Leitsatz (amtlich)

1. Das Recht auf Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen nach AVG § 130 Abs 3 (= RVO § 1418 Abs 3) steht auch den Hinterbliebenen des Versicherten zu.

2. Zur Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt, die geeignet sein kann, das Unterlassen der Beitragsentrichtung zu verhindern, ist es einem Versicherten mit durchschnittlicher Erkenntnisfähigkeit zumindest zuzumuten, sich bei der zuständigen Einzugsstelle nach den Gründen der unterlassenen Beitragsentrichtung zu erkundigen (Anschluß an BSG 1970-08-20 1 RA 235/69 = SozEntsch BSG 6 § 140 Nr 5).

 

Normenkette

AVG § 140 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1418 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.08.1976; Aktenzeichen L 1 An 33/76)

SG Hannover (Entscheidung vom 12.11.1975; Aktenzeichen S 16 An 407/74)

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Voraussetzungen für die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 140 Abs 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gegeben sind.

Die am 18. August 1971 im Alter von 27 Jahren gestorbene Mutter der Kläger, H. M., war von Juni 1959 bis März 1962 als Hausgehilfin beim Evangelischen Krankenhaus Stadthagen beschäftigt. Für diese Zeit (34 Monate) wurden Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet. Ab 1. April 1962 war die Verstorbene Krankenpflegeschülerin und ab 1. April 1964 bis 31. März 1965 Schwesternschülerin am H. Hannover. Beiträge zur Rentenversicherung wurden erst seit dem 1. Januar 1965 abgeführt, und zwar bis Ende 1965 für insgesamt 10 Monate. Weitere Beitragszeiten wurden nicht zurückgelegt.

Der Antrag der Kläger vom 25. Mai 1972, ihnen Waisenrente zu gewähren, wurde von der Beklagten wegen Nichterfüllung der Wartezeit abgelehnt (Bescheid vom 21. November 1972). Während des dagegen beim Sozialgericht (SG) Hannover anhängigen Klageverfahrens beantragten die Kläger am 19. März 1973, die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für die Zeit vom 1. April 1962 bis 31. Dezember 1964 zuzulassen. Dies lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, es sei schon zweifelhaft, ob in der fraglichen Zeit überhaupt ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden habe. Auch habe die Versicherte nicht jede nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt walten lassen, um das Unterlassen der Beitragsentrichtung zu verhindern (Bescheid vom 19. Dezember 1973). Widerspruch, Klage und Berufung der Kläger sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 19. März 1974, Urteil des SG Hannover vom 12. November 1975, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 20. August 1976). Das LSG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Feststellung der Beklagten, die Versicherte habe bei Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragsentrichtung verhindern können, sei nicht zu beanstanden. Der Umfang der Sorgfaltspflicht ergebe sich aus der besonderen Stellung des Abs 3 in § 140 AVG. Als gesteigerte Ausnahmevorschrift sei er besonders eng auszulegen. Die Versicherte habe nicht alles in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten Stehende getan, um für die streitige Zeit Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten. Sie hätte sich erkundigen müssen, weshalb die Beitragsentrichtung seit dem Beginn der Ausbildung eingestellt und dann ab 1. Januar 1965 wieder aufgenommen wurde. Zwar hätten die Krankenkassen eine einheitliche Auffassung über den Beginn der Beitragspflicht der nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. August 1964 - 3 RK 37/61 - (BSGE 21, 247) versicherungspflichtigen Lernschwestern nicht gewinnen können. Doch habe es nicht genügt, daß die Versicherte den Beginn der Heranziehung zur Versicherungspflicht ohne weiteres hingenommen habe. Die Anwendung des § 140 Abs 3 AVG verlange ein aktives Handeln des Versicherten. Bereits eine Rückfrage bei der Krankenkasse hätte nicht nur die veränderte Situation aufgrund der Rechtsprechung des BSG ergeben, sondern auch aufgezeigt, daß Zweifel über den Beginn der Versicherungspflicht bestanden. Die Versicherte hätte angesichts solcher Aufklärung die Möglichkeit gehabt, die Entscheidung der Einzugsstelle gerichtlich überprüfen zu lassen. Denn sie sei seit April 1962 versicherungspflichtig gewesen. Eine weitere erhebliche Verletzung der nach den Umständen zu fordernden Sorgfalt ergebe sich daraus, daß die Versicherte im Januar 1966 aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeschieden sei, ohne etwas zur Regulierung des Beitragsbildes zu unternehmen. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie noch die Nachentrichtung nach § 140 Abs 2 AVG erreichen können.

Die Kläger haben - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und - sinngemäß - des § 140 Abs 3 AVG. Zur Begründung führen sie ua aus: Bei der Beurteilung, ob die Versicherte jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet habe, sei auf die Person der Versicherten und ihre Fähigkeit, aber auch ihre Möglichkeit, alles Erforderliche zu tun, abzustellen. Der Verstorbenen als einer früheren Hausgehilfin und späteren Schwesternschülerin könne kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie sich mit den von der Krankenhausverwaltung und der Krankenkasse gegebenen Auskünften begnügt und nicht daran gedacht habe, ihre Rechte im Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren weiter zu verfolgen. Das LSG habe die Gegebenheiten des Einzelfalles verkannt. Insoweit fehle es an der erforderlichen Aufklärung des Sachverhalts.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des LSG und das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, einen neuen Bescheid unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des BSG zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II.

Die Revision der Kläger ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Beklagte nicht gehalten ist, die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen zur Angestelltenversicherung für die verstorbene Mutter der Kläger zuzulassen. Die Voraussetzungen für das außerordentliche Nachentrichtungsrecht nach § 140 Abs 3 AVG (= § 1418 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Fällen besonderer Härte die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen auch nach Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist zulassen und hierfür eine Frist bestimmen, wenn der Versicherte trotz Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragsentrichtung nicht verhindern konnte.

Das LSG durfte davon ausgehen, daß eine Nachentrichtung nach § 140 Abs 3 AVG auch den Hinterbliebenen des Versicherten offensteht. Zwar enthält die Vorschrift selbst keinen ausdrücklichen Hinweis. Die Ausdehnung des Rechts auf Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen nach Eintritt des Versicherungsfalles des Todes ergibt sich jedoch im Umkehrschluß aus § 141 Abs 1 AVG (= § 1419 Abs 1 RVO). Danach dürfen für Zeiten vor Eintritt des Todes lediglich freiwillige Beitrage und Beiträge der Höherversicherung nicht mehr entrichtet werden. Der dieser Vorschrift zugrunde liegende allgemeine rentenversicherungsrechtliche Gedanke, daß ein Versicherungsverhältnis nach Eintritt des Versicherungswagnisses - hier des Todes der Versicherten - nicht mehr nachträglich beeinflußt werden darf, gilt selbst im Rahmen der freiwilligen Versicherung nicht uneingeschränkt (vgl BSGE 24, 146, 149). Um so mehr muß das für Pflichtbeiträge gelten, die innerhalb der strengen Grenzen des § 140 Abs 3 AVG nachentrichtbar sind. Der Zweck dieser Vorschrift, besondere Härten auszugleichen, wäre verfehlt, wenn es den Hinterbliebenen grundsätzlich verwehrt wäre, den Versicherungsverlauf des verstorbenen Versicherten der tatsächlich bestandenen Versicherungspflicht entsprechend durch Nachentrichtung der Beiträge zu berichtigen. Denn die Fälle besonderer Härte treten vornehmlich dann auf, wenn die Hinterbliebenen ohne hinreichende Versicherungsleistungen sind.

Es kann dahingestellt bleiben, ob im Falle der Kläger eine besondere Härte vorliegt. Darauf kommt es entscheidend nicht mehr an. Das LSG hat nämlich zu Recht entschieden, daß die Mutter der Kläger nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat, um das Unterlassen der Beitragsentrichtung zu verhindern (vgl BSG, Urteil vom 20. August 1970 - 1 RA 235/69 - SozEntsch BSG VI § 140 Nr 5). Fehlt es aber an dieser tatbestandsmäßigen Voraussetzung, dann ist schon aus diesem Grunde ein Recht zur außerordentlichen Nachentrichtung gemäß § 140 Abs 3 AVG nicht gegeben.

Die nach der genannten Vorschrift gebotene Sorgfalt erfordert ein Handeln, das objektiv geeignet ist, einen Erfolg herbeizuführen oder einen Nachteil zu verhindern, und das dem Handelnden nach den Verhältnissen des Einzelfalles erkennbar und zumutbar ist. Der Versicherte muß also alle ihm zugänglichen, erkennbaren und zumutbaren Mittel ausschöpfen, die geeignet sein können, das Unterlassen der Beitragsentrichtung zu verhindern. Das setzt zunächst voraus, daß er die Beitragslücke überhaupt erkennt oder zumindest bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen müßte. Das LSG durfte davon ausgehen, daß die Mutter der Kläger nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses aus der Versicherungskarte ohne weiteres entnehmen konnte, daß die Zeit vom 1. April 1962 bis 31. Dezember 1964 nicht als Versicherungszeit eingetragen war. Da das Beschäftigungsverhältnis während dieser Zeit das gleiche war wie im Jahre 1965, hätte es sich der Versicherten ohne weiteres aufdrängen müssen, den Grund für die unterschiedliche versicherungsrechtliche Behandlung zu erfragen, und zwar jedenfalls auch bei der zuständigen Krankenkasse. Dies ist jedem Versicherten zuzumuten. Nach den Feststellungen des LSG hat die Versicherte jedoch nichts unternommen, eine Beitragsentrichtung durchzusetzen oder sich wenigstens über die Gründe für eine Versicherungsfreiheit Klarheit zu verschaffen. Diese Feststellung ist mit wirksamen (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensrügen nicht angegriffen worden. Die Kläger machen lediglich geltend, daß der Versicherten nicht zuzumuten gewesen sei, ihre Rechte im Verwaltungs- bzw. Gerichtsverfahren durchzusetzen. Sie rügen damit jedoch nicht die Feststellung, die Versicherte habe nichts unternommen. Soweit sie geltend machen, das LSG habe die Gegebenheiten des Einzelfalles verkannt und es an der erforderlichen Aufklärung des Sachverhalts fehlen lassen, greift diese Verfahrensrüge ebenfalls nicht durch. Das LSG hat, indem es zur Erfüllung der nach § 140 Abs 3 AVG geforderten Sorgfalt vom Versicherten verlangt, daß er sich bei der Krankenkasse nach den Gründen der unterbliebenen Beitragsentrichtung erkundigt, nur eine Mindestanforderung vorausgesetzt, die von jedem Versicherten mit durchschnittlicher Erkenntnisfähigkeit verlangt werden muß. Dafür, daß diese bei der seit mehreren Jahren als Schwesternschülerin beschäftigten Versicherten nicht vorhanden gewesen ist, waren Anhaltspunkte für das LSG nicht gegeben, so daß es sich auch nicht gedrängt fühlen mußte, insoweit weitere Ermittlungen anzustellen.

Da die Versicherte nach den das Revisionsgericht bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG nichts unternommen hat, sich Klarheit durch Erkundigungen bei der Einzugsstelle zu verschaffen, fehlt es schon deshalb an der Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt. Es kann daher dahinstehen, ob sich die Versicherte mit einer Auskunft durch die Krankenkasse hätte zufrieden geben dürfen oder ob ihr darüber hinaus zuzumuten gewesen wäre, eine förmliche Verwaltungsentscheidung herbeizuführen und sodann den Rechtsweg auszuschöpfen. Auch muß es - weil nur für die Frage der besonderen Härte bedeutsam - als unerheblich außer Betracht bleiben, ob und weshalb die Versicherte nach ihrem Ausscheiden aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung - eine freiwillige Versicherung war ihr mangels Entrichtung von Pflichtbeiträgen für mindestens 60 Kalendermonate nach § 10 Abs 1 AVG aF ohnehin nicht möglich - auch anderweitig nichts unternommen hat, um die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente zu erfüllen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652554

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