Leitsatz (amtlich)
Das Einverständnis der Beteiligten, ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zu entscheiden, ist auch dann verbraucht, wenn das Gericht anschließend weitere Sachverhaltsermittlungen nach SGG § 106 Abs 3 Nr 1-5 durchführt (Anschluß an und Weiterführung von BSG 1977-09-22 10 RV 79/76).
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, Nr. 4 Fassung: 1953-09-03, Nr. 5 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 12.11.1975; Aktenzeichen S 6 An 659/75) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.07.1977; Aktenzeichen L 3 An 33/76) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juli 1977 zugelassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen den Kosten der Hauptsache.
Gründe
Der Kläger macht die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger mit den Zulassungsgründen nach § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG durchdringen kann. Seine Beschwerde ist jedenfalls wegen seiner mit Schriftsatz vom 28. Oktober 1977 innerhalb der Begründungsfrist ordnungsgemäß erhobenen Rüge eines Verfahrensmangels zulässig. Er hat substantiiert vorgetragen, sein im Berufungsverfahren am 21. Mai 1976 erklärter Verzicht auf eine mündliche Verhandlung sei aufgrund der nachträglichen Beiziehung weiteren Beweismaterials verbraucht gewesen und es sei nicht auszuschließen, daß eine mündliche Verhandlung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, was sinngemäß bedeutet, daß die Entscheidung auf dem Mangel beruhen kann.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist insoweit auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler liegt vor. Die Verzichtserklärung des Klägers vom 21. Mai 1978 nach § 124 Abs 2 SGG erstreckte sich ihrer Natur nach nur darauf, daß das Landessozialgericht (LSG) ohne mündliche Verhandlung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage entscheiden sollte, wie sie im Zeitpunkt des Eingangs der Erklärung bestand. Das folgt daraus, daß § 124 Abs 2 SGG als Ausnahme von dem Grundsatz der Mündlichkeit eng auszulegen und an dem Zweck zu orientieren ist, die Gerichte zu entlasten und die Verfahren zu beschleunigen. Das Einverständnis für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist aber nur dann sinnvoll, wenn das Gericht nur noch darüber zu befinden hat, wie das Gesamtergebnis des Verfahrens zu würdigen und rechtlich zu beurteilen ist (BSG SozR Nr 6 zu § 124 SGG). Ergeht nach der Verzichtserklärung eine das Verfahren nicht abschließende Sachentscheidung, so ist sie deshalb verbraucht (vgl BSG, Urteil vom 22. September 1977 - 10 RV 79/76 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Dies gilt auch, wenn weiteres Beweismaterial, zB Akten anderer Behörden, beigezogen werden (Peters/Sautter/Wolff SGG § 124 Anm. 2;Eyermann/Fröhler VwGO, 7. Aufl. § 101 Rdnr 3; BVerwG NJW 1969, 252). Auch Baumbach-Lauterbach/Albers/Hartmann (ZPO, 36. Aufl. 1978, § 128 Anm 5 C) nehmen einen Verbrauch der Einverständniserklärung nur dann nicht an, wenn es sich um rein förmliche Maßnahmen oder Auflagen zur Erklärung (§ 279a der Zivilprozeßordnung-ZPO- aF = 273 Abs 2 Nr 1 ZPO nF) handelt, erwähnen dagegen die dem § 106 Abs 3 SGG vergleichbaren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 273 Abs 2 Nr 2 ZPO nF nicht. Der Auffassung von Meyer-Ladewig (SGG § 124 Rdnr 4), der ohne nähere Begründung die Verzichtserklärung durch Maßnahmen des Vorsitzenden oder Berichterstatters nach § 106 SGG nicht als verbraucht ansieht, kann nicht beigepflichtet werden. Bei den Maßnahmen nach § 106 Abs 3 Nr 1 bis 5 SGG handelt es sich ebenfalls um Sachverhaltsermittlungen, so daß kein Grund ersichtlich ist, anders als bei Beweisbeschlüssen zu verfahren. Das LSG hätte sonach ohne eine erneute Erklärung des Klägers nach § 124 Abs 2 SGG nur aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden dürfen.
Fundstellen