Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. November 1996 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „außergewöhnliche Gehbehinderung” (Merkzeichen aG).
Der Beklagte hat die beantragte Feststellung des Merkzeichens aG abgelehnt, Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Der Bundesminister für Verkehr hat in seiner allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) zur Straßenverkehrsordnung (StVO) idF vom 22. Juli 1976 (BAnz Nr 142 vom 31. Juli 1976 S 3) aufgrund des § 6 Abs 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) idF vom 6. August 1975 (BGBl I S 2121) zu § 46 Abs 1 Satz 1 Nr 11 StVO vom 16. November 1970 (BGBl I S 1565) idF vom 5. August 1976 (BGBl I S 2067) mit Zustimmung des Bundesrates folgendes bestimmt:
Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen:
Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Zu Unrecht betrachtet die Klägerin als klärungsbedürftig, ob die genannte VV aufgrund der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts ≪BVerfG≫ (BVerfGE 40, 237, 250; 77, 170, 230) nicht als Rechtsnorm hätte ergehen müssen.
Die Klägerin übersieht zunächst, daß der Gesetzgeber 1980 den Begriff des „Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung” in Kenntnis der bisher dazu ergangenen VV und damit auch der diesem Begriff durch die VV gegebenen Auslegung in das StVG und in die StVO übernommen hat (vgl die durch das Gesetz vom 6. April 1980 ≪BGBl I S 413 – in Kraft seit 12. April 1980≫ in das StVG eingefügte Nr 14 des § 6 Abs 1 und die Nr 2 des durch die Änderungsverordnung vom 21. Juli 1980 ≪BGBl I S 1060 – in Kraft seit 1. August 1980≫ in die StVO eingefügten Abs 1b Satz 1 des § 45).
Die Klägerin übersieht ferner, daß die vom Verkehrsminister in der allgemeinen VV zu § 46 Abs 1 Satz 1 Nr 11 StVO aufgestellten Maßstäbe Eingang in die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” (AHP) gefunden haben (vgl Nr 27 und Nr 31 der AHP 1983 und der AHP 1996). Mit der Frage, inwieweit sich die nähere Konkretisierung der medizinischen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen (vgl dazu heute § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz ≪SchwbG≫) durch die AHP mit der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG vereinbaren läßt, hat sich der Senat bereits in mehreren Entscheidungen befaßt (vgl SozR 3-3870 § 3 Nr 5 und § 4 Nr 1; BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; vgl auch BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6) und dargelegt, daß zwar gegen die rechtsnormähnliche Funktion der AHP unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung Bedenken bestehen (vgl dazu auch Mrozynski, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫, 2. Aufl 1995, Anm zu § 31), daß die AHP jedoch, mangels entsprechender Rechtsnormen, vorerst als geschlossenes Beurteilungsgefüge und als geeigneter Maßstab für die Bewertung konkreter Sachverhalte im Interesse der Gleichbehandlung der Schwerbehinderten nicht unbeachtet bleiben können, soweit sie nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen oder inhaltlich überholt sind. Das BMA hat den Bedenken des Senats inzwischen dadurch Rechnung getragen, daß es die Umwandlung der AHP in eine Rechtsverordnung vorbereitet (vgl Rundschreiben des BMA vom 30. Januar 1997 – VI 1-51011-2 – BABl 1997 Nr 4 S 78). Der Senat sieht keinen Anlaß, seine Rechtsprechung zu der Frage der – zumindest vorläufigen – Beachtlichkeit der AHP bis zur Schaffung der bevorstehenden Rechtsverordnung zu überprüfen.
Soweit die Klägerin geltend macht, die VV stehe inhaltlich nicht in Einklang mit höherrangigen Rechtsvorschriften, insbesondere mit der Überschrift zum SchwbG „Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft”), so ist die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig. Denn aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich nicht, inwieweit die Überschrift zum SchwbG bereits eine normative Regelung enthält und nicht – wie § 48 Abs 1 SchwbG (vgl dazu Dopatka in Gemeinschaftskommentar zum Schwerbehindertengesetz, 1992, RdNr 3 zu § 48), § 10 SGB I und Art 20 Abs 1 Grundgesetz (≪GG≫; Sozialstaatsprinzip) lediglich einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber (vgl Hesselberger, GG, RdNr 256 ff zu Art 20), aus dem regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen zu entnehmen sind.
Dasselbe gilt, soweit die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache wegen des durch das Gesetz zur Änderung des GG vom 27. Oktober 1994 (BGBl I S 3146) in das GG eingefügten Art 3 Abs 3 Satz 2 GG geltend macht, weil dieser zumindest eine erweiternde Auslegung der VV bedinge. Nach dem zum 15. November 1994 in Kraft getretenen Art 3 Abs 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Klägerin legt nicht dar, inwiefern sich dieses speziell für Behinderte geschaffene Abwehrrecht auf den in der VV enthaltenen Beurteilungsmaßstab iS einer nunmehr erforderlichen erweiternden Auslegung der darin aufgestellten Tatbestandsmerkmale auswirken soll. Eine solche Darlegung ist auch der Verweisung der Klägerin auf die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 12/8165, S 29) nicht zu entnehmen. Die neu geschaffene Verfassungsbestimmung geht auf einen Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zurück. Schon die zu diesem Entwurf gegebene Begründung spricht aber nur von einem „sozialstaatlichen Auftrag” durch die neue Verfassungsbestimmung, letztlich also nur von einer Betonung des bereits in Art 20 Abs 1 GG enthaltenen Sozialstaatsprinzips, abgesehen davon, daß die Begründung des Fraktionsentwurfs von der Mehrheit des Bundestages nicht übernommen worden ist; diese versprach sich von der Novellierung des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG nur eine „Signal- bzw Appellationswirkung”. Die Klägerin hätte daher darlegen müssen (§ 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), inwiefern die neue Verfassungsvorschrift eine ausdehnende Auslegung der alten VV gebietet, zumal diese keine Belastungen für Behinderte festsetzt, sondern umgekehrt einen Personenkreis von Behinderten umschreibt, dem eine besondere Vergünstigung zugedacht ist. Die nicht von der VV erfaßten Behinderten haben lediglich – ebenso wie nichtbehinderte Personen – die gemäß § 41 Abs 2 Nr 8 StVO erlassenen Park- und Halteverbote zu beachten, werden also ebenso wie Nichtbehinderte behandelt und nicht schlechter. Da die Klägerin mithin keine Gleichstellung von Behinderten mit Nichtbehinderten, sondern eine Erweiterung des Kreises der durch die Ausnahmeregelung der VV begünstigten Behinderten anstrebt, die auch ihr selbst zugute kommt, könnte sie allenfalls eine Ungleichbehandlung durch Unterlassen (vgl dazu Hesselberger, aaO, RdNr 136 ff) durch die mit der Abfassung der VV bzw AHP befaßten Bundesministerien geltend machen. Statt dessen rügt sie aber nur eine Benachteiligung bestimmter Behinderter gegenüber nichtbehinderten Personen. Für eine willkürliche Nichtberücksichtigung der von der VV nicht erfaßten Behinderten im Verhältnis zum begünstigten Personenkreis trägt die Klägerin somit keine Gesichtspunkte vor. Es besteht für eine derartige Sachlage auch kein Anhaltspunkt (vgl die für eine Einschränkung des durch die Ausnahmeregelung begünstigten Personenkreises sprechenden Erwägungen im Urteil des Senats vom 13. Dezember 1994 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 mwN).
Nach allem erweist sich das Rechtsmittel der Klägerin insgesamt als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen