Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. teilbarer Streitgegenstand. Rechtsmittel. selbständiger Teil. Beschränkung. gesonderte Prüfung. Sachurteil an Stelle eines Prozessurteils
Leitsatz (amtlich)
Besteht der Streitgegenstand eines Verfahrens aus mehreren selbstständigen Teilen, so kann die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen von ihnen beschränkt werden und das Rechtsmittel ist für jeden Teil gesondert zu prüfen.
Normenkette
SGG §§ 78, 67, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.11.2006; Aktenzeichen L 15 U 162/06) |
SG Düsseldorf (Urteil vom 25.04.2006; Aktenzeichen S 16 U 22/01) |
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung von Arbeitsunfällen. Die Klägerin beantragte bei dem Beklagten am 25. Februar 2000 die Anerkennung eines Versicherungsfalls, weil sie im zweiten Halbjahr des Schuljahres 1983/1984 durch das Abspielen einer privaten, heimlich aufgenommenen Tonbandaufnahme im Unterricht bloßgestellt worden sei, was ihr Selbstwertgefühl zerstört habe. Der Beklagte lehnte die Anerkennung eines Schulunfalls ab (Bescheid vom 23. November 2000). Im Widerspruchsverfahren bezog die Klägerin sich auf einen weiteren Vorgang während des 4. Schuljahres ihres Grundschulbesuchs in den Jahren 1976 bis 1980, bei dem sie in einer nachhaltig demütigenden Weise mit einer Videokamera gefilmt worden sei. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück und führte ua aus, auch dieses Geschehen während der Grundschule könne nicht als Unfall berücksichtigt werden (Widerspruchsbescheid vom 19. September 2001). Das angerufene Sozialgericht (SG) hat die Klage hinsichtlich des Geschehens aus dem Jahr 1984 als unbegründet abgewiesen, hinsichtlich des Geschehens aus dem Jahr 1980 als unzulässig, weil es insoweit an einer belastenden Verwaltungsentscheidung fehle (Urteil vom 25. April 2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 14. November 2006) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das SG habe die Klage zu Recht abgewiesen, jedoch sei auch hinsichtlich des Geschehens aus dem Jahr 1980 in der Sache zu befinden, weil die Widerspruchsstelle des Beklagten auch über dieses Geschehen entschieden habe.
Aufgrund eines entsprechenden von der Klägerin gestellten Antrags hat der Senat ihr mit Beschluss vom 27. März 2007 Prozesskostenhilfe (PKH) für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des LSG bewilligt. Anschließend hat die Klägerin hinsichtlich dieses Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt, das LSG habe auch über das Geschehen aus dem Jahre 1980 in der Sache entschieden, obwohl dieses nicht Gegenstand eines Widerspruchs oder Widerspruchbescheides gewesen sei und ein Vorverfahren fehle.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. November 2006 ist, soweit es über das Geschehen aus dem Jahr 1980 entscheidet, unter Verstoß gegen § 78 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergangen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Hinsichtlich des weiteren Geschehens aus dem Jahr 1984 ist von der Klägerin im Rahmen ihrer Nichtzulassungsbeschwerde keine Rüge erhoben worden, so dass die Entscheidung des LSG insofern in Rechtskraft erwachsen ist. Besteht der Streitgegenstand eines Verfahrens aus mehreren selbstständigen Teilen, wie vorliegend mehreren Geschehen, die jeweils als Arbeitsunfall geltend gemacht werden, so kann die Zulassung der Revision und ebenso die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen oder mehrere von ihnen beschränkt werden und ein Rechtsmittel ist für jeden gesondert zu prüfen (BSG Beschluss vom 30. November 2006 - B 9a SB 2/06 B; P. Becker, SGb 2007, 261, 264 f).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Der Klägerin ist hinsichtlich der Fristen zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG aufgrund der vorangegangenen PKH-Bewilligung zu gewähren (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 67 RdNr 7a, 11a). Der die PKH bewilligende Beschluss vom 27. März 2007 wurde ihr am 4. April 2007 zugestellt und am 23. April 2007 beantragte sie die Beiordnung eines Rechtsanwaltes, die durch Beschluss vom 19. Juli 2007 erfolgte, der der beigeordneten Rechtsanwältin am 30. Juli 2007 zugestellt wurde. Am 30. August 2007 ging der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nebst Nichtzulassungsbeschwerde mit Begründung beim Bundessozialgericht (BSG) ein.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, soweit das LSG über das Geschehen aus dem Jahr 1980 entschieden hat.
Wird ein Sachurteil statt eines Prozessurteils oder umgekehrt ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlassen, so liegt ein Verfahrensmangel vor, weil es jeweils eine qualitativ andere Entscheidung ist (stRspr seit BSGE 1, 183; BSGE 2, 245, 252 ff; BSG SozR 1500 § 160a Nr 55; P. Becker, SGb 2007, 328, 329 mwN).
So war es hier: Das LSG hat auch über das Geschehen aus dem Jahr 1980 in der Sache entschieden, ohne dass darüber ein Vorverfahren durchgeführt worden war, wie es § 78 SGG anordnet. Denn mangels vorheriger Befassung des Beklagten mit diesem Geschehen war die Entscheidung in dem Widerspruchsbescheid vom 19. September 2001 auch über dieses Geschehen nur eine Erstentscheidung, und es mangelt zumindest an einem Vorverfahren (vgl BSG Urteil vom 30. März 2004 - B 4 RA 48/01 R -). Zu dessen Nachholung hätte das LSG sein Verfahren aussetzen müssen (vgl BSG SozR 1500 § 78 Nr 8; Meyer-Ladewig, SGG, aaO, § 78 RdNr 3a mwN). Dass der Streit um das Geschehen im Jahr 1980 nicht ein Teil des Streits um das Geschehen aus dem Jahr 1984 war, bedarf keiner vertieften Erörterung.
Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Denn ohne das fehlende Vorverfahren kann über das zwischen den Beteiligten umstrittene Geschehen aus dem Jahr 1980 und die Gewährung von Entschädigungsleistungen vom BSG nicht abschließend entschieden werden.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen