Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorzeitiges Altersruhegeld für selbständige Handwerksmeisterin. rentenversicherungspflichtige Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Eine in der Handwerksrolle eingetragene Frisörmeisterin übt noch eine an sich rentenversicherungspflichtige Tätigkeit aus, auch wenn sie von der Versicherungspflicht befreit ist.
2. Das vorzeitige Altersruhegeld für weibliche Versicherte soll nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben das Arbeits- oder Erwerbseinkommen der bis dahin berufstätigen Versicherten ersetzen; es soll aber nicht als weiteres Einkommen zu diesem hinzutreten.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 22.04.1964) |
SG Berlin (Entscheidung vom 29.05.1963) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. April 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Mai 1963 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die im Jahre 1902 geborene Klägerin ist Frisörmeisterin und als solche in der Handwerksrolle eingetragen. In dem von ihr geführten Geschäft werden - dies hat das Landessozialgericht (LSG) festgestellt - die hauptsächlichen Arbeiten von ihrem Ehemann geleistet, der das Frisörhandwerk erlernt hat, jedoch nicht Meister ist. Für die Klägerin sind zur Invalidenversicherung und zur Rentenversicherung der Handwerker insgesamt 380 Monatsbeiträge entrichtet worden. Durch Beschluß der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 19. Januar 1961 wurde sie mit Wirkung vom 1. Mai 1957 gemäß Art. 2 § 52 Abs. 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes von der Versicherungspflicht nach dem Handwerkerversorgungsgesetz befreit.
Im Juni 1962 beantragte die Klägerin die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 9. November 1962 ab, weil die Klägerin als in der Handwerksrolle eingetragene Inhaberin eines Frisörgeschäftes noch eine an sich versicherungspflichtige Tätigkeit ausübe.
Die hiergegen gerichtete Klage hat in den Vorinstanzen Erfolg gehabt. Sozialgericht (SG) und LSG vertreten die Auffassung, die Ausübung einer Beschäftigung oder Tätigkeit einer Rentenbewerberin schließe den Anspruch aus § 1248 Abs. 3 RVO nur dann aus, wenn sie im konkreten Falle die Versicherungspflicht nach sich ziehe; eine lediglich ihrer Art nach versicherungspflichtige Tätigkeit stehe dem Anspruch nicht entgegen. Das LSG hat sein Urteil vom 22. April 1964 damit begründet, daß eine "solche Beschäftigung oder Tätigkeit" im Sinne der auszulegenden Vorschrift dasselbe bedeute wie der unmittelbar vorausgehende Begriff der in den letzten zwanzig Jahren überwiegend ausgeübten "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit"; unter diesem zuletzt angeführten Begriff sei aber anerkanntermaßen nur eine Beschäftigung oder Tätigkeit zu verstehen, für die auch Beiträge entrichtet worden seien oder als entrichtet zu gelten hätten (BSG 20, 231).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt mit dem Antrag,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin ist im Rechtsstreit nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Klageanspruch ist nach § 1248 Abs. 3 RVO in der vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) geltenden Fassung - (aF) - zu beurteilen, weil der Versicherungsfall, aus dem der Anspruch hergeleitet wird, unter dem alten Recht, nämlich vor dem 1. Juli 1965, eingetreten ist (Art. 5 §§ 3, 10 Abs. 1 Buchst. c RVÄndG).
§ 1248 Abs. 3 RVO macht die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes u. a. davon abhängig, daß die Versicherte in den letzten zwanzig Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat (a) und eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausübt (b). Den Begriff "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" im Sinne der unter a) angeführten Voraussetzung hat der erkennende Senat allerdings - darauf hat das LSG schon hingewiesen - so ausgelegt, wie ihn das angefochtene Urteil versteht, nämlich dahin, daß für die Beschäftigung oder Tätigkeit Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sein müssen oder als entrichtet zu gelten haben (BSG 20, 231; so auch BSG SozR RVO § 1248 Nr. 24). Aus der Verwendung des Wortes "solche" in der Fortsetzung des Satzes ist jedoch nach der Auffassung des Senats nicht zu schließen, daß das Gesetz damit eine so enge Verflechtung mit dem vorhergehenden Satzteil geschaffen hat, daß bei der oben zu b) angeführten Voraussetzung auch nur eine ebensolche Beschäftigung oder Tätigkeit wie bei der Voraussetzung zu a) gemeint sein kann. Für die Auslegung des § 1248 Abs. 3 RVO aF sind Sinn und Zweck der Vorschrift entscheidend. Hierüber hat der 1. Senat des BSG im Urteil vom 25. Mai 1965 (SozR RVO § 1248 Nr. 34) zutreffend ausgeführt, daß die gesetzliche Regelung der durch Beruf und Haushalt doppelt belasteten Frau - der verheirateten ebenso wie der unverheirateten - einen Ausgleich für die vorzeitige Abnutzung ihrer Kräfte gewähren will, auch wenn die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder für das normale Altersruhegeld (Vollendung des 65. Lebensjahres) noch nicht vorliegen. Das vorzeitige Altersruhegeld für weibliche Versicherte soll nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben - aber auch nur dann - das Arbeits- oder Erwerbseinkommen der bis dahin berufstätigen Versicherten ersetzen; es soll aber nicht als weiteres Einkommen zu diesem hinzutreten. Unter einer "solchen" Beschäftigung oder Tätigkeit ist deshalb - ausgenommen ist eine gelegentliche Aushilfe im Sinne des § 1248 Abs. 2 Satz 4 RVO - eine derartige zu verstehen, die an sich versicherungspflichtig ist, ohne Rücksicht darauf, ob die Versicherte aus einem besonderen Grunde versicherungsfrei ist. Diese Auslegung wird gestützt durch ein Urteil des 12. Senats des BSG (BSG 21, 137). worin entschieden worden ist, daß eine Beamtin eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 1248 Abs. 3 Satz 1, letzter Satzteil RVO ausübt, obwohl sie für ihre Person versicherungsfrei ist. In gleicher Weise hat der 1. Senat des BSG in der bereits erwähnten Entscheidung vom 25. Mai 1965 die Tätigkeit einer Hebamme beurteilt, die wegen der Höhe ihres Einkommens nicht mehr angestelltenversicherungspflichtig war. Ebenso wie in diesen Fällen wäre es mit dem Sinn der umstrittenen Vorschrift unvereinbar, wenn man einer selbständigen, in der Handwerksrolle eingetragenen Handwerkerin das vorzeitige Altersruhegeld gewähren und damit zwischen noch beitragspflichtigen und schon beitragsfreien, aber noch erwerbstätigen Handwerkerinnen unterscheiden wollte. Diese Rechtsprechung zu § 1248 Abs. 3 RVO aF wird auch durch die am 1. Juli 1965 für künftige Versicherungsfälle in Kraft getretene Neufassung der Vorschrift gerechtfertigt; danach wird das vorzeitige Altersruhegeld erst gewährt, wenn die Versicherte "eine Beschäftigung gegen Entgelt oder eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt."
Hiernach hat die Klägerin keinen Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld; denn sie übt als in der Handwerksrolle eingetragene Handwerkerin noch eine an sich rentenversicherungspflichtige Tätigkeit aus. Die Urteile der Vorinstanzen sind somit aufzuheben, die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen