Leitsatz (amtlich)
Eine Kriegsdienstzeit im ersten Weltkrieg, während der dem Versicherten Invalidenrente nach RVO § 1255 Abs 3 idF vom 1911-07-19 (Krankenrente) gewährt worden ist, kann nicht als Ersatzzeit iS von RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 (= AVG § 28 Abs 1 Nr 1) angesehen und damit auch nicht als Versicherungszeit nach RVO § 1250 Abs 1 Buchst b (= AVG § 27 Abs 1 Buchst b) angerechnet werden.
Normenkette
RVO § 1250 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1960-02-25; AVG § 27 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1960-02-25; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1255 Abs. 3 Fassung: 1911-07-19
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen werden das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. September 1962 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 19. Februar 1962 aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Mit Bescheid vom 19. November 1960 gewährte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Beklagte) dem M Sch (Sch.) Altersruhegeld vom 1. Juni 1960 an (§ 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Bei der Berechnung des Altersruhegeldes berücksichtigte die Beklagte entsprechend der Beitragsübersicht der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein (Beigeladenen) vom 17. Oktober 1960 folgende Versicherungszeiten aus der Rentenversicherung der Arbeiter (Invalidenversicherung): eine Beitragszeit von 156 Wochen aus den Jahren 1911 bis 1914 und als Ersatzzeit (§ 1251 Abs. 1 Ziff. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - = § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG) die anschließende Kriegsdienstzeit vom 10. August 1914 bis zum 3. Februar 1916 (78 Wochen). Die Anrechnung der weiteren Kriegsdienstzeit vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 lehnte die Beklagte ab, weil Sch. während dieser Zeit wegen vorübergehender Invalidität infolge einer Verwundung am 6. August 1915 Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 RVO idF vom 19. Juli 1911 bezog. Die dagegen gerichtete Klage des Sch. hatte Erfolg (Urteil des SG Bremen vom 19. Februar 1962); die Berufung der Beigeladenen wies das Landessozialgericht (LSG) Bremen am 20. September 1962 zurück: Auch die weitere Kriegsdienstzeit des Sch. vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 sei als Versicherungszeit nach § 27 AVG anzurechnen, auch insoweit handele es sich um eine Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG. Dass Sch. während dieser Zeit Invalidenrente bezogen habe, stehe dem nicht entgegen; nach dem hier anzuwendenden neuen Recht sei die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses auch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit möglich; der Versicherungsfall der vorübergehenden Invalidität im Jahre 1916 habe daher - nach neuem Recht - das Versicherungsverhältnis des Sch. für den hier zu beurteilenden Versicherungsfall des Alters nicht beendet. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beigeladenen am 31. Oktober 1962 zugestellt.
Am 30. November 1962 legte die Beigeladene Revision ein; sie beantragte,
das Urteil des LSG Bremen vom 20. September 1962 und das Urteil des SG Bremen vom 19. Februar 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene begründete die Revision am 20. Dezember 1962: Das LSG habe § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG unrichtig angewandt; auch nach neuem Recht könne eine Kriegsdienstzeit des ersten Weltkriegs, während der Invalidenrente bezogen worden ist, keine Ersatzzeit sein.
Die Beklagte schloss sich dem Antrag und den Ausführungen der Beigeladenen an.
Am 4. Februar 1963 starb Sch. Am 12. November 1963 beantragte die Beigeladene, die Witwe K Sch als Rechtsnachfolgerin des Sch. zur Aufnahme des Verfahrens und zugleich zur Verhandlung der Hauptsache zu laden. Dies geschah am 12. Juni 1964. Frau K Sch erklärte sich hierzu nicht.
II
Der Senat hat zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die als Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Sch. geladene Witwe K Sch. als Klägerin (Revisionsbeklagte) in das anhängige Revisionsverfahren einzutreten hat. Dies ist zu bejahen. Rechtsnachfolger im Sinne des § 68 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 239 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist, wer infolge des Todes des bisherigen Prozessbeteiligten in dessen Rechtsstellung eintritt. Es kann dahingestellt bleiben, ob K Sch. Erbin des verstorbenen Sch. und damit seine Universal-Rechtsnachfolgerin ist. Sie ist jedenfalls Sonderrechtsnachfolgerin für die Rentenansprüche des Sch. gegen die Beklagte nach § 65 Abs. 2 AVG (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu § 68 SGG); sie hat nach der Meldebestätigung des Stadt- und Polizeiamts der Freien Hansestadt Bremen vom 23. Oktober 1963 mit ihrem verstorbenen Ehemann M Sch. bis zu dessen Tode in häuslicher Gemeinschaft gelebt und ist daher nach § 65 Abs. 2 AVG zur Fortsetzung des Verfahrens hinsichtlich der streitigen Bezüge des Sch. in erster Linie berechtigt. Sie ist zur Aufnahme des Verfahrens auf Grund des Antrags der Beigeladenen auch verpflichtet, sie hat keine gesetzlichen Gründe, die Aufnahme des Verfahrens abzulehnen (vgl. BSG aaO); sie ist deshalb an Stelle des verstorbenen M Sch. als Klägerin (Revisionsbeklagte) am Verfahren beteiligt.
Die Revision der Beigeladenen ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.
Zu Unrecht ist das LSG zu der Auffassung gelangt, auch die Zeit vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 sei als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Die hier allein streitige Frage der Anrechnung dieses Zeitraums auf die Versicherungszeit ist - wie das LSG insoweit zutreffend erkannt hat - nach dem ab 1. Januar 1957 geltenden - neuen - Recht zu beurteilen; der Rentenanspruch des Sch. auf das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG stützt sich auf einen Versicherungsfall neuen Rechts; dieser Rentenanspruch, um dessen Berechnung es hier geht, ist erst im Juni 1960 nach Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze (1. Januar 1957) entstanden. Anzuwenden sind insoweit allerdings nicht - wie das LSG angenommen hat - die neuen Vorschriften des AVG, sondern nach § 89 Abs. 3 AVG die neuen Vorschriften der RVO, denn es handelt sich um einen Fall der Wanderversicherung im Sinne von § 87 AVG; die Beklagte ist zwar für die Feststellung der Gesamtleistung zuständig (§§ 87, 89 Abs. 2, 90 Abs. 1 AVG), der hier streitige Zeitraum vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 ist jedoch dem durch die beigeladene Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein beteiligten Versicherungszweig der Rentenversicherung der Arbeiter zuzurechnen, weil der letzte Beitrag vor der hier streitigen - weiteren - Ersatzzeit zu diesem Versicherungszweig entrichtet worden ist (vgl. auch § 1314 Abs. 2 Satz 2 RVO = § 93 Abs. 2 Satz 2 AVG). Diese unrichtige Gesetzesanwendung des LSG ist aber rechtlich ohne Belang, denn die hier in Betracht zu ziehenden Vorschriften der RVO stimmen mit denen des AVG, nach denen das LSG die Anrechnung dieser Zeit beurteilt hat, wörtlich überein. Nach § 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO, der dem § 27 Abs. 1 Buchst. b AVG entspricht, sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten auch Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) nach § 1251 RVO (= § 28 AVG). Nach § 1251 Abs. 1 Ziff. 1 RVO (= § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG) werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten die Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) angerechnet, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist.
Entgegen der Ansicht des LSG handelt es sich bei der hier streitigen Zeit vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 jedoch nicht um eine derartige Ersatzzeit. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG hat Sch. zwar auch während dieses Zeitraums militärischen Dienst im Sinne des § 2 BVG geleistet; er ist am 10. August 1914 zum Kriegsdienst einberufen und erst am 10. September 1917 entlassen worden; dennoch kann aber die Zeit vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917 nicht als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 RVO (= § 28 AVG) angesehen werden, weil Sch. während dieser Zeit - wie das LSG ebenfalls unangegriffen festgestellt hat - Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 RVO idF vom 19. Juli 1911 (Krankenrente) bezogen hat. Der Invalidenrentenbezug während der Kriegsdienstzeit im ersten Weltkrieg hat nicht nur - wie auch das LSG nicht verkannt hat - nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden - alten - Recht bewirkt, dass die Kriegsdienstzeit insoweit, als sie mit der Rentenbezugszeit zusammenfiel, nicht als Ersatzzeit angesehen werden konnte mit der Folge, dass insoweit keine Steigerungsbeträge zu gewähren waren (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats vom 16. April 1964, 11/1 RA 356/62); auch nach dem hier anzuwendenden neuen Recht ist die Kriegsdienstzeit im ersten Weltkrieg von dem Zeitpunkt an keine Ersatzzeit mehr, von dem an dem Versicherten Invalidenrente zuerkannt worden ist. Diese Folgerung ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 1251 RVO (= § 28 AVG), auf den das LSG allein abgestellt hat, jedoch aus dem Wesen der Ersatzzeit. Die Ersatzzeiten neuen Rechts sind ebenso wie die (vollkommenen) Ersatzzeiten alten Rechts (§ 1263 RVO aF; vgl. dazu das bereits erwähnte Urteil des Senats vom 16. April 1964, 11/1 RA 356/62) Ersatz für Zeiten, für die mit Rücksicht auf die besonderen im Gesetz festgelegten Tatbestände dem Versicherten die Entrichtung von Beiträgen regelmäßig nicht möglich gewesen ist, dadurch sollen ihm versicherungsrechtliche Nachteile nicht entstehen; auch die Ersatzzeiten neuen Rechts sollen als "Zeiten ohne Beitragsleistung" (§ 1250 Abs. 1 Nr. 2 RVO) ihrem Wesen nach Beiträge ersetzen, weil nach der Ansicht des Gesetzgebers durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände, die nicht in der Person des Versicherten begründet sind, eine Beitragsleistung nicht zu erwarten gewesen ist. Wenn deshalb während des Vorliegens eines der in § 1251 RVO angeführten Tatbestände keine Beiträge entrichtet worden sind, dann wird unterstellt, dass allein die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände eine Beitragsleistung verhindert haben. Das gilt aber nur solange, wie der Versicherte überhaupt die rechtliche Möglichkeit gehabt hätte, während dieser Zeit Beiträge wirksam zu entrichten; denn für die Anwendung der Ersatzzeitenregelung ist nur dann Raum, wenn und solange Beitragszeiten durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände verlorengehen konnten. An dieser Voraussetzung fehlt es hier für die streitige Zeit vom 4. Februar 1916 bis zum 10. September 1917. Mit dem Eintritt der Invalidität am 4. Februar 1916 und der Gewährung von Invalidenrente trat nach damaligem Recht "absolute" Versicherungsfreiheit ein, die bewirkte, dass für den Versicherten von diesem Zeitpunkt an keine Beiträge mehr entrichtet werden durften (§§ 1236, 1443 RVO idF vom 19. Juli 1911). Die Entrichtung von Beiträgen wäre Sch. daher selbst dann nicht möglich gewesen, wenn er nicht über den 4. Februar 1916 hinaus Kriegsdienst geleistet hätte; durch die weitere Kriegsdienstleistung ist dem Sch. somit keine Beitragsleistung entgangen, die durch die Ersatzzeitenregelung zu ersetzen wäre.
Die Ansicht des LSG, die Neugestaltung des Leistungssystems der Rentenversicherung führe zu einer anderen Beurteilung, trifft nicht zu. Das LSG hat dabei verkannt, dass hier - obwohl es sich um einen Versicherungsfall neuen Rechts handelt - die Frage, ob Sch. nach Eintritt der Invalidität und dem Beginn des Rentenbezugs am 4. Februar 1916 das Versicherungsverhältnis hat fortsetzen können, für ihn also für diese Zeit Beiträge haben entrichtet werden dürfen, nicht nach neuem Recht zu beantworten ist; diese Frage ist vielmehr - wie geschehen - nach dem Recht zu beantworten, das in dem Zeitraum gegolten hat, für den Beiträge entrichtet oder "ersetzt" werden sollen (BSG 10, 156, 158; vgl. auch § 1422 RVO = § 144 AVG). Auch bei Versicherungsfällen neuen Rechts kann daher eine Kriegsdienstzeit im ersten Weltkrieg, während der Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 RVO idF vom 19. Juli 1911 (Krankenrente) gewährt worden ist, nicht als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 Abs. 1 Ziff. 1 RVO (= § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG) angesehen und damit auch nicht als Versicherungszeit nach § 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO (= § 27 Abs. 1 Buchst. b AVG) angerechnet werden.
Auf die Revision der Beigeladenen sind somit die Urteile des LSG und des SG aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen