Leitsatz (amtlich)
Friedens-Dienstzeiten eines Berufssoldaten sind nicht als Ersatzzeiten nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) anzurechnen; dies gilt auch für die Zeiten, in denen sonst auf grundgesetzlicher Wehrpflicht Militärdienst zu leisten gewesen wäre.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Juli 1962 und des Sozialgerichts Hamburg vom 6. September 1961 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geb. am 9. März 1891, legte im März 1911 die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis zum Schluß des Sommersemesters 1912 an verschiedenen Universitäten. Am 3. Oktober 1912 trat er als Fahnenjunker bei einer Artillerie-Abteilung ein; am 7. Juli 1913 wurde er zum Fähnrich und am 21. Mai 1914 zum Leutnant befördert; er war dann bis zum 21. Januar 1920 Berufsoffizier. Ab 1. Februar 1920 war der Kläger als kaufmännischer Angestellter versicherungspflichtig beschäftigt, später entfiel die Versicherungspflicht wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung des Altersruhegeldes (§ 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. Januar 1958 ab, weil die Wartezeit von 180 Beitragsmonaten nicht erfüllt sei; sie bewilligte dem Kläger jedoch mit Bescheid vom 7. September 1960 die Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juni 1957. Mit der Klage an das Sozialgericht (SG) Hamburg machte der Kläger geltend, seine Rente sei höher festzusetzen; die Schul- und Hochschulzeit nach der Vollendung seines 15. Lebensjahres bis zum Beginn der Militärdienstzeit sei als Ausfallzeit und die Militärdienstzeit vom 3. Oktober 1912 bis zum Beginn des ersten Weltkrieges sei als Ersatzzeit anzurechnen.
In der mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 1961 machte das SG einen "Vergleichsvorschlag" dahin, daß die Beklagte zusätzlich die Schul- und Universitätsausbildung des Klägers nach Vollendung des 15. Lebensjahres als Ausfallzeit und seine Militärdienstzeit vor dem ersten Weltkrieg (3. Oktober 1912 bis 1. August 1914) als Ersatzzeit anerkenne. In dem in der Sitzungsniederschrift enthaltenen "Vergleichsvorschlag" heißt es unter d): "Der Bevollmächtigte der Beklagten behält sich Widerruf des Vergleichs binnen einem Monat nach Zustellung des Protokolls vor". Am 29. Juni 1961 erklärte die Beklagte dem SG gegenüber, "der am 7. Juni 1961 abgeschlossene Vergleich wird hiermit widerrufen".
Das SG entschied mit Urteil vom 6. September 1961: "Der Bescheid (der Beklagten) vom 7. September 1960 wird dahin abgeändert, daß die Beklagte verurteilt wird, die Militärdienstzeit des Klägers vom 3. Oktober 1912 bis zum 1. August 1914 (Beginn des ersten Weltkrieges) als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen. Im übrigen (wegen der Anrechnung der Schul- und Hochschulausbildung als Ausfallzeit) wird die Klage abgewiesen".
Hiergegen legte nur die Beklagte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Hamburg ein. Das LSG "änderte" das Urteil des SG Hamburg vom 6. September 1961 ab; es verurteilte die Beklagte, (nur) die Militärdienstzeit des Klägers vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen, im übrigen wies es die Berufung zurück (Urteil vom 13. Juli 1962): Der Kläger könne das Begehren auf Anrechnung seiner Militärdienstzeit vom 3. Oktober 1912 bis 1. August 1914 als Ersatzzeit nicht auf einen Prozeßvergleich stützen; ein Vergleich sei nicht zustande gekommen. Diese Militärdienstzeit sei nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht in vollem Umfang als Ersatzzeit anzurechnen, wohl aber sei eine "einjährige Dienstzeit", also die Zeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 anzurechnen; der Kläger sei zwar am 3. Oktober 1912 als Fahnenjunker in das Heer eingetreten, um Berufsoffizier zu werden; er habe damit aber auch seiner Wehrpflicht genügt; er sei deshalb insoweit den "Einjährig-Freiwilligen", die zur Erfüllung ihrer Wehrpflicht Militärdienst geleistet haben, gleichzustellen. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das - ihr am 19. Oktober 1962 zugestellte - Urteil des LSG am 7. November 1962 Revision ein; sie beantragte,
die Urteile des LSG Hamburg vom 13. Juli 1962 und des SG Hamburg vom 6. September 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 21. Dezember 1962. Sie rügte, das LSG habe § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG unrichtig angewandt.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Frage gewesen, ob bei der Festsetzung der Rente des Klägers die Militärdienstzeit vom 3. Oktober 1912 bis 1. August 1914 (Beginn des ersten Weltkriegs) als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) anzurechnen ist. Das LSG hat dies für die Zeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 bejaht, für die Zeit vom 4. Oktober 1913 bis zum 1. August 1914 jedoch verneint. Hiergegen hat nur die Beklagte Revision eingelegt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat daher nur darüber zu entscheiden, ob das LSG die Beklagte zu Recht verpflichtet hat, die Militärdienstzeit des Klägers vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG anzurechnen. Dies ist nicht der Fall.
Die Anrechnung der Militärdienstzeit des Klägers vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG kann nicht darauf gestützt werden, daß die Beklagte in einem Vergleich die Militärdienstzeit des Klägers vor dem ersten Weltkrieg "als Ersatzzeit anerkannt hat". Das LSG hat insoweit zutreffend ausgeführt, daß die Beteiligten keinen Vergleich über die Anrechnung von Ersatz- und Ausfallzeiten abgeschlossen hätten; das SG hat den Beteiligten lediglich einen "Vergleichsvorschlag" gemacht, die Beklagte hat aber diesen "Vergleichsvorschlag" abgelehnt; ein Vergleich ist danach nicht zustand gekommen.
Das LSG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß im vorliegenden Falle die Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nF anzuwenden ist. Nach dieser Vorschrift werden Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i. S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), die auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während des Krieges geleistet worden sind, als Ersatzzeiten angerechnet. Diese Voraussetzungen sind bei dem Militärdienst des Klägers für die Zeit vor dem 1. August 1914 (Beginn des ersten Weltkrieges) nicht erfüllt, und zwar - entgegen der Annahme des LSG - auch nicht für eine "einjährige Dienstzeit" vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913. Der Kläger, der am 3. Oktober 1912 in das damalige Heer als Fahnenjunker eingetreten, am 7. Juli 1913 zum Fähnrich und am 25. Mai 1914 zum Leutnant befördert worden ist, hat seinen militärischen Dienst in der Zeit vor dem 1. August 1914 nicht auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht, sondern als Berufssoldat geleistet; Militärdienstzeiten eines Berufssoldaten, die - wie hier - nicht während eines Krieges geleistet sind, sind aber nicht als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG anzurechnen (vgl. auch Gesamtkommentar zur RVO, Anm. 2 zu § 1251; Jantz/Zweng, Anm. II 1 zu § 1251).
Der Auffassung des LSG, der Kläger habe, auch wenn er als Fahnenjunker in das Heer eingetreten sei, um Berufssoldat zu werden, damit gleichzeitig seiner Wehrpflicht genügt, ihm sei daher, wie "Einjährig-Freiwilligen" eine einjährige Dienstzeit, also die Zeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913, als Ersatzzeit anzurechnen, vermag der Senat nicht zu folgen. Es trifft zwar zu, daß "Einjährig-Freiwillige" lediglich berechtigt gewesen sind, den Zeitpunkt des Beginns der Dienstpflicht innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens durch freiwillige Meldung selbst zu bestimmen und daß sie ihren Militärdienst als "Einjährig-Freiwillige" in Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht - und damit anrechenbar nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG - geleistet haben; darauf kann sich aber der Kläger nicht berufen. "Einjährig-Freiwillige" sind Wehrpflichtige" gewesen, die zur "Ergänzung des Heeres" einberufen worden sind (vgl. Abschnitt II §§ 10, 14 des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874 - RGBl S 45); der Kläger dagegen hat zu den "Soldaten des Friedensstandes" (§ 4 des Reichsmilitärgesetzes) gehört, er hat mit seinem Militärdienst nicht als "Einjährig-Freiwilliger" die gesetzliche Wehrpflicht erfüllt, er hat damit vielmehr seinen Beruf als Soldat ausgeübt. Dies gilt auch für das erste Jahr seines militärischen Dienstes, also für die - hier streitige - Zeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913.
Der Zweck der Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 (§ 1257 Abs. 1 Nr. 1 RVO) besteht darin, versicherungsrechtliche Nachteile auszugleichen, die einem "Versicherten" dadurch entstanden sind, daß er infolge seiner Militärdienstpflicht - vorübergehend - keine versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben und damit auch keine Beiträge entrichten konnte, dieser Zweck erfordert nicht, daß auch diese "einjährige Dienstzeit" als Ersatzzeit berücksichtigt wird; dem Kläger ist durch den Eintritt in den Militärdienst keine Beitragszeit entgangen, die zu "ersetzen" wäre (vgl. auch Urteile des BSG vom 16. April 1964 - 11/1 RA 356/62 - und vom 1. Juli 1964 - 11 RA 314/63 -), weil er mit seinem militärischen Dienst seinen Beruf als Soldat ausgeübt und als Berufssoldat nicht die rechtliche Möglichkeit gehabt hat, wirksam Beiträge zu entrichten. Seine Versorgung als Berufssoldat ist auch in der Zeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 nach den Vorschriften des öffentlich-rechtlichen Dienstrechts gesichert gewesen (vgl. auch §§ 1, 14 des Gesetzes über die Pensionierung der Offiziere des Reichsheeres vom 31. Mai 1906 - RGBl 565).
Der Anspruch des Klägers auf Anrechnung der Militärdienstzeit vom 3. Oktober 1912 bis zum 3. Oktober 1913 als Ersatzzeit ist danach ebenfalls unbegründet. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben, die Klage ist auch insoweit abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen