Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Divergenz. Darlegung eines abstrakten Rechtssatzes. Unfallversicherungsschutz in der Schülerunfallversicherung. Wahlpflichtunterricht im Schulgebäude. Organisatorischer Verantwortungsbereich der Schule
Leitsatz (redaktionell)
1. Leiten Beschwerdeführer aus den Entscheidungen des LSG und BSG verdeckte Rechtssätze ab, müssen sie darlegen, an welcher genauen Stelle und mithilfe welcher anerkannten Methodik sie die behaupteten Rechtssätze den Entscheidungen jeweils entnommen haben.
2. Ein konkreter Rechtssatz des LSG wird nicht schon dadurch herausgearbeitet, dass ein Absatz aus dem Urteil des LSG sinngemäß wiedergegeben wird.
3. Für das schlüssige Aufzeigen einer Abweichung im Grundsätzlichen ist eine Darlegung erforderlich, dass die Fallkonstellationen, über die Bundes- und Instanzgerichte entschieden haben, gleich, vergleichbar oder zumindest gleich gelagert sind und dieselben oder jedenfalls vergleichbare Rechtsaussagen enthalten, wofür die hinreichend konkrete Darstellung des festgestellten bindenden Kernlebenssachverhalts sowohl der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung als auch der herangezogenen Entscheidungen des BSG erforderlich ist.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 163, 169 Sätze 2-3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 8. Februar 2023 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob der Kläger als Schüler einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Das SG hat die insoweit ablehnenden Verwaltungsentscheidungen der Beklagten (Bescheid vom 3.2.2015; Widerspruchsbescheid vom 28.9.2015) aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 22.9.2014 einen Versicherungsfall (Schulunfall) iS der gesetzlichen Unfallversicherung darstellt (Urteil vom 23.9.2016). Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8.2.2023).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt der Kläger eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass die angefochtene Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Um eine Abweichung aufzuzeigen, muss dargelegt werden, dass das LSG im angefochtenen Urteil nicht lediglich die Tragweite der höchstrichterlichen Rechtsprechung verkannt, sondern dieser Rechtsprechung bewusst einen eigenen Rechtssatz entgegengesetzt hat. Eine Abweichung ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage zum Bundesrecht die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Schließlich bedarf es der Darlegung, weshalb die aufgezeigten Rechtssätze nicht miteinander vereinbar sind und inwiefern die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruht. Hierfür muss auch aufgezeigt werden, dass auch das Revisionsgericht die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird. Indes genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass das LSG in seiner Entscheidung nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt hat. Denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr; vgl BSG Beschlüsse vom 31.5.2023 - B 2 U 136/22 B - juris RdNr 9, vom 24.5.2023 - B 2 U 77/22 B - juris RdNr 18 und vom 16.7.2004 - B 2 U 41/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 6, jeweils mwN).
Diesen Darlegungserfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger rügt, das LSG habe folgenden Rechtssatz aufgestellt: "Wahlpflichtunterricht im Schulgebäude, für den zusätzlich Geld gezahlt wird, gehört nicht zum organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule." Damit sei es von der ständigen Rechtsprechung des BSG zum organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule abgewichen. Das Urteil weiche zum einen vom Urteil des BSG vom 31.3.2022 (B 2 U 5/20 R) ab, in welchem dieses entschieden habe: "Der Unfallversicherungsschutz in der Schülerunfallversicherung erstreckt sich auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Hierzu zählen alle schulischen Veranstaltungen, auch wenn die Mitwirkung freigestellt oder unverbindlich ist." Zum anderen enthalte das Urteil des LSG eine Abweichung zum Urteil des BSG vom 23.1.2018 (B 2 U 8/16 R). Darin habe es entschieden: "Schüler allgemein- und berufsbildender Schulen stehen auch während schulisch initiierter Gruppenarbeiten, die außerhalb des Schulgeländes nach Unterrichtsschluss stattfinden, unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung." Dies werde in den zitierten RdNr 14 bis 16 dieses Urteils weiter konkretisiert. Mit dieser Auffassung des BSG sei es nicht vereinbar, einen von der Schule initiierten und sogar verpflichtend vorgegebenen Musikunterricht nicht als Veranstaltung im Verantwortungsbereich der Schule zu qualifizieren.
Mit diesem Vortrag bezeichnet die Beschwerdebegründung indes bereits keinen abstrakten Rechtssatz aus der Entscheidung des LSG, mit dem dieses ausdrücklich von der Rechtsprechung des BSG abgewichen sein und diese dadurch infrage gestellt haben soll. Der Kläger behauptet zwar, das LSG habe einen Rechtsgrundsatz wie formuliert aufgestellt. Er versäumt es indes, die dies begründende Passage des Urteils des LSG konkret zu bezeichnen sowie darzulegen, dass das LSG damit bewusst von höchstrichterlicher Rechtsprechung abgewichen sei, diese infrage gestellt und bewusst einen eigenen Maßstab aufgestellt habe. Leiten Beschwerdeführer aus den Entscheidungen des LSG und BSG ferner verdeckte Rechtssätze ab, müssen sie darlegen, an welcher genauen Stelle und mithilfe welcher anerkannten Methodik sie die behaupteten Rechtssätze den Entscheidungen jeweils entnommen haben. Ein konkreter Rechtssatz des LSG wird schließlich nicht schon dadurch herausgearbeitet, dass ein Absatz aus dem Urteil des LSG sinngemäß wiedergegeben wird (vgl zu diesen Anforderungen nur BSG Beschlüsse vom 19.1.2022 - B 5 R 199/21 B - juris RdNr 10 mwN, vom 30.8.2017 - B 9 SB 28/17 B - juris RdNr 7 mwN und vom 27.1.1999 - B 4 RA 131/98 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 = juris RdNr 12; Karmanski in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 3. Aufl 2023, § 160a RdNr 83 f mwN; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG 2. Aufl 2022, § 160a RdNr 126, Stand 17.11.2023). Hierzu enthält die Beschwerdebegründung keinen Vortrag. Da es somit an der Darlegung eines abstrakten Rechtssatzes des LSG fehlt, ist allein aufgezeigt, dass es mit seinem Urteil eine Entscheidung im konkreten Einzelfall getroffen hat. Aber selbst wenn das Berufungsgericht dabei höchstrichterliche Rechtssätze missverstanden oder gänzlich übersehen und deshalb das Recht unzutreffend angewendet haben sollte, kann daraus nicht geschlossen werden, es habe einen divergierenden Rechtssatz aufgestellt.
Unabhängig davon ist mit den formulierten Rechtsgrundsätzen eine Abweichung im Grundsätzlichen nicht schlüssig aufgezeigt. Hierfür muss dargelegt werden, dass die Fallkonstellationen, über die Bundes- und Instanzgerichte entschieden haben, gleich, vergleichbar oder zumindest gleich gelagert sind und dieselben oder jedenfalls vergleichbare Rechtsaussagen enthalten. Hierfür ist die hinreichend konkrete Darstellung des festgestellten bindenden (§ 163 SGG) Kernlebenssachverhalts sowohl der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung als auch der herangezogenen Entscheidungen des BSG erforderlich. Denn eine die Rechtseinheit gefährdende Abweichung kann nur bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt vorliegen, auf den dieselben Rechtsnormen anzuwenden sind (vgl zB BSG Beschlüsse vom 25.9.2023 - B 2 U 167/22 B - juris RdNr 9, vom 12.4.2023 - B 2 U 50/22 B - juris RdNr 14 und vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 15, jeweils mwN; Karmanski in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 3. Aufl 2023, § 160a RdNr 87 mwN). Daran fehlt es hier. Aus der Beschwerdebegründung ist bereits nicht erkennbar, welche Aussagen und Inhalte des Rechtssatzes zum gegenständlichen Fall auf Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) beruhen und welche eigene Interpretation des Klägers sind. Ferner betraf auch nach Vortrag des Klägers das Urteil des BSG vom 31.3.2022 (B 2 U 5/20 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 79) die Frage des Unfallversicherungsschutzes während einer als solchen festgestellten schulischen Veranstaltung. Das vom Kläger ins Zentrum seiner Begründung gestellte Urteil des BSG vom 23.1.2018 (B 2 U 8/16 R - BSGE 125, 129 = SozR 4-2700 § 2 Nr 38) betraf die Reichweite der Schülerunfallversicherung bei Tätigkeiten außerhalb des Schulgebäudes ohne Aufsicht durch einen Lehrer. Den zitierten Urteilen des BSG lagen damit bereits auch nach dem Vorbringen der Beschwerdebegründung grundlegend vom vorliegenden Fall abweichende Sachverhalte zugrunde. Dies vermag eine Divergenz im Grundsätzlichen nicht zu begründen. Denn eine die Rechtseinheit gefährdende Abweichung kann nur bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt vorliegen, auf den dieselben Rechtsnormen anzuwenden sind.
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI16233898 |