Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Rechtliches Gehör. Verletzung. Überraschungsentscheidung. Bescheid. Einbeziehung. Zurückverweisung
Leitsatz (redaktionell)
Von einer den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzenden Überraschungsentscheidung ist dann auszugehen, wenn der Kläger bis zu einem Hinweis auf einen zu erwartenden Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG nicht damit rechnen musste, dass das LSG ungeachtet diesbezüglich anhängiger Klageverfahren weitere Bescheide in seine Entscheidung einbeziehen würde.
Normenkette
SGG §§ 62, 96, 153 Abs. 4, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 5
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 02.09.2002) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. September 2002 aufgehoben, soweit das Landessozialgericht über die Bewilligung bzw den Widerruf der Bewilligung einer Kostenpauschale für ein „Projekt Portugal” entschieden hat (Bescheide vom 20. April 1999, 15. Juni 1999, 11. Februar 2000, 22. Januar 2001). In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unzulässig verworfen.
Tatbestand
I
Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Übernahme von Reisekosten, auf Bewilligung einer (höheren) Kostenpauschale für ein „Projekt Portugal” und auf Weiterzahlung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 15. Dezember 1999 geltend.
Das Sozialgericht (SG) hat das unter dem Aktenzeichen S 9 AL 980/99 anhängige Verfahren wegen Reisekosten, das unter S 9 AL 1896/99 geführte Verfahren betreffend das „Projekt Portugal” und das die Weiterzahlung von Alhi betreffende Verfahren S 9 AL 1154/00 miteinander verbunden und die Klagen abgewiesen (Urteil vom 23. Mai 2001). Gegenstand des Urteils des SG waren in Bezug auf das „Projekt Portugal” der Bescheid vom 20. April 1999, mit dem die Beklagte dem Kläger eine Kostenpauschale von 550 DM mit Hinweis auf § 10 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) bewilligt hatte, und der das Begehren des Klägers auf Bewilligung eines höheren Betrages ablehnende Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1999. Noch vor der Entscheidung des SG hatte allerdings die Beklagte mit Bescheid vom 11. Februar 2000, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2001, die Bewilligung gemäß Bescheid vom 20. April 1999 widerrufen und Rückzahlung des Betrages von 550 DM verlangt; dagegen hat der Kläger eine beim SG unter dem Aktenzeichen S 7 AL 497/01 geführte Klage erhoben. In dem letztgenannten Verfahren hat das SG bislang nicht entschieden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat gemäß § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Beschluss vom 2. September 2002 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 23. Mai 2001 zurückgewiesen. Zur Frage der Übernahme von Kosten des „Projekt Portugal” hat das LSG ausgeführt, dem Kläger stünden insoweit Leistungen nicht zu, denn die Beklagte habe den Bewilligungsbescheid vom 20. April 1999 jedenfalls zu Recht mit Bescheid vom 11. Februar 2000 widerrufen; dieser Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2001 sei nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 20. April 1999 sei § 47 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X). Die bewilligte Kostenpauschale sei zweckgebunden gewesen; die für April 1999 geplante Projekt-Reise habe aber gar nicht stattgefunden. Der Kläger habe auch gewusst, dass die Kostenpauschale für eine Reise nach Lissabon bestimmt gewesen sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit der Beschwerde und macht beim Bundessozialgericht (BSG) geltend: Das SG habe im Urteil vom 23. Mai 2001 mit Hinweis auf das anderweitig bei der 7. Kammer anhängige Verfahren ausdrücklich nicht über die Aufhebung der Bewilligung und die Rückforderung der Kostenpauschale entschieden. Gleichwohl habe das LSG den Aufhebungsbescheid vom 11. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2001 als Gegenstand des Berufungsverfahrens angesehen. Es stelle sich deshalb die grundsätzlich bedeutsame Frage, ob die Anwendung des § 96 SGG so weit gehe, dass ein Berufungsgericht ohne entsprechenden Hinweis mit über ein bei einer SG-Kammer anhängiges Klageverfahren entscheiden könne. Das LSG habe auch über die nach seiner Auffassung Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheide vom 11. Februar 2000/22. Januar 2001 auf keinen Fall im Wege des Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden dürfen, zumal eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden habe. Insoweit werde vorsorglich eine weitere Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zur Auslegung der §§ 96, 153 Abs 1 und 4 SGG vorgelegt. Im Wesentlichen werde aber geltend gemacht, dass ihm, dem Kläger, jedenfalls in Bezug auf den Aufhebungsbescheid vom 11. Februar 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2001 das rechtliche Gehör nicht gewährt worden sei. Er habe nicht die Aufhebung der genannten Bescheide beantragt, weil das dazugehörige Verfahren bei der 7. Kammer des SG noch anhängig gewesen sei. Das LSG habe keinerlei Hinweis auf die Einbeziehung des Aufhebungsbescheides gegeben. In einer gerichtlichen Verfügung vom 26. März 2002 seien die Bescheide ohne Hinweis erwähnt worden; weder hier noch im Ankündigungsschreiben zu § 153 Abs 4 SGG sei darauf hingewiesen worden, dass über die genannten Bescheide mitentschieden werde. Gerade weil nach § 153 Abs 4 SGG entschieden worden sei, habe er nicht wissen können, dass die Aufhebungsbescheide nicht mehr bei der 7. Kammer des SG anhängig, sondern Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden seien. Die angefochtene Entscheidung könne auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen; denn er sei an dem Vortrag gehindert worden, dass er die Reise für das „Projekt Portugal” zwar nicht im April 1999, sondern kurz danach unternommen habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet, soweit sie einen Verfahrensmangel hinsichtlich der Entscheidung über den Anspruch auf Übernahme von Kosten für das „Projekt Portugal” geltend macht.
Die Beschwerde zeigt auf, dass das SG nicht über die erst während des Klageverfahrens erlassenen Bescheide vom 11. Februar 2000 und 22. Januar 2001 entschieden hat, das LSG vor Ergehen des angefochtenen Beschlusses den Kläger nicht auf die Möglichkeit einer Entscheidung auch über die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide hingewiesen hat, der Kläger durch die fehlenden Hinweise des LSG an einem bestimmten Vortrag (tatsächliche Durchführung der Reise nach Lissabon) gehindert worden ist und dass bei Berücksichtigung dieses Vorbringens sich für ihn eine günstigere Entscheidung hätte ergeben können.
Der von der Beschwerde mit diesem Vorbringen gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) liegt auch tatsächlich vor. Von einer den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzenden Überraschungsentscheidung ist dann auszugehen, wenn sie auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerwG NVwZ 1989, 151; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4 mwN). Nach dem Stand des Verfahrens bis zum Hinweis des LSG auf den zu erwartenden Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG musste der Kläger nicht damit rechnen, dass das LSG auch die Bescheide der Beklagten vom 11. Februar 2000 und 22. Januar 2001 in seine Entscheidung einbeziehen würde. Denn über diese Bescheide hat das SG mit Hinweis auf das anderweitig anhängige Klageverfahren nicht entschieden und der Berichterstatter des LSG hat in seinem Schreiben an die Beteiligten vom 26. März 2002 seinen Hinweis auf die Bescheide vom 11. Februar 2000/22. Januar 2001 mit der Bemerkung verbunden, es sei „allerdings den vorliegenden Unterlagen nicht zu entnehmen”, ob gegen diese Bescheide Klage erhoben worden sei. Aus dem Schreiben vom 26. März 2002 war mithin für den Kläger, der sehr wohl Klage erhoben hatte (Verfahren S 7 AL 497/01), nicht ersichtlich, das LSG würde ungeachtet des anhängigen Klageverfahrens über die Bescheide gleich selbst befinden. Das LSG hat auch mit der Anhörungsmitteilung vom 18. Juli 2002 nicht zu erkennen gegeben, dass es zur Frage „Projekt Portugal” auch über die Bescheide vom 11. Februar 2000/22. Januar 2001 mit entscheiden werde. Die Einbeziehung der genannten Bescheide in die Entscheidung des LSG hat somit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
Offen bleiben kann, ob ein Verfahrensfehler des LSG schon darin zu sehen ist, dass es als Berufungsgericht über einen gemäß § 96 SGG während des Klageverfahrens zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Verwaltungsakt entschieden hat, obwohl insoweit keine Entscheidung des SG vorgelegen hat, ohne sich darüber zu vergewissern, ob die Einbeziehung des Verwaltungsaktes in die Berufungsentscheidung dem Willen der Beteiligten entspricht (vgl BSGE 61, 45, 48 = SozR 4100 § 113 Nr 5 mwN). Ebenso kann dahinstehen, ob mit der Entscheidung über die Bescheide vom 11. Februar 2000 und 22. Januar 2001 ohne mündliche Verhandlung darüber hinaus auch § 153 Abs 4 Satz 1 SGG verletzt ist, da grundsätzlich von einem Recht der Beteiligten auf jedenfalls eine Tatsacheninstanz mit mündlicher Verhandlung auszugehen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 4; BSG, Urteil vom 31. Juli 2002, B 4 RA 28/02 R), und ob diese beiden möglichen Verfahrensfehler in der Begründung hinreichend bezeichnet sind.
Auf dem Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs, kann der angefochtene Beschluss des LSG auch beruhen, soweit darin über den Widerruf der Bewilligung der Kostenpauschale und die Ablehnung der Erhöhung entschieden worden ist. Denn der Kläger ist, wie er geltend macht, jedenfalls an entscheidungserheblichem Vorbringen gehindert worden. Das LSG hat zur Frage, ob dem Kläger eine – uU höhere – Kostenpauschale gemäß § 10 SGB III zu bewilligen ist oder nicht, ausschließlich darauf abgestellt, der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 20. April 1999 sei zu Recht gemäß § 47 Abs 2 SGB X widerrufen worden. Dabei hat es das LSG als entscheidungserheblich angesehen, dass die für April 1999 geplante Projekt-Reise nicht stattgefunden habe und deshalb die Leistung nicht für den im Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet worden sei. Demgegenüber macht der Kläger geltend, er sei an dem Vortrag gehindert worden, die Reise zwar nicht im April 1999, jedoch kurz danach durchgeführt zu haben. Da den Feststellungen des LSG eine Zweckbestimmung des Bescheides mit dem Inhalt, eine Reise sei gerade im April 1999 durchzuführen, nicht zu entnehmen ist, kommt es für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs gemäß § 47 Abs 2 SGB X auf das vom Kläger angeführte tatsächliche Vorbringen an. Der Verfahrensfehler betrifft auch die Entscheidung über die Ablehnung der beantragten Erhöhung der Kostenpauschale, denn das LSG hat diese ausschließlich mit dem Widerruf der Bewilligung selbst begründet.
Nach § 160a Abs 5 SGG – hier anwendbar gemäß Art 17 Abs 2 und Art 19 des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001, BGBl I 2144 – kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was – wie ausgeführt – der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dabei kann dahinstehen, ob die Rechtssache auch – wie von der Beschwerde zusätzlich geltend gemacht – grundsätzliche Bedeutung hat; denn auch bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen (vgl BVerwG NVwZ-RR 1994, 120). Da der angefochtene Beschluss verschiedene prozessuale Ansprüche und damit verschiedene Streitgegenstände betrifft, kommt eine Aufhebung und Zurückverweisung allerdings nur in Betracht, soweit das LSG über die Bewilligung bzw den Widerruf der Bewilligung einer Kostenpauschale für das „Projekt Portugal” entschieden hat.
Da sich die Beschwerdebegründung zu den übrigen Streitgegenständen, nämlich das Begehren des Klägers auf Übernahme von Reisekosten und auf Weiterzahlung von Alhi, in keiner Weise äußert, ist die Beschwerde im Übrigen als unzulässig zu verwerfen. Denn bei mehreren Streitgegenständen ist Voraussetzung einer zulässigen Beschwerde, dass für jeden Streitgegenstand eine Begründung gegeben wird (vgl BSGE 65, 8, 11 = SozR 1300 § 48 Nr 45).
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG im wieder eröffneten Berufungsverfahren vorbehalten.
Fundstellen