Leitsatz (amtlich)
Die im Verwaltungsverfahren eines Versicherungsträgers eingeholten ärztlichen Gutachten sind keine "Privatgutachten". Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind nicht ohne weiteres verpflichtet, zur Beurteilung der in diesen Gutachten behandelten medizinischen Fragen nochmals Beweis nach den Vorschriften des SGG zu erheben.
Normenkette
SGG § 118 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1962 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger war als Chemiearbeiter bei den Stickstoffwerken C.-R. beschäftigt. Am 20. April 1957 hatte er mit einer Sackkarre Säcke mit Kieserit - nach seinen Angaben jeweils drei Säcke im Gewicht von je einem Zentner - zu transportieren. Bei dieser Arbeit verspürte er plötzlich heftige Schmerzen in der Gegend der unteren Lendenwirbelsäule. Nach seinen Angaben gegenüber dem Durchgangsarzt Dr. B. trat das Schmerzempfinden auf, als eine beladene Karre nach rechts umzukippen drohte und der Kläger, um dies zu verhindern, mit der linken Hand die Karre durch Herunterdrücken des linken Griffes gewaltsam zu halten versuchte.
Dr. ... stellte auf Grund von Röntgenaufnahmen fest, daß sich ein sechster Lendenwirbel in Form einer Lumbalisation zeigte und der fünfte Lendenwirbel gegenüber dem sechsten um etwa einen halben Zentimeter verschoben war. Er stellte die Diagnose: "Pseudospondylolisthesis, Asymilationswirbel . Subluxation." Die Beklagte ließ den Bericht des Dr. ... durch Prof. Dr. B überprüfen. Dieser kam auf Grund einer ambulanten Untersuchung des Klägers in einem Gutachten vom 17. Oktober 1957 zu folgendem Ergebnis: Bei dem Kläger bestehe eine chronische Lumbago als Folge eines Bandscheibenschadens, für den zwei Ursachen in Betracht kämen, nämlich ein Wirbelgleiten (Spondylolisthesis) des 5. Lendenwirbelkörpers (LWK) und eine Übergangswirbelbildung in Form einer fast völligen asymetrischen Lumbalisation des 1. Kreuzbeinwirbels. Die Verschiebung des 5. LWK sei entweder angeboren oder in frühester Jugend erworben; sie sei nicht auf eine Verletzung zurückzuführen. Auch die Lumbalisation des 1. Kreuzbeinwirbels sei unfallunabhängig. Das Ereignis vom 20. April 1957 habe auch nicht zur Verschlimmerung des vorhandenen Leidens oder Zustandes geführt.
Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers durch Bescheid vom 28. November 1957 ab.
Die hiergegen gerichtete Klage ist in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben.
Gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1962, zugestellt am 7. November 1962, hat der Kläger am 5. Dezember 1962 Revision eingelegt und diese innerhalb der bis zum 7. Februar 1962 verlängerten Begründungsfrist begründet.
Die vom LSG nicht zugelassene Revision wäre nur statthaft, wenn ein von dem Kläger gerügter Mangel im Verfahren des LSG vorläge oder dieses Gericht bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung des Klägers mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt hätte (§ 162 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). An diesen Voraussetzungen fehlt es jedoch im vorliegenden Streitfalle.
Die Revision sieht zu Unrecht eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und der Aufklärungspflicht darin, daß das LSG sich zur Klärung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gesundheitsschädigung des Klägers und dem Ereignis vom 20. April 1957 mit dem im Verwaltungsverfahren erstatteten Gutachten des Prof. Dr. ... und der Äußerung des Dr. B begnügt und nicht von Amts wegen einen weiteren Sachverständigen gehört hat. Die Stellungnahmen der beiden genannten Ärzte sind entgegen der Auffassung der Revision keine "Privatgutachten" (vgl. Ecker, Die Sozialgerichtsbarkeit 1959, 114; Dapprich aaO. 1962, 292, 293; Schilke, Die Berufsgenossenschaft 1961, 431, 432; Klink aaO. 1962, 294).
Die Beklagte hat sie im Rahmen ihrer Befugnis und Verpflichtung, den Sachverhalt zu ermitteln (§ 1571 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), eingeholt, und die Vorinstanzen waren nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, sie bei ihrer Rechtsfindung zu würdigen (§ 128 SGG). Anlaß zu weiteren Ermittlungen durch die Vorinstanzen hätte allerdings vor allem dann bestanden, wenn das Gutachten des Prof. Dr. B und die Äußerung des Dr. B zur Beurteilung des medizinischen Sachverhalts nicht ausgereicht hätten oder der Kläger substantiierte Beanstandungen gegen jene ärztlichen Feststellungen und Auffassungen vorgetragen hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Gegenüber dem sehr eingehend begründeten Gutachten des Prof. Dr. B ... hat der Kläger in den Vorinstanzen im wesentlichen nur vorgetragen, er könne die für ihn ungünstige Meinung des Sachverständigen nicht teilen, weil er vor dem Unfall keine Schmerzen im Rücken gehabt und ohne Beschwerden schwere Lasten habe heben können. Mit diesen Argumenten hat sich der Sachverständige sehr eingehend auseinandergesetzt. Die Tatsache, daß der Kläger auf seiner abweichenden, von Bandscheibengeschädigten ohne medizinische Kenntnisse in solchen Fällen häufig vertretenen Auffassung beharrte, gebot dem LSG nicht, einen weiteren Sachverständigen zu hören. Dazu bestand auch nicht deshalb ein zwingender Anlaß, weil Prof. Dr. B - wie der Kläger in seiner Berufungsbegründung vorgetragen hat - eine operative Behandlung des Bandscheibenschadens empfohlen haben soll. Eine solche Empfehlung des Sachverständigen vermag die Richtigkeit seiner Beurteilung, daß die Schädigung des Klägers auf einem alten Leiden beruhe, nicht in Frage zu stellen.
Ein die Revision statthaft machender Verfahrensmangel des LSG liegt auch nicht darin, daß es, ohne den von der Polizeibehörde im Verwaltungsverfahren vernommenen Zeugen F. erneut zu vernehmen, die Behauptung des Klägers, die Sackkarre habe umzukippen gedroht, als nicht bewiesen angesehen hat. Das LSG hat zwar Zweifel in die Richtigkeit der angeführten Behauptung des Klägers gesetzt, es hat aber ausgeführt, daß selbst bei Unterstellung seiner Behauptung die Beanspruchung des linken Armes nicht zu einer so starken Anspannung der Rückenmuskulatur habe führen können, daß hierdurch eine Beschädigung der Wirbelsäule, sofern sie nicht bereits vorgeschädigt war, eingetreten wäre. Für das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung über die rechtlich wesentliche Ursache des Bandscheibenschadens kam es somit auf eine Vernehmung des Zeugen F. nicht an. Schon aus diesem Grunde bedeutet die von der Revision gerügte Unterlassung keinen Mangel im Verfahren des LSG.
Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegt entgegen der Auffassung der Revision auch nicht darin, daß das LSG die Akten der Allgemeinen Ortskrankenkasse nicht beigezogen hat, die nach der Meinung des Klägers ergeben sollen, daß er "in den ganzen vergangenen Jahren niemals wegen einer Beschwerde an der Wirbelsäule krank gefeiert habe". Der Beiziehung der Akten bedurfte es schon deshalb nicht, weil dem LSG eine Auskunft der Krankenkasse vom 19. Juli 1957 über die Krankheitszeiten des Klägers von 1947 bis 1957 vorgelegen hat (Bl. 16 der VerwA.). Die Revision ist weiter der Meinung, das LSG habe dadurch gegen § 128 Abs. 1 SGG verstoßen, daß es die Auskunft der Allgemeinen Ortskrankenkasse nicht berücksichtigt habe. Auch diese Rüge vermag die Statthaftigkeit der Revision nicht zu begründen. Aus der Nichterwähnung der Auskunft ergibt sich nicht ohne weiteres, daß das LSG diese unbeachtet gelassen hätte. Es bedurfte nicht ihrer Erwähnung, weil mit der Auskunft, obwohl nach ihr der Kläger seit 1947 nicht an Kreuzschmerzen arbeitsunfähig erkrankt war, die Tatsache nicht widerlegt werden konnte, daß der Kläger nach einem in den Akten des Versorgungsamts Dortmund befindlichen Gutachten des Dr. M. vom 2. Juli 1946 damals über "Schmerzen über dem Gesäß, in der Lendenwirbelsäule" geklagt und "die Wirbelsäule eigenartig steif" gehalten hat.
Unbegründet ist ferner die Rüge, das Gutachten des Prof. Dr. P weise Widersprüche auf und hätte deshalb nicht zur Grundlage der Entscheidung des LSG gemacht werden dürfen. Die Revision sieht solche Widersprüche zu Unrecht in der "eigenen Vorgeschichte" Seite 3 einerseits und Ausführungen in der "Beurteilung" des Sachverständigen auf den Seiten 9, 10 und 11 andererseits. Die "eigene Vorgeschichte" ist, wie auf Seite 10 erläutert ist, eine Darstellung des Klägers vom Unfallgeschehen. Der Sachverständige hat zum Ausdruck gebracht, daß diese Darstellung weder mit anderen Darstellungen des Klägers noch mit der Schilderung des Betriebes und des Zeugen F. ganz übereinstimme. Er hat diese Unterschiede jedoch als unwichtig für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage bezeichnet und ist zu dem Ergebnis gelangt, die Anspannung der Rückenmuskulatur des Klägers sei in jedem Falle so gering gewesen, daß sie nur eine solche Bandscheibe habe schädigen können, deren "endgültiger Riß fällig" gewesen sei. Diese und weitere Erwägungen haben den Sachverständigen zu dem Schluß geführt, daß die Bandscheibe des Klägers bereits vor dem 20. April 1957 schwerstgeschädigt gewesen sei und das Unfallereignis dieses Tages nur eine "Gelegenheitsursache" gewesen sei, die den längst fälligen Abschluß eines Degenerationsvorgangs bedeutet habe. Diese Ausführungen lassen keine Widersprüche erkennen.
Mit ihren weiteren Angriffen gegen das Gutachten des Prof. Dr. B wendet sich die Revision lediglich gegen die von dem Sachverständigen gezogenen und vom LSG gebilligten Schlußfolgerungen, ohne zugleich Widersprüche oder denkgesetzliche Unmöglichkeiten des Gutachtens aufzuzeigen. Damit ist aber nicht dargetan, daß das LSG, indem es dem Sachverständigen gefolgt ist, die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Überzeugungsbildung überschritten und damit § 128 Abs. 1 SGG verletzt habe.
Schließlich rügt die Revision, das LSG hätte durch Anhörung eines Sachverständigen klären müssen, ob die vom Kläger "seit langer Zeit ausgeübte Tätigkeit des Hebens schwerer Lasten auf eine eventuell schwache Wirbelsäule eines schwächlichen Menschen laufend schädigend eingewirkt und so zumindest eine Wirbelsäulenschwäche verschlimmert hat". Diese Rüge ist unbegründet; es war, auch nach der Auffassung des LSG, nur die ursächliche Verknüpfung des Ereignisses vom 20. April 1957 - nicht aber auch früherer Arbeitsvorgänge - mit der Gesundheitsschädigung des Klägers zu klären.
Schließlich rügt die Revision als Verfahrensmangel, das LSG hätte den Kläger nicht mit Mutwillenskosten (§ 192 SGG) belasten dürfen. Diese Rüge ist nicht geeignet, die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zu begründen, weil sie sich, obwohl § 192 SGG unter verfahrensrechtlichen Vorschriften zu finden ist, nicht auf das Verfahren des LSG bezieht; die Kostenentscheidung gehört zum sachlichen Inhalt des Urteilsspruchs (vgl. BSG SozR SGG § 192 Bl. Da 2 Nr. 2).
Die Revision ist auch nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft. Dies wäre nur dann der Fall, wenn das LSG bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gesundheitsstörung des Klägers mit dem Ereignis vom 20. April 1957 das Gesetz, d. h. die für die gesetzliche Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm verletzt hätte. Eine solche Gesetzesverletzung liegt nicht vor. Das LSG hat nicht verkannt, daß der Bandscheibenschaden des Klägers durch dessen Kraftanstrengung beim Niederhalten der beladenen Karre ausgelöst worden ist; es hat diese Ursache aber ohne Rechtsirrtum als bloße - rechtlich unwesentliche - Gelegenheitsursache gewertet.
Weder unter Nr. 2 noch unter Nr. 3 des § 162 SGG fällt die Rüge der Revision, das LSG habe den Begriff des Arbeitsunfalls verkannt. Deshalb bedurfte es nicht der Prüfung, ob diese Rüge begründet ist.
Da die Revision somit nicht statthaft ist, mußte sie als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen