Leitsatz (redaktionell)

Zur Frage der Beschleunigung des Todes um mehr als ein Jahr durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit.

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1960 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Ehemann der Klägerin bezog seit 1953 die Vollrente wegen einer Siliko-Tuberkulose. Während einer Asylierung wegen der Tuberkulose stellten die Ärzte des H-Krankenhauses S Anfang 1956 einen inoperablen Magenkrebs fest. Nach dem am 4. Oktober 1956 erfolgten Tod des Ehemannes der Klägerin unterblieb die von der Beklagten beabsichtigte Leichenöffnung, weil die Klägerin, veranlaßt durch den behandelnden Arzt des Verstorbenen, Dr. I, der angesichts der mit der Vollrente entschädigten Berufskrankheit dem Auftreten einer malignen Neubildung nur eine untergeordnete Rolle beimaß, dazu die Genehmigung versagte.

Durch Bescheid vom 3. Mai 1957 lehnte die Beklagte den Witwenrentenantrag der Klägerin ab. Sie begründete diese Ablehnung in erster Linie mit der Verweigerung der Zustimmung zu der Leichenöffnung, wodurch eine genaue Feststellung, ob die Voraussetzungen zur Rentengewährung gegeben seien, unmöglich gemacht worden sei. Daneben berief sie sich auf ein Gutachten des Dr. Z vom Krankenhaus B vom 13. Februar 1957, der als wahrscheinliche Todesursache den Magenkrebs angeführt hatte. Der Versicherte wäre nach seiner Auffassung auch ohne Vorliegen der Berufskrankheit zu demselben Zeitpunkt gestorben; es sei allerdings auch möglich, daß der Tod ohne den Krebs innerhalb eines Jahres durch das Lungenleiden eingetreten wäre.

Der Staatliche Gewerbearzt hatte sich dieser Begutachtung mit dem Zusatz angeschlossen, die Silikose sei, da jede Erkrankung auch für sich allein den Tod am 4. Oktober 1956 oder doch innerhalb des darauf folgenden Jahres herbeigeführt hätte, als wesentlich für den Tod zu betrachten.

Mit ihrer Klage, mit der die Klägerin gleichzeitig eine Bescheinigung des Dr. I einreichte, der weiterhin die Siliko-Tuberkulose als unmittelbare Todesursache bezeichnete, hatte die Klägerin Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hatte noch eine Äußerung des Dr. A, des leitenden Arztes des H-Krankenhauses S eingeholt, der erklärte, der Magenkrebs wäre ohne Hinzutritt der Berufskrankheit wahrscheinlich früher festgestellt worden, so daß noch eine Rettung durch Operation hätte versucht werden können; im übrigen hätte die Berufskrankheit mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch ohne den Krebs innerhalb eines Jahres zum Tode geführt.

Das SG begründete sein Urteil in erster Linie damit, daß die Siliko-Tuberkulose die frühere Erkennung und Bekämpfung des Krebsleidens verhindert habe und daher als wesentliche Teilursache des Todes zu betrachten sei. Im übrigen müsse die Beklagte die Rente jedoch auch deshalb zahlen, weil der Tod auch wegen der Silikose-Tuberkulose allein innerhalb eines Jahres eingetreten sein würde.

Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen. Die Beklagte hatte zur Begründung ihrer Auffassung noch eine gutachtliche Äußerung des Prof. Dr. B beigebracht, der darauf hinwies, daß jahrelang wegen entsprechender Klage nach einer Magenerkrankung gesucht worden sei und daß selbst ein Chirurg bei einer entsprechenden Operation nichts Krankhaftes gefunden habe; es sei deshalb unwahrscheinlich, daß ohne die Siliko-Tuberkulose eine frühere Entdeckung des Krebses erfolgt wäre. Beide Leiden seien im übrigen so schwer, daß jedes den Tod innerhalb des gleichen Zeitraumes hätte herbeiführen können.

Der vom Landessozialgericht (LSG) noch gehörte Prof. Dr. H kam in seinem Gutachten vom 23. Juni 1959 zu dem Ergebnis, daß die Siliko-Tuberkulose wahrscheinlich die Erkennung des Krebses nicht erschwert habe, daß auch die Aussicht, ihn dann etwa durch Operation zu beseitigen, keine Wahrscheinlichkeit für eine Lebensverlängerung um mindestens ein Jahr gehabt habe, daß auf der anderen Seite die Siliko-Tuberkulose den tödlichen Ausgang nicht um ein Jahr vorverlegt habe, daß beide Leiden sich gegenseitig seit dem März 1956 bis zum Tode ungünstig beeinflußt hätten, wodurch die Lebenserwartung in gegenseitiger Beeinflussung verkürzt worden sei. Beide Leiden hätten mit etwa gleicher Dynamik den Tod herbeigeführt, seien als Ursachen daher nicht zu trennen, so daß auch die Silikose eine wesentliche Teilursache darstelle.

Das LSG begründete sein Urteil im wesentlichen folgendermaßen:

Nach dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. H, dem die übrigen Gutachten nicht entgegenstünden, wenn sie auch nicht mit derselben Bestimmtheit Stellung genommen hätten, ließen sich die Leidenskomplexe der Siliko-Tuberkulose und des Magenkrebses nicht trennen. Die unmittelbaren Todesursachen der Auszehrung und der Herzschwäche beruhten auf beiden Leiden, so daß diese im tatsächlichen Sinne den Tod gemeinsam herbeigeführt hätten. Nach dem Gutachten müsse auch angenommen werden, daß beide Leiden in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Todes annähernd gleichwertig gewesen seien, so daß sie beide nebeneinander wesentliche Teilursachen seien. Unerheblich sei die Frage, ob die Silikose den Tod um mindestens ein Jahr beschleunigt habe, wie auch die Frage nach der Erschwerung des Erkennens des Krebses durch die Siliko-Tuberkulose. Da die ärztlichen Befunde bereits bei Lebzeiten eindeutig gewesen seien, könne auch aus der Verweigerung der Genehmigung zur Leichenöffnung durch die Klägerin für sie keine ungünstige Folge abgeleitet werden, da die Todesursache auch so mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hätten festgestellt werden können.

Das LSG ließ die Revision gegen sein am 31. Mai 1960 zugestelltes Urteil zu. Die Beklagte legte unter Antragstellung am 23. Juni 1960 Revision ein und begründete diese innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 26. August 1960.

Die Beklagte rügt als Verfahrensmängel Verstöße gegen die Amtsermittlungspflicht und das Beweiswürdigungsermessen. Da mangels einer Obduktion jede objektive Tatsachenfeststellung fehle, müsse dieses Fehlen der Beweismöglichkeiten zu Ungunsten der Klägerin ausschlagen. Auch die Begutachtung durch Dr. H, der als Pathologe keine eigene Aufklärung mehr habe geben können, reiche nicht aus, sie sei auch nicht einwandfrei, da die von Dr. H angenommene Todesursache (Auszehrung und Herzschwäche) rein hypothetisch sei; viel wahrscheinlicher sei ein inneres Verbluten an den Krebsfolgen. Es sei nach dem Krankheitsverlauf zwar durchaus wahrscheinlich, daß der Krebs die Silikose ungünstig beeinflußt habe, eine solche Annahme lasse sich jedoch nicht ohne jede hinreichende Begründung auch umgekehrt vornehmen. Dr. Zorn habe dem Krebs sehr wohl eine überragende Bedeutung beigemessen.

Materiell-rechtlich rügt die Beklagte die Verkennung des Begriffs des ursächlichen Zusammenhangs in der Sozialversicherung; sie beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils auf die Berufung die Klage unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt demgegenüber Zurückweisung der Revision.

Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig und daher statthaft. Sie ist auch begründet.

Der erkennende Senat hat sich in einem anderen Urteil vom 1. Dezember 1960 - 5 RKn 66/59 - mit der auch hier entscheidenden Frage auseinandergesetzt, worauf abzustellen ist, wenn nach den Feststellungen des LSG zwei Leiden, ein unfallabhängiges (bzw. eine Berufskrankheit) und ein unfallunabhängiges, gemeinsam jedes auf seine Weise in annähernd gleichstarkem Ausmaße die schließlich den Tod unmittelbar hervorrufende Schwächung derselben Körperorgane herbeigeführt haben. Der Senat ist dort zu dem Ergebnis gekommen, daß dann, wenn von zwei Leiden, die im philosophisch-naturwissenschaftlichen Sinne gemeinsame Todesursachen sind, jedes für sich den Tod auch allein schon spätestens innerhalb eines Jahres herbeigeführt hätte, beide Leiden rechtlich wesentliche Teilursachen seien, so daß in diesen Fällen die Unfallversicherung einzutreten hat, wenn sich unter ihnen auch nur ein versicherungsrechtlich relevantes Leiden befindet.

Mit dieser Abwandlung hat der Senat daher entgegen der Auffassung des LSG die Ansicht des Reichsversicherungsamts - RVA - (EuM 15,98) aufrechterhalten, daß in der Frage, ob eine Krankheit als rechtlich wesentliche Todesursache anzusehen ist, die Beachtung der der Billigkeit entsprechenden Jahresfrist auch jetzt noch notwendig ist. Läßt sich weder feststellen, daß ein Unfall oder eine Krankheit den Tod um mindestens ein Jahr beschleunigt haben würde, noch auch, daß sie den Tod auch ohne die mitwirkenden Teilursachen für sich allein spätestens nach einem Jahr zur Folge gehabt hätte, so liegt keine rechtlich relevante wesentliche Teilursache vor. Nur bei einem derartigen Vorgehen kann vermieden werden, daß für den Eintritt des Todes mehr oder weniger bedeutungslose oder nur zufällige, sich zeitlich damit deckende Umstände fälschlicher- und unbilligerweise überbewertet werden. Nur durch die weitere Ausrichtung an dieser einheitlichen Höchst- bzw. Mindestspanne von einem Jahr kann auch eine einigermaßen gleichmäßige Handhabung einander widersprechender Fälle gewährleistet werden, da das bloße, oft gefühlsmäßige Abwägen der Wertigkeit der einzelnen Ursachen vielfach zu nicht haltbaren Ergebnissen führen muß.

Das LSG hat somit das geltende Recht durch Verkennung des für die Sozialversicherung anzuwendenden Kausalitätsbegriffs falsch angewandt, so daß das angefochtene Urteil aufzuheben war, ohne daß es noch eines Eingehens auf die erhobenen Verfahrensrügen, insbesondere auch darauf bedurfte, ob die abschließende Begutachtung eines derartigen Falles zulässigerweise durch einen Fachpathologen auch dann vorgenommen werden darf, wenn kein dessen Fachgebiet betreffender Befund (insbesondere keine Leichenöffnung) vorliegt.

Da das LSG keine eindeutigen Feststellungen in der Hinsicht getroffen hat, ob der Ehemann der Klägerin innerhalb eines Jahres auch ohne die Auswirkung des Magenkrebses an den Folgen der Silikose gestorben wäre, kann das Bundessozialgericht die Sache selbst abschließend nicht entscheiden; sie war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324596

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