bereich der Organisation zuzuordnen, steht mithin dem Bereich der eigenen Satzungskompetenz näher. Regelungen nur aufgrund kammerrechtlicher Satzungsgewalt hat das BVerfG sogar im Umfeld des Art 103 Abs 2 GG für ausreichend erachtet (vgl BVerfGE 45, 346, 352/353 betr allgemeine Berufspflichten, deren Verletzung in berufsgerichtlichen Verfahren geahndet wird). Zur Satzungsautonomie der VV gehört es auch, die Zusammensetzung, Wahl, Amtsführung sowie Aufgaben und Befugnisse und schließlich die Zahl der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane zu regeln, und zu der Kompetenz, die „Zusammensetzung” der VV zu regeln, gehört als ergänzende Befugnis auch das Recht der VV, durch Satzungsrecht die Doppelmitgliedschaft in Vertreterversammlung und Vorstand der KÄV auszuschließen (siehe BSGE 71, 187, 191 = SozR 3-2500 § 80 Nr 1 S 5). Aufgrund der Kompetenz, die „Wahl” und „Amtsführung” zu regeln, hat die VV auch ohne weiteres die Befugnis, in der Satzung die Möglichkeit der Abwahl aufgrund pflichtwidriger Amtsführung vorzusehen und davon Gebrauch zu machen.

Der Einwand des Klägers, daß die Inkompatibilitätsfrage immerhin in § 80 Abs 2 Satz 2 SGB V angesprochen sei und deshalb die Satzungskompetenz hierauf erstreckt werden könne, daß aber für eine Befugnis zur Regelung der Abwahl jeglicher Anknüpfungspunkt im Gesetz fehle (Beschwerdebegründung S 24), greift nicht durch. In dem Urteil des Senats vom 28. Oktober 1992 (BSGE 71, 187, 191 = SozR 3-2500 § 80 Nr 1 S 5) wird § 80 Abs 2 Satz 2 SGB V nicht als Begründung für die Befugnis der VV zur Regelung der Inkompatibilität herangezogen, sondern nur unter dem Aspekt, ob sie einer weitergehenden Inkompatibilitätsregelung durch Satzung entgegenstehe. Legitimationsgrundlage ist nach der genannten Entscheidung die Satzungsautonomie, die umfassend verstanden wird und dementsprechend auch als tragfähig für eine Regelung der Abwahl aufgrund pflichtwidriger Amtsführung anzusehen ist.

Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist mithin nicht gegeben, so daß die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision insgesamt zurückzuweisen ist.

Der Inhalt der erst nach Ablauf der Beschwerdefrist eingereichten Schriftsätze, die neue Beschwerdegründe im Sinne des § 160 Abs 2 SGG ohnehin nicht enthalten, hat nicht zu einem anderen Ergebnis führen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175792

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