Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsweg bei wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Krankenkassen
Orientierungssatz
Der Senat schließt sich der Rechtsauffassung des BGH vom 25.2.1988 I ZR 116/85 = VersR 1988, 612, das für Rechtsstreitigkeiten zwischen einer Ersatzkasse und einer AOK über die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit von Maßnahmen auf dem Gebiet der Mitgliederwerbung der ordentliche Rechtsweg gegeben sei, nicht an.
Normenkette
GVG § 13; SGG § 51 Abs 1; UWG § 1
Gründe
Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) hat im Rahmen ihrer Mitgliederwerbung unter Schülern, die nach bevorstehendem Schulabschluß eine versicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen beabsichtigen, Formulare verwendet, die unter der Überschrift "Beitrittserklärung" auf diese Erklärung im Text Bezug nehmen ("Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zur AOK . . .") und von den Schülern und deren gesetzlichen Vertretern zu unterschreiben sind. Mit seiner beim Landgericht erhobenen Klage hat der klagende Verband der Angestellten-Krankenkassen die Beklagte auf Unterlassung der Verwendung der von ihm beanstandeten Formulare und der Abwerbung von Mitgliedern in Anspruch genommen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat den Vorlagebeschluß wie folgt begründet: Die von dem Kläger verfolgten wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüche seien bürgerlich-rechtlicher Natur. Dafür sei entscheidend, daß die Parteien in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stünden, das den privatrechtlichen Normen des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) unterfalle. Die Beklagte und die Ersatzkassen wendeten sich mit Leistungsangeboten, die den Anforderungen des gesetzlichen Krankenversicherungsschutzes entsprächen, an denselben Kreis von Personen, hier an Schüler, die bei Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zwischen dem Beitritt bei einer Ersatzkasse oder der Mitgliedschaft bei einer AOK frei wählen könnten. Dabei begegneten sich die Kassen nicht in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung sondern als gleichberechtigte Anbieter im Rahmen eines von hoheitlichen Bestimmungen freien Wettbewerbs. Aus dem Umstand, daß die streitige Maßnahme in den öffentlich-rechtlichen Aufgabenbereich und Tätigkeitsbereich der Kassen fielen, folge nicht die öffentlich-rechtliche Zuordnung der wettbewerbsrechtlichen Beziehungen zu den konkurrierenden Kassen. Der privatrechtlichen Qualifizierung stehe auch nicht entgegen, daß die Kassen Körperschaften des öffentlichen Rechts seien und öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllten. Maßgebend sei das Klagebegehren. Sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften komme Bedeutung nur im Rahmen der Prüfung von Vorfragen zu.
Der Senat kann sich dieser Rechtsauffassung nicht anschließen.
Mit dem Fehlen eines Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen den Beteiligten kann die privatrechtliche Natur der Rechtsbeziehungen hier nicht begründet werden. Die Zuordnung zum privaten Recht allein wegen des Fehlens eines Über- und Unterordnungsverhältnisses und weil keiner Seite gegenüber der anderen hoheitliche Mittel zur Verfügung stehen, würde nicht den modernen Erkenntnissen vom Wesen des öffentlichen Rechts gerecht. Dementsprechend hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes mit Beschluß vom 4. Juni 1974 - GmS-OGB 2/73 - entschieden, die öffentlich-rechtliche Natur der Ansprüche aus § 405 Reichsversicherungsordnung (RVO) werde nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Beteiligten nicht in einem hoheitlichen Verhältnis der Über- und Unterordnung stünden, sondern gleichgeordnet seien. Gleichgeordnete Beziehungen zwischen Berechtigtem und Verpflichtetem seien dem Recht der Sozialversicherung nicht fremd. Im Prozeßrecht ist für die Gleichordnungsverhältnisse eine besondere Klageart vorgesehen. Mit der in § 54 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geregelten Leistungsklage sind insbesondere Erstattungsansprüche der Sozialversicherungsträger untereinander (§§ 102 ff Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB X) geltend zu machen.
Der BGH hat in der im Vorlagebeschluß erwähnten eigenen Rechtsprechung eine privatrechtliche Qualifizierung als geboten angenommen, "wenn die öffentliche Hand . . . zu privaten Mitbewerbern in einem echten Wettbewerbsverhältnis" stehe und am allgemeinen Geschäftsverkehr teilnehme (BGHZ 66, 229, 237; 67, 88 und 91; so auch von Gamm, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl, Kapitel 17 RdNr 11, Kapitel 20 RdNr 11; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 15. Aufl, Allg RdNr 167, 168). Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich nicht, daß die Beklagte mit privaten Mitbewerbern konkurriert hat und daß es um eine Handlung in Teilnahme am allgemeinen Geschäftsverkehr geht.
Mit dem BGH ist die Frage des Rechtswegs zu beurteilen nach der Natur der Rechtsbeziehungen zwischen den Ersatzkassen und den Allgemeinen Ortskrankenkassen, aus denen der Klageanspruch folgt. Dabei ist zu beachten, daß man im öffentlichen Recht nicht durchformulierte gesetzliche Anspruchsnormen erwarten darf. Vielfach werden insbesondere Grundgedanken zivilrechtlicher Normen in entsprechender Anwendung zur Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche herangezogen; dies gilt insbesondere, wenn die Verwaltung eine öffentlich-rechtliche Norm nicht eingehalten hat, die auch zum Schutz anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts oder Dritter bestimmt sind.
Zwischen den Trägern der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung iS des § 21 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) bestehen vielfache Rechtsbeziehungen. Ihnen ist die Aufgabe übertragen, im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit und die wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft zu gewährleisten (§ 4 Abs 2 SGB I). Ihre Zuständigkeitsbereiche sind insbesondere in den §§ 225 ff, 505 RVO sowie § 4 der Zwölften Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung (Ersatzkassen der Krankenversicherung) - 12. Aufbauverordnung - geregelt. Rechtsbeziehungen zwischen den Trägern ergeben sich aus der Gemeinsamkeit der Aufgabe sowie daraus, daß die Zuständigkeitsbereiche sich berühren; im Verhältnis zu den Ersatzkassen überschneiden sie sich, denn die Ersatzkassen dürfen Personen aufnehmen, die kraft Gesetzes Mitglieder einer anderen gesetzlichen Krankenkasse sind, sowie Versicherungsberechtigte, die auch einer anderen Kasse beitreten können (vgl §§ 234, 235, 245, 250, 257a ff RVO; § 4 der 12. Aufbauverordnung). Daraus folgen besondere Mitteilungspflichten an andere Kassen (vgl § 317 Abs 4a und 5 RVO). Die gemeinsame Aufgabe zieht das Recht oder die Pflicht des unzuständigen Trägers nach sich, vorläufige Leistungen zu erbringen, wenn die Leistungspflicht zwischen mehreren Trägern streitig ist (§ 43 SGB I). Dem vorläufig leistenden Träger steht der Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X zu. Die Rechtsnatur des Anspruchs auf die Sozialleistung bestimmt dann die Rechtsnatur des Erstattungsanspruchs des vorläufig leistenden Trägers (§ 114 SGB X). Auch in den Fällen der §§ 103 ff SGB X ist für den Erstattungsanspruch derselbe Rechtsweg wie für den Anspruch auf die Sozialleistung gegeben. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden daher über Erstattungsansprüche eines Trägers gegen einen anderen, wenn es um Ansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung geht. Im Gesetz ausdrücklich geregelt sind ferner bestimmte Zusammenarbeitspflichten von Leistungsträgern (vgl § 15 Abs 3 SGB I; § 5 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - RehaAnglG -).
Die Pflicht zur engeren Zusammenarbeit der Leistungsträger bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach dem SGB (§ 86 SGB X) gilt als allgemeine Vorschrift für ihre gesamte Tätigkeit, soweit sich dabei Berührungspunkte mit anderen öffentlich-rechtlichen Leistungsträgern ergeben. Da die Pflicht zur engen Zusammenarbeit selbst öffentlich-rechtlicher Natur ist, prägt diese Natur die gesamten Rechtsbeziehungen zwischen den Leistungsträgern. Sie bestimmt inhaltlich auch den Anspruch der Leistungsträger darauf, daß ihr Zuständigkeitsbereich von anderen Leistungsträgern bei ihrer Mitgliederwerbung respektiert wird und diese die für sie geltenden Regeln der Mitgliederwerbung einhalten. Damit ergibt sich eine eigenständige öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage, die nicht auf den Vorschriften des UWG beruht.
Die Regeln für die Mitgliederwerbung der gesetzlichen Krankenkassen ergeben sich aus ihrer Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts, mit der die Formen ihrer Werbung vereinbar sein müssen. Auf diesen Grundsatz nehmen die Richtlinien des Reichsarbeitsministers vom 10. April 1937 (AN IV, 158) mit ihren ins einzelne gehenden Bestimmungen zur Werbung ausdrücklich Bezug. Die Bedeutung der Richtlinien liegt darin, daß ein Verstoß gegen sie zum Widerruf der Zulassung der Ersatzkasse führt (§ 516 Abs 2 RVO). Damit kommt allgemein die Bedeutung einer Werbung der Krankenkassen in unzulässiger Form zum Ausdruck. Wenn den Krankenkassen auch das Recht zur Mitgliederwerbung zugesprochen wird, so haben sie doch stets ihre Pflichten zur Aufklärung, Beratung und Auskunft (§§ 13, 14, 15 SGB I) zu beachten, so daß auch bei der Werbung die Information im Vordergrund steht (vgl Bundesversicherungsamt in DOK 1972, 851 f).
Die öffentlich-rechtlichen Regeln über die Mitgliederwerbung der Krankenkassen dienen zwar in erster Linie dem Schutz der Versicherten, sie schützen aber auch die konkurrierenden Kassen. Diese haben selbst ein Recht auf Werbung und sind in ihren berechtigten Interessen betroffen, wenn in ihren Zuständigkeitsbereich eingegriffen wird. Deshalb wird den Krankenkassen auch das Recht eingeräumt, auf Feststellung der Zuständigkeit für die Durchführung der gesetzlichen Krankenversicherung von bestimmten Versicherten zu klagen (vgl BSG SozR 2200 § 250 RVO Nr 11). Die regelwidrige Mitgliederwerbung einer gesetzlichen Krankenkasse, die in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Krankenkasse eingreift, verletzt deren Rechte und verstößt gegen die Pflicht zur engen Zusammenarbeit der Kassen. Der dagegen gerichtete Unterlassungsanspruch beruht auf den öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten.
Der Große Senat des BGH hat es in seiner Entscheidung vom 22. März 1976 - GSZ 2/75 - (BGHZ 67, 81, 91) dahingestellt sein lassen, ob für die Annahme des Zivilrechtswegs schon der im Gesetz zum Ausdruck gekommene Grundsatz spreche, in den grundsätzlichen Fragen der Wirtschaftsverfassung unabhängig von der Art der Streitigkeit und dem Gewand, in dem sie erscheinen, jede unterschiedliche Beurteilung von vornherein unmöglich zu machen und außerdem die Entscheidungen darüber bei einigen wenigen, auf diesem Gebiet besonders sachkundigen Spruchkörpern der Zivilgerichte zusammenzufassen. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es indessen nicht um grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsverfassung. Vielmehr ist lediglich in Anwendung besonderer öffentlichrechtlicher Regeln über Rechtsbeziehungen zwischen zwei öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu entscheiden. Eine besondere Sachkunde der Zivilgerichte besteht insoweit nicht.
Fundstellen