Entscheidungsstichwort (Thema)
Besetzung des Gerichts. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Ermessens- bzw Beurteilungsspielraum. Prüfungsinstanz. offensichtliches Mißverhältnis. Praxisbesonderheit. Aufbereitung. Streitverhältnis. Begründung. Bescheid
Orientierungssatz
1. Bei einem Rechtsstreit (hier: Schadenersatzverpflichtung eines Vertragsarztes wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise) handelt es sich um eine Angelegenheit des Kassenarztrechts (vgl BSG vom 10.5.1990 - 6 RKa 21/89 = SozR 3 - 1500 § 12 Nr 1. Das Gericht hat daher in der Besetzung mit je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen und der Kassenärzte zu entscheiden.
2. Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Methode des statistischen Vergleichs haben die Prüfungsinstanzen Beurteilungs- und Ermessensspielräume; die Kontrolle der Gerichte beschränkt sich insoweit darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrundeliegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, daß im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (vgl BSG vom 22.5.1984 - 6 RKa 21/82 = SozR 2200 § 368n Nr 31).
3. Bei der Bestimmung des Grenzwerts des offensichtlichen Mißverhältnisses haben die Prüfinstanzen einen Beurteilungsspielraum (vgl BSG vom 20.9.1988 - 6 RKa 22/87 = SozR 2200 § 368n Nr 57).
4. Ein offensichtliches Mißverhältnis der Fallwerte des geprüften Arztes zu denen der Fachgruppe begründet den Nachweis der Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise; dieser Nachweis wird aber widerlegt, soweit Besonderheiten der Praxis des Arztes einen Mehraufwand rechtfertigen oder der Mehraufwand in einem Leistungsbereich durch einen Minderaufwand in einem anderen Leistungsbereich ausgeglichen wird (vgl BSG vom 15.4.1986 - 6 RKa 38/84 = SozR 2220 § 368n Nr 43).
5. Beim Vergleich mit anderen Praxen sind die Prüfungsinstanzen nicht auf den Bereich des jeweiligen Bezirks der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) beschränkt, sondern können Ärzte aus dem gesamten Bundesgebiet heranziehen, soweit die Behandlung nicht durch besondere Gegebenheiten im Bereich der einzelnen KÄV bestimmt wird (vgl BSG vom 19.11.1985 - 6 RKa 13/84 = USK 85215).
6. Es liegt keine sachgerechte Aufbereitung des Streit- und Verfahrensstoffs vor, wenn die Beschwerdekommission als zugrundeliegende Feststellung für das Ausmaß der Überschreitung in ihrem Bescheid darlegt, daß der Patientenkreis des Vertragsarztes typischerweise hohe Arzneikosten verursacht und 80 Prozent der cardiologischen Fälle einer recht kostspieligen Medikation bedurft haben.
7. Eine Prüfung der Verordnungsweise in den 34 namentlich genannten Einzelfällen stützt nicht die abschließende Beurteilung als beispielhafte Einzelfallprüfung.
Normenkette
SGG § 12 Abs 3 S 1; SGB 5 § 106 Abs 2 S 1 Nr 1 Fassung: 1988-12-20; RVO § 368n Abs 5 Fassung: 1982-12-20; EKV-Ä § 17
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 26.04.1989; Aktenzeichen L 7 Ka 13/87) |
SG Berlin (Entscheidung vom 19.08.1987; Aktenzeichen S 71 Ka 38/86) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Schadensersatzverpflichtung des Beigeladenen wegen seiner Verordnungsweise in den Quartalen IV/80 bis IV/81.
Der beigeladene Arzt für innere Krankheiten hat am 1. Juli 1980 die vertragsärztliche Tätigkeit aufgenommen. Seine Praxis hat den Schwerpunkt der ambulanten cardiologischen Rehabilitation. Auf die Anträge des klagenden Verbandes der Angestellten-Krankenkassen auf Überprüfung der Verordnungsweise des Beigeladenen in den Quartalen IV/80 bis IV/81 lehnte die Prüfungskommission die Festsetzung von Maßnahmen nach § 17 Abs 4 des Arzt/Ersatzkassenvertrages (EKV-Ärzte) - Festlegung der Schadensersatzpflicht des Arztes - ab. Sie führte aus, die Verordnungen des Beigeladenen überschritten nicht die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses zu den Vergleichswerten der Internisten. Diese Grenze wurde unter Berücksichtigung aller Praxisbesonderheiten des Beigeladenen hier auf 150 % der Durchschnittswerte geschätzt. Die Überschreitungen lägen in den streitigen Quartalen zwischen 69 % und 96 %. Die Beschwerdekommission der Beklagten wies den Widerspruch mit Bescheid vom 7. November 1984 zurück und führte zur Begründung aus: Im vorliegenden Fall könne dem statistischen Vergleich mit den Durchschnittswerten der Fachgruppe keine entscheidende Aussagekraft beigemessen werden. Aus der Praxisausrichtung auf die ambulante cardiologische Rehabilitation folge ein besonderer Patientenkreis. Den Hauptteil der gesamten Verordnungen nähmen die ohnehin kostenintensiven, zwingend erforderlichen medikamentösen Behandlungen dieser speziellen Krankheitsgruppe ein. Der erhebliche Grad der Spezialisierung komme auch in dem Anteil an Zuweisungen und Überweisungen aus allen Stadtteilen Westberlins zum Ausdruck. Aus den Unterlagen sei deutlich erkennbar, daß sich in dieser Praxis die Fälle mit überdurchschnittlich schwierigen Problemen koronarer Erkrankungen gesammelt hätten und 90 % der Behandlungsfälle herausragende cardiologische Diagnosen aufwiesen. 80 % der cardiologischen Fälle bedürften einer recht kostspieligen Medikation. Die Überschreitungen seien in vollem Umfang auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen. Der Art und Menge nach seien die verordneten Medikamente unbedingt erforderlich gewesen. Das Ergebnis werde unterstrichen durch eine zusätzliche Einzelfallprüfung von 34 Behandlungsfällen.
Mit der Klage hat der Kläger vorgebracht, die Beklagte habe die Wirtschaftlichkeit hier nicht anhand eines Vergleichs mit den Durchschnittswerten der Fachgruppe der Internisten geprüft. Die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses liege bei 50 %. In den von der Beklagten überprüften Einzelfällen habe der Beigeladene unwirtschaftlich gehandelt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. In der Besetzung mit je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen und der Kassenärzte hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Der Widerspruchsbescheid lasse im Zusammenhang mit der Entscheidung der Prüfungskommission hinreichend deutlich erkennen, daß Ausgangspunkt der durchgeführten Wirtschaftlichkeitsprüfung der Vergleich der Fallwerte mit entsprechenden Durchschnittsfallwerten der Fachgruppe der Internisten sei. Gegen dieses Verfahren der Prüfungsinstanzen bestünden keine Bedenken. Die Überschreitungen der Fallwerte der Internisten von 60 bis 97 % bewegten sich noch in der sog Übergangszone und erreichten nicht die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses. Darüber hinaus wären die von den Prüfungsinstanzen festgestellten Überschreitungswerte nur dann aussagekräftig, wenn keine Praxisbesonderheiten bestünden. Solche Besonderheiten lägen hier aber vor. Die Entscheidung der Beschwerdekommission sei vertretbar. Zwar habe sie nicht in Zahlenwerten angegeben, wie sich - im Vergleich zur Fachgruppe der übrigen Internisten - die Belastung mit Verordnungskosten auswirke, die aus der Betreuung des besonderen Patientenkreises herrühre. Aus den Feststellungen der Beschwerdekommission werde aber gerade noch erkennbar, worauf die nicht unerheblichen Überschreitungen beim Kläger beruhten. Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen bewegten diese sich jedenfalls dann auch nicht im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses, wenn die entsprechende Grenze auf den nach Auffassung des Klägers dafür maßgebenden Wert festzulegen wäre.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe in falscher Besetzung entschieden. Der Rechtssatz des LSG, daß bei Anwendung der statistischen Vergleichsmethode den Überschreitungswerten nur Aussagekraft beizumessen sei, wenn keine Praxisbesonderheiten bestünden, weiche von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Berlin sowie den Widerspruchsbescheid vom 7. November 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den die Verordnungsweise des Beigeladenen in den Quartalen IV/80 - IV/81 betreffenden Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat über die Revision in der Besetzung mit je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen und der Kassenärzte entschieden. Es handelt sich um eine Angelegenheit des Kassenarztrechts iS der §§ 40, 33, 12 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Auf die hier erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist in der Sache bei einem entsprechenden Urteil auch darüber zu entscheiden, wer zur Erteilung des neuen Bescheids zu verurteilen ist, die Beklagte oder ein paritätisch mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen besetzter Ausschuß. Die Frage der Zusammensetzung der Prüfgremien für Entscheidungen, die nach dem 1. Januar 1989 über Quartale vor diesem Zeitpunkt zu treffen sind, ist offen. Bei einem Rechtsstreit mit diesem Gegenstand handelt es sich daher um eine Angelegenheit des Kassenarztrechts (Urteil des Senats vom 10. Mai 1990 - 6 RKa 21/89 -).
Die Revision ist begründet.
Die Klage ist zutreffend gegen die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) gerichtet. Es hat nicht etwa infolge der Änderung der Rechtslage durch das Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) ein Wechsel des Beklagten aufgrund Funktionsnachfolge stattgefunden. Für die Prüfung der Quartale vor dem 1. Januar 1989 bleibt es nach der Vereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem Kläger vom 9. Dezember 1988 bei der Zuständigkeit der Beklagten. Die Vereinbarung ist wirksam. Den Verbänden der Ersatzkassen und den KÄV'en ist zwar nach § 106 Abs 4 und 7 SGB V aufgegeben, paritätisch besetzte Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse zu bilden. Daraus folgt aber nicht zwingend, daß mit dem 1. Januar 1989 die zu bildenden Ausschüsse an die Stelle der bisherigen Prüfinstanzen treten. Vielmehr ist es rechtmäßig, wenn die Vertragspartner die Zuständigkeit der neuen Ausschüsse nicht auf die Quartale vor dem 1. Januar 1989 erstrecken.
Der Bescheid der Beschwerdekommission ist nicht rechtmäßig. Auf Antrag des Klägers prüft und entscheidet die Prüfungskommission darüber, ob die Arzneiverordnungsweise eines Vertragsarztes nach den Regeln der ärztlichen Kunst dem Maß des Notwendigen und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entspricht; gegen die Entscheidung der Prüfungskommission findet das Beschwerdeverfahren vor der Beschwerdekommission statt (§ 17 -EKV-Ärzte-). Die Beklagte hat die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise durch einen Vergleich der Verordnungen des Beigeladenen pro Fall mit den entsprechenden Werten der Fachgruppe der Internisten geprüft. Dies hat das LSG mit Recht angenommen. Die Feststellung der Beschwerdekommission, daß im vorliegenden Fall einem statistischen Vergleich mit den Durchschnittswerten der Fachgruppe der Internisten keine entscheidende Aussagekraft beigemessen werden könne, steht der Schlußfolgerung, daß die Beklagte die Prüfmethode des statistischen Vergleichs gewählt habe, nicht entgegen. Im Zusammenhang des Bescheides bedeutet die Feststellung nur, daß sich hier aus dem Vergleich der Fallwerte allein nicht die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise ergibt. Vielmehr liegt der Feststellung eben gerade ein Vergleich mit den Durchschnittswerten der Fachgruppe zugrunde. Die Beklagte macht mit der Zusammenfassung ihrer Ausführungen dahin, daß das Ausmaß der Überschreitung in vollem Umfang auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen sei, eindeutig klar, daß sie nach der Methode des statistischen Vergleichs geprüft habe. Offenbar geht die Beklagte dabei vom Bescheid der Prüfungskommission aus, die Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts von 69 bis 96 % festgestellt hat. Lediglich hat die Beklagte im Bescheid der Beschwerdekommission das Schwergewicht auf die Prüfung der Praxisbesonderheiten gelegt.
Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Methode des statistischen Vergleichs haben die Prüfungsinstanzen Beurteilungs- und Ermessensspielräume; die Kontrolle der Gerichte beschränkt sich insoweit darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, daß im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (BSG SozR 2200 § 368n Nr 31).
Erster Schritt der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der statistischen Vergleichsmethode ist die Feststellung, ob die Fallwerte des geprüften Arztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Werten der Fachgruppe stehen. Der von den Prüfinstanzen vorgenommene Vergleich des beigeladenen Arztes mit der Fachgruppe der Internisten ist nicht zu beanstanden. Nach den Feststellungen des LSG stellt die Praxis des Beigeladenen eine in bestimmter Weise ausgerichtete internistische Praxis dar, in welcher - wenn auch nur zu einem kleinen Teil - "normale internistische Klientel" behandelt wird. Bei der Bestimmung des Grenzwerts des offensichtlichen Mißverhältnisses haben die Prüfinstanzen einen Beurteilungsspielraum (BSG SozR 2200 § 368n Nr 57 S 194). Die Beklagte hat diese Bestimmung in den angefochtenen Bescheiden nicht ausdrücklich vorgenommen. Zwar geht die Prüfungskommission offensichtlich von einem Grenzwert von 100 % aus. Der maßgebende Widerspruchsbescheid hat diese Bestimmung aber jedenfalls nicht übernommen. Nachdem der Kläger im Widerspruchsverfahren einen niedrigeren Grenzwert für geboten gehalten hatte, ist die Beschwerdekommission darauf nicht eingegangen und hat vielmehr pauschal festgestellt, die Überschreitungen seien in vollem Umfang auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen und die verordneten Medikamente ihrer Art und auch der Menge nach unbedingt erforderlich gewesen. Die Beklagte hat damit das offensichtliche Mißverhältnis zumindest unterstellt und ist von der Vermutung der Unwirtschaftlichkeit ausgegangen.
Die Feststellung des LSG, daß die Überschreitungen der Fallwerte des Beigeladenen gegenüber denjenigen der Fachgruppe noch nicht in der Zone des offensichtlichen Mißverhältnisses lägen, ist unbeachtlich. Aus der Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle bei gegebenem Beurteilungsspielraum der Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts folgt nämlich, daß die Gerichte die Beurteilung nicht selbst treffen können. Die Bestimmung des Wertes, der die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses anzeigt, hängt von unbestimmten und kaum bestimmbaren Faktoren ab. Die aufgrund dieser Faktoren zu treffende Entscheidung darüber, ob die Verordnungsweise des Arztes nach den Regeln der ärztlichen Kunst dem Maß des Notwendigen und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entspricht, haben die Partner des EKV-Ärzte den Prüfungsinstanzen nach § 17 EKV-Ärzte übertragen. Sie haben damit die Entscheidung einem fachkundigen Gremium anvertraut (BSG SozR 2200 § 368n Nr 31 aE). Zu der Regelung sind sie als Vertragspartner der gemeinsamen Selbstverwaltung befugt. Der Kompetenzzuweisung würde es widersprechen, wenn die Gerichte sich nicht auf die Rechtskontrolle beschränken müßten, sondern die Beurteilung selbst vornehmen dürften. Das LSG erwähnt mehrere Entscheidungen des BSG, in denen bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach arithmetischen Durchschnittszahlen die Annahme eines Grenzwerts um 50 % oder 40 bis 60 % für vertretbar gehalten wird (vgl auch BSG SozR 2200 § 368n Nr 38 mwN). Von dieser Grenze kann in der Regel ausgegangen werden. Wenn die Prüfungsinstanzen eine andere Grenze annehmen wollen, würde es dafür mindestens einer besonderen Begründung aus den Umständen des Einzelfalles bedürfen.
Ein offensichtliches Mißverhältnis der Fallwerte des geprüften Arztes zu denen der Fachgruppe begründet den Nachweis der Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise; dieser Nachweis wird aber widerlegt, soweit Besonderheiten der Praxis des Arztes einen Mehraufwand rechtfertigen oder der Mehraufwand in einem Leistungsbereich durch einen Minderaufwand in einem anderen Leistungsbereich ausgeglichen wird (BSG SozR 2200 § 368n Nr 43). Nach den Feststellungen des LSG, die auf den angefochtenen Bescheiden beruhen, besteht in der besonderen Ausrichtung der Praxis des Beigeladenen auf die ambulante cardiologische Rehabilitation eine Praxisbesonderheit. Die Praxis des Beigeladenen weist einen vom Durchschnitt der Internisten erheblich abweichenden Patientenkreis auf.
Dem Bescheid der Beklagten kann jedoch keine hinreichende und nachvollziehbare Begründung dafür entnommen werden, daß die Praxisbesonderheit des Beigeladenen den Mehraufwand rechtfertigt. Insbesondere ist nicht erkennbar, von welchem Sachverhalt die Beklagte ausgegangen ist. Den durch eine Praxisbesonderheit gerechtfertigten Mehraufwand können die Prüfungsinstanzen schätzen, soweit genaue Feststellungen nicht möglich oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden sind (BSG SozR 2200 § 368n Nr 31). Der den Prüfungsinstanzen eingeräumte Beurteilungsspielraum bei der Schätzung erlaubt ihnen aber nicht, eine sachgerechte Aufbereitung des Streit- und Verfahrensstoffs und konkrete Tatsachenermittlungen durch allgemeine Erwägungen zu ersetzen (BSG aaO). Die sachgerechte Aufbereitung müssen sie in der Begründung des Bescheids nachvollziehbar darlegen; anderenfalls wäre eine gerichtliche Kontrolle ausgeschlossen. Dem Ermessen der Prüfungsinstanzen unterliegt die Auswahl, welche Tatsachen für die Feststellung, ob der Mehraufwand gerechtfertigt ist, ermittelt werden sollen. Sie können dafür einen Vergleich ziehen mit Praxen, die die gleiche Besonderheit aufweisen, oder sie können den Mehraufwand in jedem Einzelfall des geprüften Arztes beurteilen. Der Senat kann nicht ausschließen, daß es auch andere zulässige Methoden gibt. Beim Vergleich mit anderen Praxen sind die Prüfungsinstanzen nicht auf den Bereich des jeweiligen Bezirks der KÄV beschränkt, sondern können Ärzte aus dem gesamten Bundesgebiet heranziehen, soweit die Behandlung nicht durch besondere Gegebenheiten im Bereich der einzelnen KÄV bestimmt wird (BSG 19. November 1985 - 6 RKa 13/84 - = USK 85215). Soll die Beurteilung, daß Praxisbesonderheiten den Mehraufwand rechtfertigen, auf eine Einzelfallprüfung gestützt werden, so sind die besonderen Anforderungen an diese Prüfung zu beachten: Es muß für jede abgerechnete Leistung oder jede Verordnung ihre Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem objektiven Krankheitszustand des Patienten festgestellt werden (BSG SozR 2200 § 368n Nrn 31, 33, 54). Dafür ist nicht zwingend eine Untersuchung von Patienten erforderlich. Die Befundunterlagen können insbesondere umgekehrt ausreichen für den Beweis, daß Verordnungen unwirtschaftlich waren (BSG aaO).
Im angefochtenen Bescheid der Beschwerdekommission wird das Ergebnis der Beurteilung dahin mitgeteilt, das Ausmaß der Überschreitung sei in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt. Als zugrunde liegende Feststellung kommt in Betracht, daß der Patientenkreis des Beigeladenen typischerweise hohe Arzneikosten verursache und 80 % der cardiologischen Fälle einer recht kostspieligen Medikation bedurft hätten. Damit ist aber keine sachgerechte Aufbereitung des Streit- und Verfahrensstoffs dargetan. Es fehlt an konkreten Tatsachenermittlungen - zumindest sind sie nicht dargelegt. Die Beklagte hat den gerechtfertigten Mehraufwand nicht durch einen Vergleich mit anderen Praxen festgestellt. Sie hat auch keine Einzelfallprüfung durchgeführt. Vielmehr bezeichnet sie ihre Beurteilung selbst als "Gesamtbetrachtung", die sie durch eine zusätzliche Einzelfallprüfung unterstrichen hat. Auf welchen Tatsachen sonst die Feststellung beruht, 80 % der cardiologischen Fälle hätten einer recht kostspieligen Medikation bedurft, ist nicht ersichtlich.
Die Prüfung der Verordnungsweise in den 34 namentlich genannten Einzelfällen stützt die abschließende Beurteilung auch nicht als beispielhafte Einzelfallprüfung. Zu keinem einzigen Fall werden Tatsachen mitgeteilt, aus denen etwa ein Sachverständiger die Beurteilung durch die Beschwerdekommission überprüfen könnte. Es fehlt jede Angabe zu den Krankheiten der einzelnen Patienten. Im Bescheid wird auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Kommission sich mit den Diagnosen in den Verordnungsunterlagen begnügt und von weiteren Ermittlungen zum Krankheitsgeschehen abgesehen hat. Die Beschwerdekommission hat im übrigen die 34 Fälle nur zur Bestätigung ihres Ergebnisses herangezogen und keine Hochrechnung auf die Gesamtheit der Fälle vorgenommen.
Die Beklagte wird nunmehr insbesondere erneut zu beurteilen haben, ob hier ein statistischer Vergleich mit der Fachgruppe der Internisten angezeigt ist. Wenn die Beschwerdekommission diesen Vergleich vornimmt und sich ein offensichtliches Mißverhältnis ergibt, wäre zu prüfen, ob Praxisbesonderheiten den Mehraufwand rechtfertigen; die Nichterweislichkeit würde zu Lasten des Beigeladenen gehen. Die Beklagte wird zu prüfen haben, ob die Durchschnittswerte vergleichbarer Praxen in anderen KÄV-Bezirken herangezogen werden können. Eine Einzelfallprüfung könnte den Nachweis der Unwirtschaftlichkeit schon anhand der Diagnosen in den Verordnungsunterlagen ergeben. Zum Nachweis der Wirtschaftlichkeit genügen diese Diagnosen dagegen nur, wenn die Beschwerdekommission begründen kann, daß sie mit dem wirklichen, objektiven Krankheitsbild übereinstimmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen