Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Unterhaltsanspruch nach dem Ehegesetz. Unterhaltsvergleich
Orientierungssatz
Vor der Prüfung eines Anspruchs auf Hinterbliebenenrente nach der 2. Alternative des § 1265 S 1 RVO hat das Gericht zu prüfen, ob ein Unterhaltsvergleich den die gesetzliche Unterhaltsregelung des § 61 Abs 2 EheG verdrängenden Voraussetzungen entspricht, so daß ein Rückgriff auf den Anspruch nach § 1265 S 1 Alternative 1 RVO ausgeschlossen ist.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 04.06.1971) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 12.11.1969) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1971 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine anteilige Hinterbliebenenrente gemäß §§ 1265, 1268 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Rentenversicherung ihres am 7. Januar 1969 verstorbenen früheren Ehemannes Karl M. zusteht.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten, aus der die Kinder Herbert, geboren am 29. Januar 1933, und Wilfried, geboren am 9. Januar 1939 hervorgegangen sind, wurde durch rechtskräftiges Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Mai 1955 nach mehr als dreijährigem Getrenntleben ohne Schuldausspruch gemäß § 48 des Ehegesetzes (EheG) geschieden. Am 27. August 1955 schlossen der Versicherte und die Beigeladene die Ehe; aus dieser Ehe sind keine Kinder hervorgegangen.
Vor der Scheidung war der Versicherte, der sich im November 1950 von der Klägerin getrennt hatte und damals ein durchschnittliches Monatseinkommen von 300,-- DM hatte, während die nicht erwerbstätige Klägerin über monatliche Mieteinnahmen von 20,-- DM verfügte, verurteilt worden, ab 1. Mai 1951 der Klägerin 80,-- DM und jedem Sohn 30,-- DM monatlich Unterhalt zu zahlen. Im Termin vor dem Oberlandesgericht Koblenz vom 6. Mai 1955 schlossen die Klägerin und der Versicherte vor der Verkündung des Scheidungsurteils für den Fall einer Scheidung einen Vergleich. Darin verpflichtete sich der Versicherte, der nunmehr monatlich durchschnittlich 350,-- DH verdiente, während die Klägerin monatliche Mieten von 24,-- DM und aus Landverpachtung jährlich 80,-- DM einnahm, der Klägerin seine Miteigentumshälfte an dem gemeinsamen Hausgrundstück unentgeltlich zu übertragen und ihr ab 1. Juni 1955 eine monatliche Unterhaltsrente von 20,-- DM zu zahlen. In dem Scheidungsverfahren hielt die Klägerin als Beklagte ihren Widerspruch gegen die Scheidung nicht mehr aufrecht. Das Hausgrundstück hatte die Klägerin von ihren Eltern erhalten und während der Ehe- dem Versicherten die Hälfte als Miteigentümer übertragen; die Eheleute hatten das Grundstück 1935 neu bebaut; nach 1945 mußten sie das durch Kriegseinwirkungen beschädigte Haus teilweise wieder aufbauen.
Der Versicherte erfüllte beide Vergleichsverpflichtungen. Von der Beklagten erhielt er von November 1964 ab Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von anfangs 353,70 DM, im Jahre 1968 in Höhe von 438,20 DM und im Januar 1969 von 484,30 DM monatlich.
Die Beklagte gewährte der Beigeladenen die Witwenrente von 314,30 DM monatlich (Bescheid vom 29. Mai 1969). Den Antrag der Klägerin, ihr die anteilige Hinterbliebenenrente gemäß §§ 1265, 1268 Abs. 4 RVO zu gewähren, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25. April 1969). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin und der Beigeladenen die anteiligen Hinterbliebenenrente gemäß §§ 1265, 1268 Abs. 4 RVO zu gewähren (Urteil vom 12. November 1969).
Auf die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 25. April 1969 und 29. Mai 1969 abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom Juni 1971).
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1265 Satz 1 RVO.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1971 aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 12. November 1969 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beigeladene ist nicht vertreten.
II
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das in § 1265 Satz 1 RVO enthaltene gesetzliche Merkmal "zur Zeit seines Todes" hat in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Ausdeutung zum "letzten wirtschaftlichen Dauerzustand" erfahren. Danach soll für die unterhaltsrechtlichen Beziehungen der geschiedenen Ehegatten nicht auf den Zeitpunkt des Todes, sondern auf einen längeren Zustand abgehoben werden, von dem zu erwarten ist, daß er ohne den Tod des Versicherten und ohne die damit zusammenhängenden Ereignisse wahrscheinlich fortbestanden hätte (BSG SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO), um so Unbilligkeiten zu vermeiden, die häufig einer "schematischen Abgrenzung nach Jahren und Monaten anhaften" (BSG 14, 129, 132 = SozR Nr. 1 zu § 1266 RVO). Wenngleich die Formel vom "letzten wirtschaftlichen Dauerzustand" in der Rechtsprechung des BSG nicht einheitlich und auch in der zeitlichen Erstreckung nicht nach festen Maßstäben angewendet worden ist (vgl. das Nähere in: BSG SozR Nr. 48 zu § 1265 RVO, Blatt Aa 58), umfaßt hier der "letzte wirtschaftliche Dauerzustand" jedenfalls die Zeit ab 1. Januar 1968, in der der Versicherte Empfänger von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von monatlich 438,20 DM war.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, "wegen des Volleigentums und der nicht anders als die Rente des Verstorbenen mit den Lebenshaltungskosten gestiegenen Nutzungen an dem Hausgrundstück" könne nicht festgestellt werden, daß der Versicherte "verpflichtet gewesen und durch Abänderungsurteil verpflichtet worden wäre", spätestens von Januar 1969 ab der Klägerin mehr als 20,-- DM monatlich an Unterhalt zu zahlen. Es hat eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Zeitpunkt des Todes des Versicherten gegenüber denjenigen zur Zeit der Scheidung im Jahre 1955 verneint. Unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 61 Abs. 2 Satz 1 EheG hätten die Klägerin und der Versicherte das in dem Vergleich vor dem Oberlandesgericht Koblenz vom 6. Mai 1955 geregelt, was ihnen recht und billig erschienen sei: Die Klägerin habe über eine mietfreie Wohnung und alle Nutzungen des Hausgrundstücks verfügen und außerdem 20,-- DM monatlich in bar erhalten sollen. Bezogen auf 1955 hätten sich die Vermögens- und Einkommensverhältnisse bis zum Tode des Versicherten nicht und schon gar nicht wesentlich zuungunsten der Klägerin verschoben.
Mit Recht hat das LSG dem Umstand, daß der Versicherte im Zusammenhang mit der Scheidung der Klägerin seinen Miteigentumsanteil an dem Hausgrundstück der Klägerin zu Eigentum übertragen hat, im Ergebnis für die Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes keine unterhaltsrechtliche Bedeutung beigemessen. Abgesehen davon, daß in dieser Zeit die von der Klägerin aus dem Hausgrundstück gezogenen Nutzungen solche aus dem eigenen Vermögen der Klägerin und keine Leistungen des Versicherten waren und die Klägerin als Begünstigte auch über den Tod des Versicherten hinaus in Besitz, Eigentum und Nutzung der auf sie übertragenen Vermögenswerte geblieben ist, so daß sie durch den Tod des Versicherten nichts verloren hat, was durch eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 1 RVO auszugleichen gewesen wäre (vgl. BSG SozR Nr. 19 zu § 1265 RVO), fehlt nach der Lage des Falles jeder Anhalt dafür, daß die Übertragung des Miteigentumsanteils der Gegenwert für laufenden Unterhalt sein sollte.
Das Berufungsgericht ist im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ohne weiteres davon ausgegangen, daß der Vergleich vor dem Oberlandesgericht Koblenz vom 6. Mai 1955 durch vertragliche Vereinbarung das gesetzliche Unterhaltsrecht des § 61 Abs. 2 EheG abgelöst hat. Das ist rechtlich nach § 72 EheG möglich. Insoweit besteht volle Vertragsfreiheit (vgl. BGH LM EheG § 72 Nr. 2), die allein durch die zwingende Vorschrift des § 72 EheG selbst und die Schranken des allgemeinen Rechts, vornehmlich des § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), begrenzt ist (vgl. Hoffmann-Stephan, EheG, 2. Aufl. 1968, Anm. 8); dabei ist u.a. auch ein teilweiser Unterhaltsverzicht zulässig (vgl. Hoffmann-Stephan, aaO. Anm. 10). Falls die Parteien tatsächlich durch Vergleich die unterhaltsrechtlichen Folgen nach der Ehescheidung gemäß § 72 EheG regeln wollten, könnte als Grundlage für den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Satz 1 RVO nur diejenige der 2. Alternative dieser Vorschrift in Betracht kommen (vgl. BSG SozR Nr. 56 zu § 1265 RVO). Dies hat das LSG zutreffend erkannt. Nicht festgestellt hat es indes, ob der Vergleich vom 6. Mai 1955 den die gesetzliche Unterhaltsregelung des § 61 Abs. 2 EheG verdrängenden Voraussetzungen entspricht, so daß ein Rückgriff auf den Anspruch nach der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO ausgeschlossen wäre (vgl. BSG aaO). Dieser Feststellung als notwendige Grundlage aller weiteren Erwägungen hätte es aber bedurft.
Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht ausreichen, wird sie das Berufungsgericht nachzuholen haben (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Ansatz und Anhalt für die notwendige Prüfung und Feststellung könnten der Inhalt des Schreibens der Klägerin vom 27. Juni 1969 (Blatt 6 bis 8 der SG-Akten) - dort schildert die Klägerin u.a. die Entwicklung ihrer Ehe, die wirtschaftlichen Verhältnisse während der Ehe und den Umfang der Unterhaltsschulden des Versicherten gegenüber der Klägerin und den beiden Kindern - und der wirtschaftlich bedeutsame Umstand bieten, daß der Versicherte kurz nach der Scheidung (6. Mai 1955) mit der erwerbstätigen Beigeladenen am 27. August 1955 die Ehe geschlossen hat. Möglicherweise sind diese oder andere wesentliche Einzelheiten, die bei einer eingehenden Anhörung der Klägerin und der Beigeladenen noch zutage treten können, bei der Ermittlung des monatlichen Unterhalts von 20,-- DM nicht erwähnt und deshalb im Rahmen der Billigkeit nicht berücksichtigt worden.
Sollte das LSG feststellen können, daß der Vergleich vom 6. Mai 1955 ein solcher nach § 72 EheG war, wird es an erster Stelle zu prüfen haben, ob die Klägerin während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes überhaupt unterhaltsbedürftig war. Es läßt sich nämlich nicht von vornherein von der Hand weisen, daß der Klägerin zu dieser Zeit eine Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls in Heimarbeit, zumutbar war (vgl. BSG SozR Nr. 39 zu § 1265 RVO), wodurch sie sich selbst hätte Unterhalt verschaffen können. Sollte die weitere Aufklärung ergeben, daß die Klägerin unterhaltsbedürftig war, wird das LSG im Rahmen der Prüfung der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten seinen Gedanken wieder aufnehmen können, ob sich die wirtschaftlichen Verhältnisse auf der Seite des Versicherten im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand so zugunsten der Klägerin geändert hatten, daß eine Abänderungsklage gemäß § 323 der Zivilprozeßordnung (ZFO) einen höheren Unterhalt als 20,-- DM monatlich ergeben hätte. Das LSG hat indes diesem Gedanken, den es dem Grunde nach zutreffend erwogen hat, nicht in vollem Umfang Rechnung getragen. Das LSG hätte nämlich in eine genaue und ins einzelne gehende vergleichende Prüfung zwischen den Verhältnissen bei Vergleichsabschluß und zur Zeit des Todes des Versicherten ("letzter wirtschaftlicher Dauerzustand") unter Berücksichtigung aller Voraussetzungen des § 61 Abs.2 Satz 1 EheG eintreten müssen. Wenn auch der Klägerin nach § 61 Abs. 2 Satz 1 EheG nicht mehr an Unterhalt zuerkannt werden kann, als wozu ein für schuldig erklärter Ehegatte nach § 58 EheG verpflichtet wäre, insofern also eine obere Unterhaltsgrenze einzuhalten ist, sind bei den Billigkeitserwägungen außer den Vermögens- und Einkommensverhältnissen der geschiedenen Eheleute zu den beiden Vergleichszeitpunkten auch diejenigen der zweiten Ehefrau, hier also der Beigeladenen, zur Zeit des Todes des Versicherten mit zu berücksichtigen (vgl. Palandt/Lauterbach, BGB, 31. Auflage 1972, EheG § 61 Anm. 3; Wüstenberg/Koeniger, in BGB-RGRK, 10./11. Auflage 1968, EheG § 61 Anm. 13, 14). Es ist nicht auszuschließen, daß der Versicherte, dessen Monatseinkommen, wie das LSG festgestellt hat, von durchschnittlich 350,-- DM zur Zeit der Scheidung auf zuletzt 484,30 DM (Rente wegen Erwerbsunfähigkeit), also um monatlich 134,30 DM, gestiegen war, wegen des gestiegenen eigenen Einkommens und wegen einer fehlenden oder nur eingeschränkten ehelichen Unterhaltspflicht gegenüber der Beigeladenen, war diese doch erwerbstätig mit eigenem Erwerbseinkommen, im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand einen höheren monatlichen Unterhalt als 20,-- DM hätte leisten können.
Soweit das Berufungsgericht schließlich den Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin nach der 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO ("wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat") abgelehnt hat, ist das entgegen der Auffassung der Revision nicht zu beanstanden. Es ist hier der ständigen Rechtsprechung des BSG gefolgt, wonach der Unterhaltsanspruch einer früheren Ehefrau, der eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO auslösen soll, mehr als nur einen geringfügigen Teil des Unterhalts ausmachen muß, wofür in der Regel etwa 25 v.H. des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten zu fordern sind (BSG 22, 44, 46 - SozR Nr. 26 zu § 1265 RVO; SozR Nr. 41, 45, 49 zu § 1265 RVO). Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht auch nach neuer Prüfung kein Anlaß. Die tatsächlichen Zahlungen des Versicherten im letzten Jahr vor seinem Tode in Höhe von 20,-- DM monatlich erreichten jedenfalls nicht den zu fordernden Regelsatz von etwa 25 v.H. des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen