Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revisionszulassung. Verfahrensmangel. Verletzung rechtlichen Gehörs. Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Kosten der Einzugsrenovierung
Orientierungssatz
Hat das LSG im Beschluss über die Zulassung der Berufung auf die Entscheidung des BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 49/07 R = BSGE 102, 194 = SozR 4-4200 § 22 Nr 16 hingewiesen, nach der Kosten der Einzugsrenovierung nur dann angemessene Kosten der Unterkunft sind, wenn die Einzugsrenovierung ortsüblich und erforderlich zur Herstellung des Wohnstandards im unteren Wohnsegment ist, und hat es dann ohne weitere Beweiserhebung oder vorherige Hinweise an die Kläger - in Abweichung von der zitierten BSG-Entscheidung - entschieden, dass die Erforderlichkeit der Renovierung zur Herstellung des Wohnstandards im unteren Wohnsegment nicht gegeben sei und dass die Kläger insoweit eine Darlegungs- und Beweisführungslast treffe, so sind die Kläger an weiterem Sachvortrag gehindert und der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist verletzt worden.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGB 2 § 22 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 15. März 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Den Klägern wird zur Durchführung des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das oben bezeichnete Urteil Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin J B beigeordnet.
Gründe
I. Die Kläger begehren die Übernahme der Kosten für eine Einzugsrenovierung als Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Wege eines Zuschusses. Auf ihren Antrag vom 11.3.2008 bewilligte der Beklagte wegen dieser Kosten ein Darlehen nach § 23 Abs 1 SGB II, weil die Kläger insoweit nachgewiesen hätten, dass ein von der Regelleistung umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts bestehe. Die Bewilligung eines Zuschusses lehnte er ab, weil Einzugsrenovierungen nicht zum Bedarf für Unterkunft und Heizung gehörten (Bescheid vom 17.3.2008; Widerspruchsbescheid vom 29.7.2008). Die Klagen hiergegen hatten Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Hannover vom 20.11.2009).
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Berufung mit Beschluss vom 5.10.2011 zugelassen und in den Gründen des Beschlusses ausgeführt, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.12.2008 (B 4 AS 49/07 R - BSGE 102, 194 = SozR 4-4200 § 22 Nr 16) habe das SG die Frage der Ortsüblichkeit von Einzugsrenovierungen nicht ungeprüft lassen dürfen. Auf dieser Abweichung beruhe das Urteil, weil eine Einzugsrenovierung zu Lasten des Hilfeempfängers nach den von dem Beklagten vorgelegten Unterlagen in Hannover nicht ortsüblich sei. Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 2.3.2012 im Einzelnen vorgetragen, dass sich in ihrem Fall trotz intensiver Suche keine Unterkunftsalternative geboten und der Umzug habe zügig erfolgen müssen, weil die bisherige Wohnung wegen massiven Schimmelbefalls den Unterkunftsbedarf nicht mehr gedeckt habe.
In der mündlichen Verhandlung am 15.3.2012 waren die Kläger anwaltlich vertreten. Das LSG hat mit Urteil vom selben Tag das Urteil des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen, weil nicht feststellbar sei, dass eine Einzugsrenovierung notwendig gewesen sei. Entsprechender Vortrag der Kläger fehle im Antrags-, im Klage- und im Berufungsverfahren. Aus den Akten sei insoweit nichts ersichtlich. Aus dem Umstand, dass der Beklagte das Darlehen bewilligt habe, könne nicht ohne Weiteres auf die Erforderlichkeit geschlossen werden. Die Frage, ob eine Einzugsrenovierung in Hannover ortsüblich sei, könne deshalb dahinstehen. Auch diese lasse sich nach den vorliegenden Unterlagen allerdings nicht bejahen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil richten sich die Beschwerden der Kläger. Sie rügen ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen. Mit der dem Urteil zugrunde liegenden Auffassung, die Erforderlichkeit der Einzugsrenovierung habe nicht festgestanden, hätten sie nicht rechnen müssen. Hätte das LSG vor seiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass es die Erforderlichkeit der Einzugsrenovierung für entscheidungserheblich, aber ungeklärt halte, hätten sie weitergehende Ausführungen zu diesem Punkt gemacht.
II. Die Beschwerden sind zulässig und begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weshalb sie aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 160a Abs 5 SGG). Zutreffend rügen die Kläger, dass sie vom LSG nicht ausreichend auf den für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkt hingewiesen und dadurch an weiterem Sachvortrag gehindert worden sind. Hierdurch ist ihr in Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) verankerter und in § 62 SGG konkretisierter Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Das LSG hat in der Begründung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung auf die Entscheidung des BSG vom 16.12.2008 (BSGE 102, 194 = SozR 4-4200 § 22 Nr 16) hingewiesen, wonach Kosten der Einzugsrenovierung nur dann angemessene Kosten der Unterkunft sind, wenn die Einzugsrenovierung ortsüblich und erforderlich zur Herstellung des Wohnstandards im unteren Wohnsegment ist. Die anwaltlich vertretenen Kläger konnten und mussten daher davon ausgehen, dass das LSG bei seiner Entscheidung diesen Grundsätzen folgt. Das SG und der Beklagte haben das Vorliegen der nunmehr streitigen Voraussetzung - die Erforderlichkeit der Renovierung zur Herstellung des Wohnstandards im unteren Wohnsegment - ausdrücklich bejaht. Das LSG hat seinerseits ohne weitere Beweiserhebung das Gegenteil festgestellt. Es ist dabei - abweichend von der zitierten BSG-Rechtsprechung - davon ausgegangen, die Kläger treffe insoweit eine Darlegungs- und Beweisführungslast. Über diese Auffassung des Berufungsgerichts sind die Kläger zuvor nicht, insbesondere nicht im Beschluss vom 5.11.2011 und der Aufforderung durch die Berichterstatterin vom 10.1.2012, abschließend zur Sache vorzutragen, unterrichtet worden. Im Protokoll zur mündlichen Verhandlung ist schließlich nicht festgehalten, dass das LSG über seine von der Rechtsprechung des BSG abweichende Auffassung hinsichtlich einer Darlegungs- und Beweisführungslast informiert hat; dies ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Beklagten im Beschwerdeverfahren.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände konnten die Kläger erwarten, dass das LSG, sollte es die bisherigen Feststellungen zur Erforderlichkeit der Renovierung als unzureichend ansehen, (von Amts wegen) weiteren Beweis zu der Frage erheben würde, in welchem Zustand sich die Wohnung vor der Renovierung befunden hatte. Völlig fernliegend war indes aus der Sicht der Kläger, dass das LSG unter Abkehr von der von dem Beklagten und dem SG vertretenen und ihnen günstigen Einschätzung ohne weitere Hinweise zu der von ihm getroffenen Entscheidung kommen würde. In dieser Situation durften sie einen rechtlichen Hinweis nach Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG auf den nach Auffassung des LSG maßgeblichen Gesichtspunkt erwarten, um hieran ihren Vortrag und die Entscheidung über etwaige Beweisanträge auszurichten. Dies ist nicht geschehen.
Auf diesem Verfahrensmangel beruht das angegriffene Berufungsurteil, weil nicht auszuschließen ist, dass das LSG bei einem entsprechenden Sachvortrag oder Beweisantrag der Kläger zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Deshalb hat der Senat das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen