Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Beschwerde. Zulässigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine außerordentliche Beschwerde ist nur in Fällen "greifbarer Gesetzeswidrigkeit" in seltenen Ausnahmefällen zulässig. Voraussetzung dafür ist, dass die angegriffene Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist.
2. Das kann insbesondere in Fällen groben prozessualen Unrechts der Fall sein, wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung nicht mehr verständlich ist oder auf sachfremden unhaltbaren Erwägungen beruht, offensichtlich willkürlich ist, jedenfalls "krasses Unrecht" darstellt.
Normenkette
SGG § 177
Verfahrensgang
Tenor
Die gegen die Beschlüsse des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Juli 2002 und 18. September 2002 – L 18 B 237/01 V ER – erhobenen außerordentlichen Beschwerden des Beschwerdeführers vom 28. August und 9. Oktober 2002 werden als unzulässig verworfen.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des gesamten Beschwerdeverfahrens.
Tatbestand
I
Der Freistaat Bayern (Beschwerdeführer) hat am 9. Oktober 2002 bei dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) außerordentliche Beschwerde gegen den Beschluss des LSG vom 18. September 2002 eingelegt, mit dem das LSG die außerordentliche Beschwerde des Beschwerdeführers vom 28. August 2002 gegen den Beschluss des LSG vom 31. Juli 2002 als unstatthaft verworfen hat.
Mit jenem Beschluss vom 31. Juli 2002 hatte das LSG auf die Beschwerde des Beschwerdegegners (des Klägers) den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg (SG) vom 20. August 2001 aufgehoben und die Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 26. Juni 2001 und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 26. Juni 2001 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2001 und der Klage vom 7. August 2001 angeordnet.
Der Beschwerdeführer hatte dem 1911 geborenen Beschwerdegegner mit Bescheid vom 26. Juni 2001 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2001 gemäß § 1a Bundesversorgungsgesetz (BVG) die diesem bisher nach dem BVG gewährten Versorgungsleistungen (Grundrente nach § 31 BVG; Kleiderverschleißpauschale nach § 15 BVG; Heilbehandlung nach § 10 Abs 1 und 2 BVG) wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit während der Herrschaft des Nationalsozialismus entzogen. Der Beschwerdegegner war vom Landgericht Frankfurt/Main durch Urteil vom 19. August 1968 wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen (Tötung von mehreren Tausend Juden) zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Der Beschwerdegegner verbüßte zwei Drittel der Strafe. Der Rest der Strafe war zur Bewährung ausgesetzt worden.
Das SG hat den Antrag des Beschwerdegegners auf (vorläufige) Weitergewährung der Versorgungsleistungen vom 21. Juli 2001 durch Beschluss vom 20. August 2001 zurückgewiesen. Der Beschwerde des Beschwerdegegners vom 10. September 2001 hat das LSG durch Beschluss vom 31. Juli 2002 stattgegeben. Dem Beschwerdegegner seien Versorgungsleistungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache weiter zu gewähren. Denn nach der im Verfahren der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage des § 86b Abs 1 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 Sozialgerichtsgesetz gebotenen summarischen Prüfung sei ein Erfolg des Beschwerdegegners in der Hauptsache wahrscheinlicher als ein Misserfolg. An der Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides bestünden ernstliche Zweifel. Insbesondere könne eine Entziehung der Versorgungsleistungen daran scheitern, dass die vom Beschwerdegegner begangenen Straftaten diesem wegen des Verwertungsverbotes des § 51 Bundeszentralregistergesetz (BZRG) nicht mehr vorgehalten werden dürften. Ob in diesem Zusammenhang Datenschutzbestimmungen, insbesondere ein Datenübermittlungsverbot zu Gunsten des Beschwerdegegners eingreife, könne offen bleiben.
Das LSG hat die am 29. August 2002 wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit eingelegte außerordentliche Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss vom 31. Juli 2002 als Gegenvorstellung gewertet und mit Beschluss vom 18. September 2002 als unstatthaft verworfen, weil der Beschluss weder gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs oder das Gebot des gesetzlichen Richters verstoße, noch sonst jeder gesetzlichen Grundlage entbehre.
Der Beschwerdegegner hat am 9. Oktober 2002 beantragt, die außerordentliche Beschwerde vom 28. August 2002 gegen den Beschluss des LSG vom 31. Juli 2002 dem Bundessozialgericht (BSG) zur Entscheidung vorzulegen. Zugleich hat er gegen den Beschluss des LSG vom 18. September 2002 außerordentliche Beschwerde beim LSG eingelegt. Das LSG hat die Beschwerdesache dem BSG zur Entscheidung vorgelegt.
Entscheidungsgründe
II
Die außerordentlichen Beschwerden sind unzulässig.
1. Dieser Rechtsbehelf ist im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht vorgesehen (§ 177 SGG). Der Bundesgerichtshof hat unter Hinweis auf die Neuregelung des Beschwerderechts durch das Zivilprozessreformgesetz vom 27. Juli 2001 (BGBl I, 1887, 1902 ff) – vgl § 74 Abs 1 Zivilprozessordnung – entgegenstehende frühere Rechtsprechung aufgegeben (vgl Beschluss vom 7. März 2002 in BGHZ 150, 133 ff) und die Betroffenen in entsprechenden Fällen auf Gegenvorstellungen verwiesen. Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ist dem gefolgt (Beschluss vom 16. Mai 2002 – 6 B 28/02; 6 B 29/02 – NJW 2002, 2657).
Der Senat kann offen lassen, ob er dem für das SGG generell folgt (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 172 RdNr 8 ff).
2. Die Beschlüsse des LSG vom 31. Juli 2002 und 18. September 2002 sind jedenfalls nicht greifbar gesetzeswidrig. Nach bisher auch vom BSG vertretener Auffassung ist nur in Fällen „greifbarer Gesetzeswidrigkeit” eine im Gesetz (§ 177 SGG) nicht vorgesehene außerordentliche Beschwerde in seltenen Ausnahmefällen zulässig. Voraussetzung dafür ist, dass die angegriffene Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (vgl den unveröffentlichten Beschluss des 7. Senats des BSG vom 22. Februar 2002 – B 7 AL 6/02 S –; Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats vom 25. April 2001 – 1 BvR 132/01 –, NJW 2001, 2159). Das kann insbesondere in Fällen groben prozessualen Unrechts der Fall sein, wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung nicht mehr verständlich ist oder auf sachfremden unhaltbaren Erwägungen beruht, offensichtlich willkürlich ist, jedenfalls „krasses Unrecht” darstellt (vgl den Beschluss des 5. Senats des BSG vom 17. September 1998 – B 5 RJ 4/98 S – unveröffentlicht).
Die vom LSG vertretene Rechtsauffassung überzeugt zwar nicht. Insbesondere dürften sich aus § 51 BZRG keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Entziehungsgeldbescheides ergeben. Das vom LSG gefundene Ergebnis ist indes noch nicht greifbar gesetzwidrig. Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dieses Ergebnis auf andere rechtliche Gesichtspunkte zu stützen. § 1a BVG setzt für eine Leistungsentziehung in Abs 2 eine Vertrauensschutzprüfung voraus und Abs 3 der Vorschrift enthält eine Regelung für Härtefälle. Bereits in der Begründung der Gesetzesvorlage war zum Ausdruck gebracht worden, dass in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob auch angesichts der Schwere der begangenen Verstöße gleichwohl ein schutzbedürftiges Vertrauen des Betroffenen einer Entziehung der Leistung entgegenstehen könne. Dabei sei das Individualinteresse an der Fortzahlung der Leistungen und das öffentliche Interesse an einer Entziehung der Leistungen jeweils fallbezogen abzuwägen. Dabei könne sich die Notwendigkeit ergeben, die Leistung nur teilweise zu entziehen oder eine angemessene Übergangsfrist einzuräumen (vgl BT-Drucks 13/8705 S 3).
Die Kostenentscheidung (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 193 RdNr 2) beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen