Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. sachlicher Zusammenhang. Unterbrechung. private Tätigkeit. Nichtüberschreiten der Zwei-Stunden-Grenze. Abgrenzung der anspruchsbegründenden Tatsache von der anspruchsvernichtenden Tatsache. Beweislast des Versicherten
Orientierungssatz
Bei dem 5b. Senat des Bundessozialgerichts wird angefragt, ob er an seiner in dem Urteil vom 20.8.1987 - 5a RKnU 1/86 - (BSGE 62, 100 = SozR 2200 § 550 Nr 75) vertretenen Rechtsauffassung festhält, dass bei einer privaten Zwecken dienenden Unterbrechung des Heimwegs von der Arbeit der nach Beendigung der privaten Tätigkeit fortgesetzte Weg unter Versicherungsschutz steht, wenn sich nicht feststellen lässt, dass die Unterbrechung länger als zwei Stunden gedauert hat.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1; SGB 7 § 8 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt festzustellen, dass ein von ihm 1976 in der früheren DDR erlittener Verkehrsunfall ein Arbeitsunfall und die beigeladene Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft der hierfür zuständige Versicherungsträger ist.
Der 1958 geborene Kläger war 1976 Lehrling zum Baufacharbeiter beim "VEB BMK Kohle und Energie, KB Industriebau ..." (VEB = Volkseigener Betrieb; BMK = Bau- und Montagekombinat, KB = Kombinatsbetrieb) . Der berufstheoretische Unterricht fand in D. in der S. Straße statt. Der Kläger wohnte zu dieser Zeit im Lehrlingswohnheim, das sich in D. befand. Parallel zur beruflichen Ausbildung war er Mitglied in der Gesellschaft für Sport und Technik, an deren Fahrschullehrgang er teilnahm. Am 26. Oktober 1976 fuhr er als Sozius zusammen mit dem Zeugen F. auf dessen Motorrad von seiner Ausbildungsstätte zur theoretischen Fahrprüfung. Diese fand in der damaligen kommunalen Berufsschule 1 statt, die sich in der heutigen G. in D. befand und auf dem Weg von der Ausbildungsstätte zum Wohnheim lag. Nach Absolvierung der Fahrprüfung ließ der Kläger sich - wiederum als Sozius auf dem Motorrad des Zeugen F. Richtung Lehrlingswohnheim bringen. Auf dem Weg dorthin fuhr der Zeuge F. auf den linken hinteren Kotflügel eines PKW auf. Dabei wurde das rechte Knie des Klägers zwischen dem Seitengepäckständer des Motorrads und dem Kotflügel eingeklemmt, wodurch er sich eine Knorpelabsprengung am Oberschenkelknochenkopf rechts zuzog.
Einen im Oktober 2001 gestellten Antrag auf Erstattung von Heilbehandlungskosten wegen der Unfallfolgen lehnte die angegangene Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung (Rechtsvorgängerin der beklagten Unfallkasse des Bundes) mit Bescheid vom 19. August 2002 ab, weil kein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall vorliege. Eine Entschädigung nach dem Recht der ehemaligen DDR scheide aus, weil der Unfall bis 1993 keinem nach der Wiedervereinigung für das Beitrittsgebiet zuständigen Unfallversicherungsträger bekannt geworden sei. Nach dem Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe kein Versicherungsschutz, denn die Führerscheinprüfung, nach deren Ende sich der Unfall ereignet habe, sei nicht Gegenstand der versicherten Berufsausbildung gewesen. Den Widerspruch hiergegen wies die Beklagte mit Bescheid vom 4. Februar 2003 zurück.
Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 19. Juli 2004; Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 27. Juli 2006) . Das LSG hat insbesondere bekräftigt, dass zum Unfallzeitpunkt kein Versicherungsschutz nach der RVO bestanden habe. Zwar stehe fest, dass der Kläger seinen versicherten Heimweg von der Berufsschule zum Lehrlingswohnheim für die Fahrschulprüfung unterbrochen gehabt habe. Nicht mehr feststellen lasse sich aber, ob er den Heimweg innerhalb von zwei Stunden nach der Unterbrechung wieder aufgenommen und so den Versicherungsschutz wiedererlangt habe. Die Nichterweislichkeit dieses Umstandes gehe zu Lasten des Klägers.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO und beruft sich auf das Urteil des BSG vom 20. August 1987 - 5a RKnU 1/86 - (BSGE 62, 100 = SozR 2200 § 550 Nr 75) . Da nicht bewiesen worden sei, dass die Unterbrechung des Heimwegs durch die Führerscheinprüfung länger als zwei Stunden gedauert habe, sei davon auszugehen, dass auf der Weiterfahrt zum Lehrlingswohnheim, auf der sich der Unfall ereignet habe, wieder Versicherungsschutz bestanden habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 2006 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 19. Juli 2004 sowie den Bescheid der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung vom 19. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 4. Februar 2003 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall vom 26. Oktober 1976 ein Arbeitsunfall und die Beigeladene der für die Entschädigung dieses Arbeitsunfalls zuständige Versicherungsträger ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der Senat möchte die Revision des Klägers zurückweisen und das Berufungsurteil bestätigen.
Einen Arbeitsunfall im Sinne des § 550 Abs 1 RVO hätte der Kläger nur erlitten, wenn er sich im Unfallzeitpunkt auf einem versicherten Weg von seiner Ausbildungsstätte zu seiner Unterkunft im Lehrlingswohnheim befunden hätte. Den Nachhauseweg hatte er jedoch zuvor für eine private Tätigkeit, nämlich die Teilnahme an der Führerscheinprüfung, unterbrochen. Mit der Unterbrechung war der Versicherungsschutz entfallen. Er wäre nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 550 Nr 12, Nr 27, Nr 42; BSGE 55, 141, 143 = SozR 2200 § 550 Nr 55 S 139; BSGE 82, 138, 141 = SozR 3-2200 § 550 Nr 18 S 73 ua) nur dann wieder aufgelebt, wenn die Unterbrechung zwei Stunden nicht überschritten hätte, der Weg nach Hause also spätestens nach zwei Stunden fortgesetzt worden wäre. Ob das der Fall war, wie der Kläger behauptet, hat sich in den Tatsacheninstanzen nicht klären lassen. Die Beweislosigkeit geht zu Lasten des Klägers, weil er sich auf das Wiederentstehen des Versicherungsschutzes als anspruchsbegründende Tatsache beruft (so schon Urteile des Senats vom 30. Januar 1970 - 2 RU 284/67 - USK 7018 = VersR 1970, 637, 638 und -2 RU 97/67 - Kartei Lauterbach/Watermann Nr 8061 zu § 550 S 1 RVO = VdKMitt 1970, 499; siehe auch: Ziegler in: SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl 2007, § 8 11.3 RdNr 274; Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, Stand: 2005, K § 8 RdNr 341; Köhler VSSR 2002, 1, 3 f; Plagemann VersR 1997, 9, 10; Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2 Unfallversicherungsrecht, München 1996, § 32 RdNr 8 bis 10; Ricke BG 1988, 799, 801 f; Bonvie BG 1988, 459, 461; Hessisches LSG, Urteil vom 24. Juni 1998 - L 3 U 685/96 - HVBG-INFO 1998, 3194, 3198 f; vgl auch Senatsurteil vom 18. April 2000 - B 2 U 7/99 R - HVGB-INFO 2000, 1846, 1852; aA Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: 2007m § 8 SGB VII RdNr 12.39; Krasney in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 2007, § 8 SGB VII RdNr 248) .
An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich der Senat durch entgegenstehende Rechtsprechung des 5a. Senats des BSG gehindert. Dieser hat in dem Urteil vom 20. August 1987 - 5a RKnU 1/86 - (BSGE 62, 100 = SozR 2200 § 550 Nr 75) die (objektive) Beweislast dafür, dass eine Unterbrechung des Weges zu oder von der Arbeitsstätte länger als zwei Stunden gedauert hat und der Wegeunfallschutz dadurch endgültig verloren gegangen ist, dem Versicherungsträger auferlegt und dies damit begründet, dass es um eine anspruchsvernichtende Tatsache gehe, deren Unerweislichkeit sich zum Nachteil des Versicherungsträgers auswirken müsse.
Der Auffassung des 5a. Senats kann nicht beigepflichtet werden, weil sie die rechtliche Bedeutung der Zwei-Stunden-Grenze verkennt. Die von der Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit festgelegte Höchstdauer von zwei Stunden markiert die Grenze, ab der bei einer Unterbrechung des Weges aus privaten Gründen von einer endgültigen Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit auszugehen ist, ab der also den zwischenzeitlichen betriebsfremden Aktivitäten gegenüber dem ursprünglichen Zweck des Weges ein solches Übergewicht zukommt, dass sich der weitere Weg aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten nicht mehr als Fortsetzung des früheren, sondern als Antritt eines neuen, durch die private Tätigkeit veranlassten Weges darstellt.
Der Ablauf der Zwei-Stunden-Frist als solcher hat jedoch für den Versicherungsschutz des Betroffenen keine unmittelbaren rechtlichen Folgen. Insbesondere bewirkt er nicht dessen Wegfall. Der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit war bereits durch die Unterbrechung gelöst und der Versicherungsschutz damit entfallen. Er hat nicht etwa, wie der Begriff "Wiederaufleben" glauben machen könnte und wie offenbar der 5a. Senat angenommen hat, während der eigenwirtschaftlichen Unterbrechung latent weiterbestanden und erst durch die Überschreitung der Zwei-Stunden-Grenze sein endgültiges Ende gefunden. Die alleinige Bedeutung der Zeitgrenze besteht vielmehr darin, dass der Versicherungsschutz durch Fortsetzung des Weges vor Ablauf von zwei Stunden neu entsteht, während dies nach Ablauf der Frist nicht mehr möglich ist.
Abgesehen davon werden die Unterschiede zwischen der Feststellung von Tatsachen und deren rechtlicher Würdigung verwischt, wenn der 5a. Senat von "nachgewiesener Lösung des rechtlichen Zusammenhangs" spricht. Nachgewiesen werden können nur Tatsachen, etwa die tatsächliche Unterbrechung eines Weges oder deren zeitliche Dauer. Die Entscheidung, ob ein innerer Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit besteht, ist dagegen das Ergebnis einer rechtlichen Wertung (Subsumtion), die einem "Nachweis" nicht zugänglich ist.
Entgegen dem Vorbringen der Revision ist es sachgerecht, bei der Beweislast zwischen dem Eintritt der Unterbrechung des Versicherungsschutzes, für dessen tatsächliche Grundlagen der Unfallversicherungsträger die Beweislast trägt (BSGE 93, 279, 282 f = SozR 4-2700 § 8 Nr 9 RdNr 12 S 47 f) , und dem (Wieder-)Entstehen des Versicherungsschutzes durch Beendigung der Unterbrechung und Wiederaufnahme des versicherten Weges zu unterscheiden. Eine solche Differenzierung führt nicht zu einer Benachteiligung des Versicherten, zumal er es ist, der durch die eigenwirtschaftliche Unterbrechung des versicherten Weges seinen Versicherungsschutz (zumindest vorübergehend) aufgibt, ohne dass der Unfallversicherungsträger hierauf einen Einfluss hat. Macht der Versicherte geltend, den Versicherungsschutz nach der Unterbrechung wiedererlangt zu haben, so befindet er sich in der typischen Lage desjenigen, der aus einem bestimmten Lebenssachverhalt einen Anspruch herleiten will und deshalb für das Vorliegen dieses Sachverhalts die Beweislast trägt.
Die unterschiedlichen Auffassungen zur Frage der Beweislast sind für den vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserheblich, denn der Senat müsste, wenn der Ansicht des 5a. Senats zu folgen wäre, der Klage stattgeben. Diese Situation zwingt zur Anrufung des Großen Senats des BSG. Gemäß § 41 Abs 3 SGG war deshalb bei dem nach dem aktuellen Geschäftsverteilungsplan für die Entscheidung über Streitigkeiten aus der Unfallversicherung für den Bergbau zuständigen 5b Senat anzufragen, ob er an der im Beschlusstenor wiedergegebenen Rechtsauffassung festhalten will.
Fundstellen