Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Einstufung
Orientierungssatz
Der 4. BSG-Senat fragt beim 5. BSG-Senat an, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhält, daß für die qualitative Bewertung einer Tätigkeit, die tarifliche Einstufung nicht nur als Indiz zu werten sei, sondern daß ihr der Charakter einer Vermutung zukomme, die zu akzeptieren sei.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Die 1932 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie verrichtete von 1950 bis 1962 Lötarbeiten. Bei der Deutschen Bundespost war die Klägerin seit 1968 zunächst mit Unterbrechungen, ab 1971 als ständige Arbeiterin in Teilzeit beschäftigt. Bis sie Ende 1980 aus gesundheitlichen Gründen ausschied, arbeitete sie im Zustelldienst. Ihre Einstufung in Lohngruppe II des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost beruht auf der ständigen Verwendung als Arbeiterin (ohne Prüfung für den einfachen Postdienst) auf einem Arbeitsplatz mit Beamtentätigkeiten der Regelbewertung A 4 und Verwendung eines Pkw's zur Zustellung.
Den im Juli 1980 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin weder erwerbs- noch berufsunfähig sei (Bescheid vom 29. September 1980, Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1981).
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Heilbronn vom 3. Mai 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 26. Januar 1984). Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin nur noch leichte Arbeiten, möglichst ohne größeren Zeitdruck sowie unter Ausschluß von Kälte, Nässe und Zugluft, vollschichtig verrichten könne. Es hat ausgeführt:
Zwar sei die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr imstande, den bisherigen Beruf der Postzustellerin auszuüben. Für die Entscheidung komme es aber darauf an, ob sie auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden könne, was davon abhänge, ob sie der Gruppe der angelernten Arbeiter oder derjenigen der Facharbeiter zuzuordnen sei. Bei breiter Verweisbarkeit kämen die in einer Auskunft erwähnten Tätigkeiten (ua Lötarbeiten) in Betracht. Dagegen bestünde bei Annahme der Zugehörigkeit zum Leitberuf der Facharbeiter keine Möglichkeit, eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu benennen; entweder fehle es an den erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, oder es handele sich um einfache Tätigkeiten, auf die nach der Rechtsprechung nicht verwiesen werden dürfe. Die Klägerin gehöre als Postzustellerin nicht zur Gruppe der Facharbeiter. Das Bundessozialgericht (BSG) habe für die Einordnung in das Berufsgruppenschema auf den qualitativen Wert des bisherigen Berufs abgehoben, diesen aber nicht generell definiert, sondern nur negativ abgegrenzt, welche Merkmale nicht darunter fielen, nämlich Nachteile oder Erschwernisse infolge Belastungen, höheres Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Bewährungsaufstieg. Eine Tätigkeit, die nach kurzer Einweisung von jedermann ausgeübt werden könne, sei nicht der Facharbeitertätigkeit gleichzustellen, und es reiche nicht aus, allein auf Verantwortung oder Zuverlässigkeit abzustellen und dem durch Ausbildung oder Erfahrung erworbenen Können kein wesentliches Gewicht beizumessen. Jedenfalls bis zum Ausscheiden der Klägerin habe für den Einsatz im Zustelldienst eine praktische Einweisung von im allgemeinen nicht über 14 Tagen genügt. In derartig kurzer Zeit könnten Kenntnisse und Fähigkeiten von Facharbeiterniveau nicht erworben werden. Aus der tariflichen Einstufung ergäben sich keine Qualifikationsmerkmale; dafür seien die Ausübung einer Beamtentätigkeit und die Benutzung eines Pkw maßgebend gewesen. Soweit auf die Beamtentätigkeit abgestellt werde, handele es sich um solche des einfachen Dienstes (Besoldungsgruppen A 1 bis A 4); erst die Ausbildungsanforderungen für Beamte des mittleren Dienstes entsprächen denen von Facharbeitern. Höhergruppierungen aus sozialen Gründen fänden sich nicht nur im Beamtenrecht, sondern auch im Tarifvertrag der Arbeiter der Deutschen Bundespost (Hinweis auf BSG, Urteil vom 3. November 1982 - 1 RJ 32/82); die Tätigkeiten eines Briefzustellers nach den Lohngruppen II bis V unterschieden sich von ihrer Qualität her nicht. Hiernach und wegen der sonst ungerechtfertigten Privilegierung des öffentlichen Dienstes könne den Urteilen des BSG vom 24. Juni 1983 - 5b RJ 74/82 - und vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 114/82 -, in denen in Lohngruppe IV eingestufte Postzusteller den Facharbeitern zugeordnet und schwere physische Arbeitsbedingungen als Qualitätsmerkmale gewertet worden seien, nicht gefolgt werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beruft sich die Klägerin auf die vom Berufungsgericht genannten Urteile des 5. Senats des BSG. Sie sei aufgrund ihrer Tätigkeit tariflich den Handwerkern gleichgestellt, die schwierige Spezialarbeiten verrichten oder mit besonderen Aufgaben betraut sind, die neben vielseitigem fachlichen Können besondere Umsicht und Zuverlässigkeit erfordern.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Heilbronn vom 3. Mai 1982 sowie den Bescheid vom 29. September 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab 1. September 1980 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der 4. Senat möchte das angefochtene Urteil des LSG bestätigen, sieht sich daran jedoch durch die im Beschlußtenor wiedergegebene Rechtsauffassung des 5. Senats gehindert.
Bei der Klägerin ist vom Beruf der Postzustellerin als dem bisherigen Beruf auszugehen. Fest steht, daß die Klägerin diesen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Es geht darum, ob diese Tätigkeit dem "Leitberuf" der Facharbeiter zuzuordnen ist.
Im Rahmen des zu § 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entwickelten Mehrstufenschemas versteht die Rechtsprechung unter dem Leitberuf des Facharbeiters einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren (in letzter Zeit: Urteile des 1. Senats vom 3. November 1982 - 1 RJ 12/81 = SozR 2200 § 1246 Nr 102 S 314 und vom 24. März 1983 - 1 RA 15/82 = SozR aaO Nr 107 S 334). Daß nach Satz 2 aaO nicht nur die Dauer und der Umfang der Ausbildung zu berücksichtigen sind, sondern außer dem bisherigen Beruf auch die "besonderen Anforderungen" der bisherigen Berufstätigkeit, hat die Rechtsprechung veranlaßt, auf die "objektive Qualität", den "qualitativen Wert" der bisherigen Berufstätigkeit abzuheben. Insoweit ist es nur als weniger bedeutend angesehen worden, ob eine tatsächlich vorgeschriebene, "normale" Ausbildung (im herkömmlichen Sinn) durchlaufen worden ist, wenn nur in dem Beruf eine "vollwertige" Arbeitsleistung erbracht, das berufliche Spektrum also "in voller Breite" beherrscht wird (zB Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 = SozR aaO Nr 53 unter Bezug auf Urteile des 5. Senats).
Im Einklang damit, weniger den Weg zum Beruf als den qualitativen Wert des Berufs ausschlaggebend sein zu lassen, hat die Rechtsprechung auch denjenigen Versicherten als Facharbeiter im Sinne des Mehrstufenschemas angesehen, der tariflich in eine für Facharbeiter (mit entsprechendem Ausbildungsberuf) vorgesehene Tarifgruppe eingestuft ist, sofern die tarifliche Gleichstellung auf besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit des Versicherten, also auf positiven, qualifizierenden Merkmalen beruht (vgl zB Urteil vom 7. Oktober 1982 - 4 RJ 99/81 = SozR aaO Nr 99). In diesem Zusammenhang ist die tarifliche Einstufung von allen mit der Arbeiterrentenversicherung befaßten Senaten des BSG als wichtiges, relativ zuverlässiges Indiz für die Bewertung der Qualität des bisherigen Berufs bezeichnet worden. Die Rechtsprechung betont andererseits - und darin liegt kein Widerspruch zum oben Gesagten - immer wieder, die tarifliche Einstufung sei für die Bestimmung der Qualität des Berufs lediglich ein Hilfsmittel, kein Wesensmerkmal (so zB Urteile des 5. Senats vom 24. November 1982 - 5aRKn 16/81 = SozR aaO Nr 103 S 322 und vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 76/80 = SozR aaO Nr 77 S 241 mwN, des 1. Senats vom 12. November 1980 - 1 RJ 24/79 = SozR aaO Nr 68 S 211 und des 4. Senats aaO Nr 99).
Diese von allen ArV-Senaten getragenen Grundsätze zur indiziellen Bedeutung der tariflichen Einstufung wurden mit dem Urteil vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 114/82 - verlassen. Dort heißt es auf S 8: "Die tarifliche Einstufung ist nicht nur verläßliches Indiz für die Qualität der Tätigkeit bei Berufen, die nach einer ordnungsgemäßen Ausbildung ausgeübt worden sind; vielmehr ist die Bewertung durch die Tarifpartner auch dann zu akzeptieren, wenn diese den anerkannten Ausbildungsberufen andere Tätigkeiten - insbesondere wegen ihrer Bedeutung für den Betrieb - qualitativ gleichgestellt haben" (ebenso fast wörtlich zB Urteil vom 1. Februar 1984 - 5b RJ 80/83 S 7). In die gleiche Richtung gehen Ausführungen im selben Urteil (S 10), wonach entscheidend der aus den tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und dem Gesamtzusammenhang der Tarifwerke zu entnehmende qualitative Wert der jeweiligen Tätigkeit sei; in diesem Sinne reiche die tarifliche Einstufung auch für sich allein aus, die Qualität der Tätigkeit zuverlässig auszudrücken.
Der 4. Senat hält die vorstehende Auffassung für zu weitgehend, weil damit der tariflichen Einstufung im Ergebnis eine Wirkung zuerkannt wird, die letztlich nur dann nicht gelten soll, wenn dem Tarifwerk selbst Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, daß die hohe Einstufung auf qualitätsfremden Gründen beruht. Dementsprechend hat der 5. Senat in den Urteilen 5b RJ 46/83 und 68/83 vom 1. Dezember 1983 eine Vermutung angenommen, daß im allgemeinen nur solche Arbeiter wie Facharbeiter entlohnt würden, die auch qualitative Arbeiten wie ein Facharbeiter leisteten. Damit wird aus einem Indiz, das neben anderen auf die Qualität einer Tätigkeit schließen läßt, nunmehr eine "Vermutung", die nur durch Widerlegung zu beseitigen wäre.
Demgegenüber muß nach Ansicht des 4. Senats beachtet werden, daß das Gesetz die tarifliche Einstufung nicht als Tatbestandsmerkmal erwähnt, wohl aber Dauer und Umfang der Ausbildung sowie die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Zwar hält auch der Senat, wie dargelegt, den Weg zum Beruf für weniger bedeutend als den qualitativen Wert der ausgeübten Tätigkeit, auch nach seiner Auffassung ist der tariflichen Einstufung eine wichtige indizielle Bedeutung für den qualitativen Wert einer Tätigkeit beizumessen; die nicht im Gesetz erwähnte tarifliche Einstufung kann aber nicht die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten qualifizierenden Merkmale ersetzen oder als wichtiger als diese ("Vermutung") angesehen werden.
Für die Rechtsanwendung folgt daraus, daß im Streitfall weder die tarifliche Einstufung noch die subjektive Meinung des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers über den qualitativen Wert einer Tätigkeit das Tatsachengericht davon entbindet, deren objektiven Wert selbst zu ermitteln (BSGE 51, 135, 138 = SozR aaO Nr 77). Dies deshalb, weil die Tarifpartner bei der Einstufung bestimmter Tätigkeiten in Tarifgruppen auch noch andere Gesichtspunkte berücksichtigen können und auch berücksichtigen. So können auch körperlich schwere Arbeiten oder Tätigkeiten, die im Freien ausgeübt werden müssen, tariflich höher eingestuft werden, als dies nach den erforderlichen Kenntnissen und berufsspezifischen Fähigkeiten zu erwarten wäre. Des weiteren kann die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit für eine bestimmte Zeit (im öffentlichen Dienst: sogenannter Bewährungsaufstieg) eine Rolle spielen.
Hat somit die Tatsacheninstanz grundsätzlich den qualitativen Wert des bisherigen Berufs zu ermitteln, so muß dies erst recht gelten, wenn Umstände bekannt sind, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, daß die tarifliche Einstufung nicht, jedenfalls nicht überwiegend, auf qualifizierenden Merkmalen beruht.
Der Senat vermag daher auch folgender Rechtsauffassung nicht zuzustimmen: "Allein der Umstand, daß eine Tätigkeit nur eine relativ kurze Einweisung voraussetzt, nötigt das Tatsachengericht noch nicht, die durch die tarifliche Einstufung nahegelegte qualitative Bewertung in Frage zu stellen und Beweis darüber zu erheben, ob womöglich qualitätsfremde Merkmale die tarifliche Einstufung bewirkt haben könnten" (Urteil vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 80/82).
Im konkreten Fall vertritt der Senat die Ansicht, daß Postzustellertätigkeiten, zu deren Ausübung nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG eine im allgemeinen 14 Tage nicht überschreitende praktische Einweisung genügte, nicht dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen sind; in so kurzer Zeit können Kenntnisse und Fähigkeiten von Facharbeiterniveau nicht erworben werden. Das LSG hat hierzu darauf hingewiesen, daß etwa studentische Aushilfskräfte regelmäßig die ihnen fachfremde Tätigkeit des Briefzustellers ohne längere Einarbeitszeit ausüben. Schon daraus geht hervor, daß die Tätigkeit als solche nicht der eines gelernten Facharbeiters qualitativ gleichzuachten ist. Auch die Benutzung eines Pkw beim Zustelldienst ist kein Qualifikationsmerkmal für die Gruppe der Facharbeiter. Zwar hat der Senat im Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 1/79 (SozR aaO Nr 46) bei der Bewertung der Tätigkeit eines Postzustellers der tariflichen Einstufung eine nicht unwesentliche Bedeutung beigemessen, daneben aber auch andere Gesichtspunkte erörtert und hierbei erwogen, welche Rückschlüsse die erfolgreich abgelegte Prüfung für den einfachen Postdienst im Hinblick auf Qualifikation sowie vielseitigere Verwendbarkeit zulasse. Soweit in jenem Urteil der "geprüfte Postzusteller" schlechthin einem Facharbeiter gleichgestellt worden ist, hält der Senat daran nicht mehr fest (vgl auch Urteil des 1. Senats vom 3. November 1982 - 1 RJ 32/82 - zur Frage der Höherstufung um drei Tarifgruppen bei unveränderter Tätigkeit).
Nichts anderes läßt sich daraus herleiten, daß die Klägerin eine an sich Beamten vorbehaltene Tätigkeit ausübte und deshalb von der Lohngruppe IV bis zur Gruppe II aufstieg. Die entsprechende beamtenrechtliche Dienstpostenbewertung umfaßt die Besoldungsgruppen A 1 bis A 4 der Anlage I des Bundesbesoldungsgesetzes und damit den einfachen Dienst, für den nur der erfolgreiche Besuch der Hauptschule (oder ein gleichwertiger Bildungsstand) erforderlich ist (vgl § 17 Bundeslaufbahnverordnung). Facharbeiter treten in den mittleren Dienst ein (Krankenschwester, Krankenpfleger: A 5, Stationsschwester, Stationspfleger: A 6 usw). Daß der Postzusteller, zumal im Hinblick auf Geldzustellungen, zuverlässig sein muß, genügt ebenfalls nicht für die Gleichstellung mit einem Facharbeiter; Zuverlässigkeit wird auch von Ungelernten verlangt und führt, für sich allein genommen, nach der Rechtsprechung zur Zuordnung in die Gruppe der "Angelernten".
Fundstellen