Orientierungssatz
Neurosen können auch dann eine Krankheit iS des Rentenversicherungsrechts darstellen, wenn sie sich nicht im Anschluß an ein organisches Leiden entwickelt haben, wenn ihre "Folgeerscheinungen" nicht zu organischen Veränderungen geführt haben und wenn es zu einer "Umstrukturierung der Persönlichkeit" oder zu einer "Gleichgewichtsstörung des Gesamtorganismus" nicht gekommen ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Juni 1962 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren am 6. Dezember 1905, war von 1927 bis 1952 als Schwesternhelferin und Krankenschwester in verschiedenen Krankenhäusern beschäftigt. Zum 30. September 1952 wurde sie wegen mangelnder Leistungsfähigkeit entlassen. Im November 1952 beantragte sie Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung, da sie wegen der Folgen einer Operation an der Lunge im Jahre 1947 berufsunfähig sei; dieser Antrag wurde von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden abgelehnt, der Ablehnungsbescheid wurde bindend. In den Jahren 1952 bis 1957 arbeitete die Klägerin nur noch vorübergehend, jeweils für kürzere Zeit, in ihrem Beruf. Im Januar 1958 beantragte sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit; diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. Oktober 1958 ab, da die Klägerin nicht berufsunfähig sei. Mit der Klage begehrte die Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit; das Sozialgericht (SG) Mannheim wies die Klage durch Urteil vom 26. Juli 1961 ab. Die Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 26. Juni 1962 zurück: Die Klägerin sei nicht berufsunfähig und nicht erwerbsunfähig, die Hemmung ihrer Arbeitsfähigkeit sei nach den übereinstimmenden ärztlichen Gutachten, auch nach dem Gutachten des Facharztes für Nervenkrankheiten und Psychiatrie, Medizinalrat Dr. ..., nicht auf ein organisches Leiden zurückzuführen, insbesondere nicht auf die Folgen der Lungenoperation im Jahre 1947; es bestehe auch keine organische Veränderung des Gehirns; eine Psychose, eine endogene Depression oder eine paranoische Entwicklung sei nicht nachzuweisen. Die Überzeugung der Klägerin, völlig arbeitsunfähig zu sein, sei vielmehr auf eine neurotische Fehlhaltung bzw. eine fixierte psychogene Reaktion zurückzuführen. Derartige Zustände könnten nicht als "Krankheit oder sonstige Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte" im Sinne der §§ 23 Abs. 2, 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) angesehen werden. Bei den sogenannten wunschbedingten Neurosen handele es sich um lediglich psychologisch verständliche Reaktionen und damit entgegen der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 23. Oktober 1958 (SozR Nr. 11 zu § 1254 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) nicht um Krankheiten, weder medizinisch noch rechtlich. Die Erwerbsfähigkeit sei bei solchen Neurosen, wenn nicht sonst eine Krankheit vorliege, nicht eingeschränkt oder gar aufgehoben, sie sei vielmehr durch die Vorstellung, arbeitsunfähig zu sein und auf eine Entschädigung Anspruch zu haben, mit dem daraus resultierenden Mangel an Antrieb zur Arbeit nur gehemmt; bei solchen charakterogenen und lebensreaktiven Schwierigkeiten könne eine Rentengewährung nur dort in Frage kommen, wo die Reaktion den Grad einer echten Psychose angenommen habe oder wo durch schwerste Affektstöße oder übermäßige Strapazierung eine vegetativ-endokrin unterbaute Gleichgewichtsstörung des Gesamtorganismus ausgelöst worden sei. Schon aus therapeutischen Gesichtspunkten sei eine Rentengewährung, sofern nicht die Neurose zu Organischen Veränderungen geführt habe oder eine "Kernneurose" mit Umstrukturierung der Persönlichkeit vorliege, grundsätzlich und unter allen Umständen abzulehnen. Zu den sozialen Tatbeständen, gegen die die Bevölkerung durch die Rentenversicherung gesichert werden solle, gehörten nicht "jene Zustände, die erst infolge der Begehrlichkeit auftreten und auf die Leistungen der Rentenversicherung gerichtet seien"; schon vom Begriff her sei es ausgeschlossen, daß allein die Vorstellung von "Krankheit oder sonstigen Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte" ausreiche, um die Voraussetzungen für die Gewährung von Rente zu erfüllen. Es komme - entgegen der Auffassung des BSG aaO - nicht darauf an, ob der Versicherte nach dem begründeten Urteil der medizinischen Sachverständigen außerstande sei, die jeglicher Arbeitsleistung entgegenstehenden Hemmungen seiner Arbeitsfähigkeit zu überwinden; das BSG habe auch verkannt, daß die Frage der "Zumutbarkeit" einer Erwerbstätigkeit oder einer bestimmten Berufstätigkeit sich im Rahmen der §§ 23 Abs. 2, 24 Abs. 2 AVG erst dann stelle, wenn feststehe, daß die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge von Krankheit oder sonstigen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte herabgesunken sei; für die Frage, ob eine Neurose als "Krankheit" anzusehen sei, könne deshalb die "Zumutbarkeit" einer Erwerbstätigkeit nicht ausschlaggebend sein.
Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 21. Juli 1962 zugestellt.
Am 18. August 1962 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Mannheim vom 26. Juli 1961 aufzuheben und der Klage auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit stattzugeben.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete die Klägerin die Revision am 15. September 1962: Die Klägerin habe nicht Rente wegen Berufsunfähigkeit, sondern wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt. Dieser Antrag sei auch begründet, die fixierte psychogene Reaktion der Klägerin und ihre schwere Neurose beruhten darauf, daß der Gesundheitszustand der Klägerin - wie sich aus dem Gutachten des Tuberkulose-Krankenhauses H vom 13. August 1958 ergebe - von Obermedizinalrat Dr. ... im Jahre 1953 unrichtig beurteilt und deshalb der erste Rentenantrag der Klägerin im Jahre 1953 zu Unrecht abgelehnt worden sei; erst Medizinalrat Dr. ... habe sich in seinem Gutachten vom 18. Januar 1961 dazu geäußert, inwieweit die fixierte psychogene Fehlhaltung der Klägerin in kausalem Zusammenhang mit der Operation an der Lunge im Jahre 1947 stehe; er sei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Klägerin nie wieder in der Lage sein werde, ihre Tätigkeit als Krankenschwester auszuüben. Die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse ließen keinen Zweifel darüber, daß durch einen ursprünglich sogar geringfügigen organischen Befund eine Fehlhaltung in der Psyche des Patienten auftreten könne, die als echte Krankheit bestehe, auch wenn der organische Befund längst abgeklungen sei; diesen Erkenntnissen werde das Urteil des LSG, das nur auf allgemeinen Erwägungen beruhe, nicht gerecht; das LSG habe auch zu Unrecht unterstellt, daß die Neurose der Klägerin auf dem Wunsch beruhe, sich eine Rente und damit ein arbeitsfreies Leben zu verschaffen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die Klägerin erwerbsunfähig (§ 24 Abs. 1 AVG) oder doch jedenfalls berufsunfähig (§ 23 Abs. 1 AVG) ist. In dem angefochtenen Bescheid vom 9. Oktober 1958 hat die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit abgelehnt, das SG hat den Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Berufsunfähigkeit verneint; damit sind auch die weitergehenden Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verneint worden. Das LSG hat entschieden, die Klägerin sei nicht erwerbsunfähig und auch nicht berufsunfähig. Auf seine bisherigen Feststellungen hat das LSG diese Entscheidung jedoch nicht stützen können. Es ist zu dieser Entscheidung im wesentlichen deshalb gekommen, weil es davon ausgegangen ist, eine "Neurose" könne grundsätzlich - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder wegen Berufsunfähigkeit nicht begründen. Insoweit hat das BSG in mehreren Entscheidungen (vgl. SozR Nr. 11 und Nr. 15 zu § 1254 RVO aF, Urteil des 4. Senats vom 7. April 1964 SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO und Urteile des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 186/61 - und - 11/1 RA 158/61 - klargestellt, daß Neurosen auch dann eine Krankheit im Sinne des Rentenversicherungsrechts darstellen können, wenn sie sich nicht im Anschluß an ein organisches Leiden entwickelt haben, wenn ihre "Folgeerscheinungen" nicht zu organischen Veränderungen geführt haben und wenn es zu einer "Umstrukturierung der Persönlichkeit" oder zu einer "Gleichgewichtsstörung des Gesamtorganismus" nicht gekommen ist. Wie in den Urteilen des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964 näher dargelegt ist, kann der Krankheitsbegriff in den §§ 23 Abs. 2, 24 Abs. 2 AVG nicht auf die Beeinträchtigung der Gesundheit im körperlichen und geistigen Bereich beschränkt werden, er umfaßt auch die seelischen (seelisch bedingten) Störungen, wenn sie durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht (mehr) zu beheben sind; dabei ist es ohne Bedeutung, ob die seelischen Störungen eine Fähigkeit, wie die Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit, "lediglich hemmen" oder sie "einschränken oder aufheben"; in jedem Fall ist die Fähigkeit im maßgebenden Zeitpunkt beeinträchtigt, weil der Betroffene sie nicht entfalten kann; kann er dies aber nicht, so ist für die "Zumutung" einer Erwerbstätigkeit, wie sie gegenüber einem gesunden Versicherten selbstverständlich ist, kein Raum. Der Senat hat aaO auch dargelegt, daß sich die therapeutischen und sozialpolitischen grundsätzlichen Bedenken des LSG gegen eine "Berentung" von Neurosen letztlich an den Gesetzgeber wenden. Es hat weiter ausgeführt, daß auch von der gegebenen Rechtsgrundlage aus hinreichende Möglichkeiten bestehen, um einer "Ausbeutung" der Sozialversicherung durch Neurotiker zu begegnen; hervorzuheben sind dabei insbesondere die strengen Beweisanforderungen bei der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatsachen und der Grundsatz der Beweislast, nach dem es zu Lasten des Versicherten geht, wenn das Gericht trotz sorgfältiger Ermittlungen und bei gebotener kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung der Störungen, ihre Überwindbarkeit und ihre Unerheblichkeit für die Erwerbsfähigkeit nicht ausschließen kann; ferner die nach der Überzeugung des Senats mögliche entsprechende Anwendung der §§ 54 Abs. 1 AVG, 1277 Abs. 1 RVO in den Fällen, in denen ursprünglich zum Zweck der Rentengewährung Störungen vorgetäuscht worden sind, die im Laufe der Zeit der willkürlichen (bewußten) Einwirkung des Versicherten entglitten und für ihn nunmehr aus eigener Willenskraft nicht mehr abzustellen sind; weiter der Ausschluß der Rentengewährung in Fällen, in denen nach zuverlässiger ärztlicher Prognose gesagt worden kann, daß die Ablehnung der Rente die neurotischen Erscheinungen verschwinden lassen werde; schließlich die Bedeutung der Vorschriften über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (§§ 13 ff. AVG, 1235 ff. RVO) und über die Rentengewährung auf Zeit (§§ 53 AVG, 1276 RVO); im einzelnen wird hierzu auf die Ausführungen in den Urteilen vom 1. Juli 1964 verwiesen.
Im vorliegenden Falle hat das LSG zwar festgestellt, daß wesentliche organische Befunde bei der Klägerin nicht vorliegen, diese Feststellung ist für das BSG bindend (§ 163 SGG). Der Senat hat daher mit dem LSG davon auszugehen, daß der Zustand der Klägerin, der ihre Erwerbsfähigkeit hemmt, im wesentlichen seelisch bedingt ist; das LSG ist insoweit der Beschreibung und der Beurteilung des Zustandes der Klägerin durch Medizinalrat Dr. ... gefolgt; nach diesem Gutachten liegt bei der Klägerin - nur - eine fixierte psychogene Fehlhaltung vor. Auch im vorliegenden Fall ist aber daran festzuhalten, daß der Krankheitsbegriff der Rentenversicherung seelische (seelisch bedingte) Störungen mit umfaßt, die der Versicherte aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Ob dies der Fall ist und gegebenenfalls in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch diesen Zustand beeinträchtigt ist, läßt sich jedoch nach den bisherigen Ermittlungen des LSG noch nicht entscheiden. Medizinalrat Dr. ... hat sich zwar dahin geäußert, der Klägerin sei "eine gewisse Überwindungstendenz und der gute Wille (zur Arbeit), soweit ihr ein solcher möglich ist" nicht abzusprechen, sie habe "nicht zu früh und nicht gleich kapituliert", ihr Zustand werde sich auch bei Ablehnung ihres Rentenantrags nicht ändern, von Simulation sei nicht zu sprechen, therapeutische Maßnahmen könnten nicht vorgeschlagen werden; er hat weiter ausgeführt, daß er es nicht "wage", die Klägerin für "berufsfähig als Krankenschwester" zu bezeichnen, weil er insoweit "ernste Zweifel" habe und daß er überzeugt sei, daß sie diese Arbeit "nie wieder" leisten werde. Das LSG wird zunächst zu prüfen haben, ob allein auf dieses Gutachten die Feststellung gestützt werden kann, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in ihrem Beruf als Krankenschwester sei infolge ihres seelischen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken; sofern dies bejaht wird, ist weiter zu prüfen, auf welche andere Tätigkeiten die Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres bisherigen Berufs verwiesen werden kann (§ 23 Abs. 2 Satz 2 AVG); gegebenenfalls wird noch ein ärztliches Gutachten darüber erforderlich sein, ob und in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch ihren seelischen Zustand auch insoweit herabgesunken ist (vgl. BSG 9, 209 ff.). Falls Berufsunfähigkeit im Sinne von § 23 Abs. 2 AVG zu bejahen wäre, lassen die bisherigen Ermittlungen des LSG noch keinen Schluß darüber zu, ob die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit (§ 24 Abs. 2 AVG) vorliegen. Das Gutachten von Medizinalrat Dr. ... und die sonstigen ärztlichen Gutachten besagen nichts darüber, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch ihren seelischen Zustand auch in jeder anderen ihr zumutbaren Erwerbstätigkeit, also z. B. auch für Tätigkeiten im Haushalt oder für andere Frauenarbeiten, die an die seelische Belastbarkeit keine oder doch jedenfalls wesentlich geringere Anforderungen als die Tätigkeit einer Krankenschwester stellen, in dem in § 24 Abs. 2 AVG umschriebenen Ausmaß beeinträchtigt ist. Da der Sachverhalt sonach noch nicht vollständig geklärt ist, ist die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen