Leitsatz (amtlich)

Die Rüge, das LSG habe sich zu Unrecht für berechtigt gehalten , eine nach RVO § 909 verhängte Ordnungsstrafe auf die ihm angemessen erscheinende Höhe herabzusetzen, betrifft nicht das Verfahren des LSG, sondern die sachlich-rechtliche Beurteilung des Wesens des Ordnungsstrafrechts.

 

Normenkette

RVO § 909 Nr. 3 Fassung: 1924-12-15; SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. April 1956 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beklagte verhängte durch Bescheid vom 22. April 1954 gegen den Kläger, der mit seinem Unternehmen der Beklagten angehört, gemäß § 909 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Ordnungsstrafe von 50,- DM, weil er der Verpflichtung nach § 750 RVO nicht nachgekommen sei, den Lohnnachweis für das Jahr 1953 einzureichen. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies die Beklagte durch Bescheid vom 25. Mai 1954 als unbegründet zurück.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 15. November 1954 den Widerspruchsbescheid aufgehoben und der Beklagten aufgegeben, einen neuen Bescheid zu erteilen. Das SG hat die Voraussetzungen für die Verhängung einer Ordnungsstrafe als gegeben angesehen; es ist jedoch der Auffassung, daß die Strafsumme von 50,- DM nicht dem Verschulden des Klägers entspreche, dem nur eine Geldstrafe von 20,- DM angemessen sei, hält sich aber nicht für berechtigt, anstelle der Beklagten die Geldstrafe, deren Höhe in das Ermessen der Beklagten gestellt sei, selbst festzusetzen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 29. Juni 1955 erklärt, er bitte um Erlaß der Strafe unter Berücksichtigung seiner Ausführungen.

Durch Urteil vom 18. April 1956 hat das LSG wie folgt entschieden:

"Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 15.11.1954 und der Strafbescheid der Beklagten vom 22.4.1954 in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 25.5.1954 dahin abgeändert, daß die gegen den Kläger verhängte Ordnungsstrafe von DM 50 auf 20,- herabgesetzt wird. Im übrigen wird die Berufung und die Anschlußberufung als unbegründet zurückgewiesen."

Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Der Wortlaut des § 909 RVO deute zwar darauf hin, daß es im Ermessen des Versicherungsträgers liege, ob er eine Ordnungsstrafe aussprechen wolle. Hierbei handele es sich nicht um ein Verwaltungsermessen im üblichen Sinne, sondern um ein richterliches Ermessen, das vom Gesetzgeber dem Versicherungsträger übertragen worden sei. Ähnlich wie eine polizeiliche Strafverfügung vom Strafrichter in vollem Umfange auch hinsichtlich der Höhe überprüft werden könne, sei dies auch bei einer derartigen Ordnungsstrafe der Fall. Der Kläger habe der Vorschrift des § 750 Abs. 1 RVO fahrlässig zuwidergehandelt. Da das Unternehmen des Klägers aber erst im Aufbau begriffen gewesen sei, es sich um die erste Beitragsveranlagung überhaupt gehandelt habe, und im übrigen eine Bestrafung des Klägers wegen einer derartigen Ordnungswidrigkeit früher noch nicht erfolgt sei, halte der Senat eine Ordnungsstrafe von 20,- DM für angemessen.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil, dessen Empfang sie unter dem 26. Mai 1956 bestätigt hat, am 25. Juni 1956 Revision eingelegt und sie im Revisionsschriftsatz und nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 27. August 1956 (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) am 2. August 1956 begründet. Sie beantragt, unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG die Klage abzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils des LSG die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger hat im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und nicht über einen ursächlichen Zusammenhang im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG entschieden. Infolgedessen hängt die Statthaftigkeit der Revision davon ab, ob das Verfahren des LSG an einem von der Revision gerügten wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Die Revision rügt: Die auf die Berufung der Beklagten ergangene Entscheidung des LSG, mit der die Geldstrafe auf 20,- DM festgesetzt worden sei, habe die Beklagte schlechter gestellt als das Urteil des SG, denn das SG habe in seinem Urteil zwar auch die Meinung vertreten, daß eine Geldstrafe von nur 20,- DM angemessen sei, hierbei habe es sich jedoch nur um eine Empfehlung gehandelt, die im Tenor des Urteils nicht zum Ausdruck gekommen und für die Beklagte nicht bindend gewesen sei. Zu einer solchen Schlechterstellung sei das LSG nicht berechtigt gewesen. Das LSG habe den Schriftsatz des Klägers vom 29. Juni 1955 zu Unrecht als Anschlußberufung aufgefaßt.

Diese Rüge ist nicht berechtigt. Der Kläger hat im Schriftsatz an das LSG vom 29. Juni 1955 erneut seine Auffassung begründet, daß die Voraussetzungen für die Verhängung einer Ordnungsstrafe nicht gegeben gewesen seien, und hat mit der Bitte um "Erlaß" der Strafe unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er eine völlige Beseitigung des Strafbescheides anstrebt. Das LSG hat deshalb diesen Schriftsatz ohne Rechtsirrtum als Anschlußberufung aufgefaßt (wegen der Zulässigkeit der Anschlußberufung im sozialgerichtlichen Verfahren vgl. BSG 2, 229 ff).

Weiterhin bringt die Revision vor: Die Beklagte habe mit ihrer Berufung überhaupt keinen Erfolg erzielt. Es sei deshalb unlogisch, daß das LSG im Tenor des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten nur "im übrigen" zurückgewiesen habe. Dieses Vorbringen ist jedoch unbeachtlich, da es sich allenfalls auf eine Ungenauigkeit in der Fassung des Urteilstenors beziehen würde, die sachlich ohne Bedeutung ist.

In erster Linie wendet sich die Revision jedoch dagegen, daß das LSG den Strafbescheid der Beklagten auch hinsichtlich der Strafhöhe nachgeprüft und im angefochtenen Urteil selbst die Strafe in der ihm angemessen erscheinenden Höhe festgesetzt hat.

Diese Ausführungen sind jedoch nicht geeignet, die Statthaftigkeit der Revision zu begründen; denn sie beziehen sich nicht auf das Verfahren des LSG, sondern auf die Auslegung und Anwendung des materiellen Ordnungsstrafrechts (§ 909 RVO) durch das LSG.

Die Rüge der Revision wendet sich nicht dagegen, daß das LSG auf Grund der verfahrensrechtlichen Vorschriften des § 54 SGG die Zulässigkeit der gegen den Bescheid vom 22. April 1954 in der Gestaltung durch den Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 1954 erhobenen Anfechtungsklage bejaht hat. Die Rüge betrifft vielmehr die Entscheidung des LSG über die Begründetheit der Klage, die davon abhängt, ob der angefochtene Bescheid "rechtswidrig" ist. Das bestimmt sich aber nach materiellem Recht, so daß insoweit auch § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht allein dem Verfahrensrecht zuzurechnen ist.

Das LSG hat offen gelassen, ob es sich bei dem Entschluß der Beklagten, von den Befugnissen aus § 909 RVO Gebrauch zu machen, um eine Ausübung des Verwaltungsermessens handelt. Es ist der Auffassung, daß jedenfalls die Festsetzung der Höhe der Ordnungsstrafe der Rechtsanwendung durch den Richter vergleichbar und deshalb in vollem Umfange durch das Gericht nachprüfbar sei. Ein Irrtum bei dieser Beurteilung des Wesens des Ordnungsstrafrechts würde nicht das Verfahren des LSG unrichtig machen, sondern die Anwendung des materiellen Rechts betreffen.

Da die Revision hiernach keinen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG schlüssig gerügt hat, ist sie nicht statthaft und war als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2136310

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