Leitsatz (redaktionell)
Für die Leistungsfähigkeit des Versicherten zur Unterhaltsgewährung kommt es auf seine während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes tatsächlich bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse, nicht aber auf künftige, zur Zeit des Todes nicht realisierbare Erwerbsmöglichkeiten an.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 27. März 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin beansprucht die Hinterbliebenenrente als geschiedene Frau des Versicherten (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Ehe war aus dem überwiegenden Verschulden des Mannes geschieden worden. 1949 hatte der Ehemann sich in einem Vergleich vor dem Amtsgericht Berlin-Lichterfelde zu einer monatlichen Unterhaltszahlung von 30,- DM verpflichtet; tatsächlich zahlte er aber nach dem August 1949 nichts mehr. Am 30. Januar 1954 starb er.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Juni 1959 die Bewilligung der Hinterbliebenenrente ab, weil der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet habe und auch außerstande gewesen sei, die Klägerin zu unterhalten.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen (Urteil des SG Berlin vom 18. Januar 1961; Urteil des LSG Berlin vom 27. März 1962). Das LSG hat für die Ansicht, daß der Versicherte leistungsunfähig gewesen sei, angeführt, er habe in den Jahren 1952 und 1953 lediglich über ein Monatseinkommen von ungefähr DM 100,- verfügt. Im übrigen sei er vermögenslos gewesen. Die Einrichtungen seines selbständig betriebenen Elektro-Apparatebau-Unternehmens habe er 1945 und 1946 infolge von Requisitionen verloren. Die deswegen bei dem Besatzungslastenamt B angemeldete Ersatzforderung sei aber erst nach seinem Tode in Höhe von DM 4.330,92 anerkannt worden. Vorher, zu seinen Lebzeiten, habe die Forderung keinen realen Vermögenswert besessen.
Die Klägerin hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt; sie beantragt, die Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile sowie des angefochtenen Bescheides und die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung vom 1. Januar 1957 an. Sie hat an dem Berufungsurteil erstens auszusetzen, daß in ihm der Verlauf des Entschädigungsverfahrens nicht gebührend beachtet und gewertet worden sei. Die Besatzungsmacht habe zwar die Entschädigungszahlung an den Versicherten erst nach dessen Tode genehmigt; bereits Monate vorher habe aber das Besatzungslastenamt die Forderung im einzelnen geprüft und die Auszahlung in Höhe des später anerkannten Betrages der Besatzungsbehörde vorgeschlagen. Damit sei die Ersatzforderung des Versicherten in einer Weise konkretisiert und gefestigt gewesen, die es der Klägerin ermöglicht hätte, sich diese wegen rückständiger und laufender Unterhaltsansprüche im Wege der Zwangsvollstreckung aus dem oben erwähnten Prozeßvergleich pfänden und überweisen zu lassen. Diese noch zu Lebzeiten des Versicherten gegenwärtige Sach- und Rechtslage hätte das Berufungsgericht bei weiterer Nachforschung aus den ihm vorliegenden Akten des Besatzungslastenamtes unschwer entnehmen können. Zweitens beanstandet die Revision, daß das LSG von dem Unvermögen des Versicherten zur Unterhaltsleistung während der letzten Zeit vor seinem Tode ausgegangen sei, ohne zu untersuchen, ob sich seit dem Vergleichsabschluß im Jahre 1949 in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Versicherten etwas geändert hätte. Der Versicherte selbst habe sein finanzielles Unvermögen bereits vor Abschluß des Unterhaltsvergleichs behauptet. Später aber habe er der Besatzungsbehörde gegenüber angegeben, er sei wirtschaftlich in der Lage, seinen Gewerbebetrieb wieder aufzunehmen, wenn man ihm nur seine Betriebseinrichtung wieder verschaffe. Die Revision meint, ein genaueres Eingehen auf den Sachverhalt hätte ergeben, daß der Versicherte im Jahre 1949 - ausweislich der darüber geführten Steuerunterlagen - aus seinem Gewerbebetrieb einen monatlichen Ertrag von nur 93,- DM gezogen habe. Diese Einkünfte stünden einem Monatseinkommen von 100,- DM in der Zeit vor dem Tode des Versicherten gegenüber. Es hätte sich also in den Verhältnissen nichts gewandelt.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Der Antrag der Klägerin, das Verfahren auszusetzen oder die Verhandlung zu vertagen, ist unbegründet. Der dafür vorgebrachte Grund, nämlich daß sie zur Zeit in einem Personenstandsverfahren klären lasse, ob ihre Ehe mit dem Versicherten überhaupt mit Rechtskraftwirkung geschieden worden sei, ist für die Beurteilung des Rechtsstreits in der gegenwärtigen Revisionsinstanz unbeachtlich. Das Revisionsgericht hat seiner Entscheidung den von dem Berufungsgericht festgestellten und mit zulässigen Revisionsgründen nicht in Frage gestellten Sachverhalt zugrundezulegen. Infolgedessen ist eine Aussetzung des Rechtsstreits oder eine Vertagung der Verhandlung auf unbestimmte Zeit nicht zu rechtfertigen.
Die Revision selbst ist ebenfalls unbegründet. Die Voraussetzungen des § 1265 RVO, unter denen die Klägerin die Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Mannes verlangen könnte, sind nicht gegeben.
Die Feststellung des Berufungsgerichts, daß der Versicherte im letzten Jahre vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet hat, ist keinen Revisionsangriffen ausgesetzt. Die Revision wendet sich auch vergeblich gegen die Annahme des LSG, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt zu leisten brauchte. Für die Frage, ob der Versicherte zur Unterhaltsleistung fähig war, hat es das Berufungsgericht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes zu seinen Lebzeiten abgestellt. Es hat dafür die beiden letzten Lebensjahre berücksichtigt. Damit ist es noch über das hinausgegangen, was nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu gelten hat. Das BSG versteht die Worte des § 1265 RVO "zur Zeit seines Todes" nicht im Sinne einer engen Zeitbegrenzung, etwa im Sinne von Zeit punkt oder Monat des Todes, läßt aber für die Beurteilung der Unterhaltspflicht allenfalls einen bis zu einem Jahr vor dem Tode beginnenden und mit diesem Ereignis endenden Zeitabschnitt gelten (vgl. BSG 15.9.1964 - 5 RKn 12/61 -). Der Unterschied in der Erstreckung des Beurteilungszeitraumes, wie er einerseits dem Urteil des LSG und andererseits der Auffassung des BSG zugrunde liegt, wirkt sich hier jedoch nicht aus. Die finanziellen Mittel, über die der Versicherte gleichbleibend in dieser Zeit verfügte, nämlich 100,- DM monatlich, konnten dem Berufungsgericht - wie auch die Revision nicht in Zweifel zieht - so niedrig erscheinen, daß der Versicherte sie ausschließlich für den eigenen notwendigen Lebensbedarf benötigte.
Mit dem Wortlaut und Sinn des § 1265 RVO läßt sich jedoch kein Ausblick in die Zukunft vereinbaren. Auf eine Prognose des Inhalts, wie sich die Leistungsfähigkeit des Versicherten, wenn er weiter gelebt hätte, bei voraussehbarem Verlauf der Dinge entwickelt haben würde, ist nicht abzuheben. Eine solche Prognose möchte aber die Revision gerade angestellt wissen. Das ist nicht zulässig. Deshalb kann sich am Ergebnis nichts aus der Tatsache heraus ändern, daß der Versicherte wegen erlittener Besatzungsschäden Aussicht auf einen finanziellen Ausgleich in einer mehr oder minder fernen Zukunft hatte. Wenn auch der Versicherte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine künftige Besserung seiner finanziellen Situation hoffen konnte, so waren doch die erwarteten Entschädigungsleistungen ihrem Umfang und dem Zeitpunkt nach, zu dem sie bewirkt werden würden, ungewiß. Zwar ließ sich die Höhe dieser Leistungen nach gewissen Richtlinien, wie sie die Besatzungsmacht sich selbst gegeben hatte, abschätzen. Die Entscheidung lag jedoch ausschließlich in der Macht der Besatzungsbehörde. Die Ersatzforderung richtete sich gegen diese. Deutsche Verwaltungsstellen waren lediglich zur Mitwirkung bei der Schadensermittlung und bei der Abwicklung der gegen die Besatzungsbehörde zu erhebenden Ansprüche eingeschaltet (vgl. Verordnung Nr. 508 vom 21. Mai 1951 - GVBl Berlin 1951, 403 -; ferner: AHK - Gesetz Nr. 47 und dazu: Voß/von Zwehl/Danckelmann, Kriegs- und Besatzungsschädenrecht und Recht der Stationierungsschäden, 1959, 7, 23 f.; Luther NJW 1950, 441). Nach besatzungsrechtlichen Bestimmungen konnte die Ersatzforderung weder vor einem deutschen Gericht eingeklagt, noch im Wege der Zwangsvollstreckung gepfändet werden. Der aktuelle Kapitals- und Kreditwert dieser Forderung war zu unbestimmt und gering, als daß sie vor Zahlungsgenehmigung unter üblichen Geschäftsbedingungen für Unterhaltszwecke hätte nutzbar gemacht werden können. Demnach wäre ein Unterhaltsbegehren der Klägerin gegen ihren geschiedenen Mann in der maßgeblichen Zeit ins Leere gestoßen. Ob der Klägerin überhaupt der Zugriff auf die Entschädigungssumme später, wenn der Versicherte ihre Anweisung zur Zahlung erlebt hätte, gestattet oder ob dieses Geld nicht der Wiederbegründung und Sicherung der Existenz des Mannes vorzubehalten gewesen wäre (vgl. BSG SozR Nr. 27 zu § 1265 RVO), kann bei der gegebenen Rechtslage auf sich beruhen.
Schließlich entfällt auch der Gedanke, daß die Klägerin Unterhalt aus einem "sonstigen Grunde" (§ 1265 RVO) hätte verlangen können. Das Berufungsgericht hat richtig entschieden, daß die Klägerin sich nicht auf den vor dem Amtsgericht Berlin-Lichterfelde geschlossenen Vergleich berufen kann. Denn der Versicherte hätte "zur Zeit seines Todes" die Wirkungen dieses vollstreckbaren Titels nach den Grundsätzen der §§ 323 Abs. 4, 767 der Zivilprozeßordnung (ZPO) beseitigen können. Eine auf diese Vorschriften gestützte Abänderungs- oder Vollstreckungsabwehrklage wäre gerechtfertigt gewesen, da anzunehmen ist, daß sich die wirtschaftlichen Verhältnisse gegenüber denjenigen, von denen die Beteiligten bei Vergleichsabschluß ausgegangen waren, wesentlich verändert hatten. Dazu haben die Tatsachenrichter festgestellt, daß der Versicherte zur Zeit des Vergleichsabschlusses im Jahre 1949 noch im Erwerbsleben stand. In der letzten - hier maßgeblichen - Zeit vor seinem Tode aber war er nach Aufgabe und Abmeldung seines Gewerbebetriebes auf die Unterstützung der öffentlichen Fürsorge angewiesen. Diesen Tatsachen läßt sich nicht, wie die Revision meint, damit begegnen, daß das versteuerte Einkommen des Mannes in der Zeit des Vergleichsabschlusses lediglich 93,- DM betrug. Das steuerlich veranlagte Einkommen ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit dem Einkommen, das für die Beurteilung der Unterhaltspflicht maßgebend ist. Steuerlich abzugsfähige Investitions- und Werbungskosten dürfen bei der Bemessung der Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht nicht voll berücksichtigt werden. Auch sprechen noch weitere Umstände gegen die Unterstellung, daß dem früheren Ehemann der Klägerin zur Zeit des Vergleichsabschlusses monatlich nur 93,- DM zugestanden haben. Seine eigenen Erklärungen und das Verhalten der geschiedenen Eheleute, wie es gerade im Vergleichsabschluß zum Ausdruck gekommen ist, läßt den Schluß zu, daß der Versicherte über einen Geschäftsertrag verfügte, der ihn zu der in dem Vergleich angegebenen Unterhaltsleistung befähigte. Bei den heute noch erreichbaren Beweismöglichkeiten konnte das Berufungsgericht zu einem lebensangemessenen Ergebnis nur gelangen, wenn es von einem Einkommen ausging, zu dem sich der in dem Prozeßvergleich vereinbarte Unterhaltssatz in angemessener Relation befand. Stellt man einem solchen Einkommen die monatlichen Einkünfte des Versicherten in seiner letzten Lebenszeit gegenüber, dann ist eine wesentliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben. Daß der Unterhaltsvergleich formell nicht beseitigt war, vermag für sich allein nicht die Voraussetzungen des Anspruchs auf die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zu begründen. Das hat der erkennende Senat wiederholt im Anschluß an den Beschluß des Großen Senats des BSG (BSG 20, 1) entschieden. Davon abzugehen, besteht kein Anlaß.
Die Klage ist sonach zu Recht abgewiesen worden. Die Revision ist mit der aus § 193 Abs. 4 SGG folgenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen