Leitsatz (amtlich)
Wird ein Versicherter infolge eines Unfalles erwerbsunfähig, so gilt die Wartezeit nach § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO nur dann als erfüllt, wenn es sich um einen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 S 1 RVO handelt.
Art 3 der EWGV 1408/71 stellt einen in einem anderen Mitgliedstaat der EWG eingetretenen Arbeitsunfall insoweit nicht einem Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 S 1 RVO gleich.
Normenkette
RVO § 1252 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; EWGV 1408/71 Art. 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.11.1981; Aktenzeichen L 6 Ar 669/79) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 18.10.1979; Aktenzeichen S 9 Ar-It 280/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Der im Jahre 1955 geborene Kläger - italienischer Staatsangehöriger - hat in der Zeit von August 1970 bis Oktober 1972 eine Versicherungszeit von 16 Monaten in Italien zurückgelegt. Von April 1974 bis Juni 1975 war er in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt und hat Pflichtbeiträge für 15 Monate entrichtet. Im Anschluß daran ist der Kläger in seine Heimat zurückgekehrt.
Am 20. November 1975 erlitt der Kläger in Italien einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen "Amputation beider Oberschenkel" er aus der italienischen Unfallversicherung eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 % erhält. Seinen bei der Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung von Versichertenrente lehnte diese mit Bescheid vom 26. Oktober 1978 ab mit der Begründung, die gesetzliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten sei auch unter Berücksichtigung der italienischen Versicherungszeit nicht erfüllt. Die Voraussetzungen des § 1252 Reichsversicherungsordnung (RVO) seien nicht erfüllt, weil der die Erwerbsunfähigkeit bedingende Unfall mehr als sechs Jahre nach Beendigung der Schulausbildung eingetreten und nach dem Recht der deutschen Unfallversicherung nicht entschädigungspflichtig sei. Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. In seinem Urteil vom 17. November 1981 führt das Landessozialgericht (LSG) unter anderem aus, die Wartezeitregelung in § 1252 RVO beziehe sich nur auf solche Unfälle, die im Zusammenhang mit einer in Deutschland ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit stünden. Auch das Recht der Europäischen Gemeinschaft enthalte keine für den Kläger günstigere Regelung.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger vor, nach dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 der EWG-VO Nr 1408/71 müsse ein in Italien erlittener Arbeitsunfall einem deutschen gleichgestellt werden. Auch die Regelung des § 1252 RVO wolle den Versicherten begünstigen, der infolge eines Arbeitsunfalles erwerbsunfähig werde. Deswegen müsse diese Regelung nach dem Grundsatz der Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer innerhalb der EWG auch für den Kläger gelten. Insoweit werde das deutsche Sozialversicherungsrecht durch das EWG-Recht modifiziert.
Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 26. Oktober 1978 zu verurteilen, ihm Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, weil er die hierfür erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten auch unter Zusammenrechnung der deutschen und italienischen Versicherungszeiten nicht erfüllt hat (§ 1246 Abs 3, § 1247 Abs 3 RVO). Für ihn sind - unstreitig - in Italien nur 16 und in Deutschland 15 Monate Pflichtbeiträge entrichtet worden.
Die Wartezeit gilt auch nicht nach § 1252 RVO als erfüllt. Die hier in Betracht kommenden Voraussetzungen des Abs 1 Nr 1 dieser Vorschrift sind im Falle des Klägers nicht gegeben, weil kein "Arbeitsunfall" in diesem Sinne vorliegt.
Was unter einem Arbeitsunfall iS des § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO zu verstehen ist, ergibt sich aus § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Hiernach muß ein Versicherter den Unfall im Rahmen einer unfallversicherten Tätigkeit erlitten haben (vgl BSG Urteil vom 29. April 1958 3 RJ 8/54 = BSGE 7, 159, 161f; BSG Urteil vom 11. Februar 1960 4 RJ 201/58 = BSGE 11, 295, 297; BSG Urteil vom 30. Oktober 1979 2 RU 3/76 = BSGE 49, 92, 94). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall; die Tätigkeit des Klägers, bei deren Ausübung er den Unfall erlitt, unterlag nicht der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung. Dem steht nicht entgegen, daß diese Tätigkeit, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt worden wäre, der Unfallversicherung unterlegen haben könnte. Ob und in welchem Umfang eine Tätigkeit der Versicherungspflicht unterliegt, richtet sich auch innerhalb der EWG ausschließlich nach nationalen Rechtsvorschriften. Nach Art 13 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 unterliegt ein Arbeitnehmer nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates. Maßgebend hierfür ist in erster Linie der Beschäftigungsort (Art 13 Abs 2a aaO). Ausnahmetatbestände von diesem Grundsatz (Art 14 bis Art 17 aaO) sind hier nicht erfüllt. Ein irgendwie geartetes Versicherungsverhältnis aufgrund der zum Unfall führenden Tätigkeit zu einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat nicht bestanden.
Zu Unrecht beruft sich der Kläger in diesem Zusammenhang auf Art 3 der EWG-VO Nr 1408/71. Diese Vorschrift sieht die Gleichbehandlung aller Personen vor, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen. Die Nichtanwendbarkeit des § 1252 RVO beruht jedoch nicht darauf, daß der Kläger italienischer Staatsangehöriger ist, sondern darauf, daß der Unfall des Klägers kein "Arbeitsunfall" iS des § 1252 RVO ist. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 28. 6. 1978 - RS 1/78 - (SozR 6050 Art 3 Nr 3 S 11) darauf hingewiesen, daß es weder verboten noch geboten sei, "Tatsachen, die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates zutragen, entsprechenden Tatsachen gleichzustellen, die, hätten sie sich im eigenen Staat zugetragen, einen Grund für den Verlust oder das Ruhen des Anspruchs auf Geldleistungen bilden würden".
Der Kläger verkennt den Sinn der Regelung des § 1252 RVO. Diese Vorschrift knüpft die Fiktion der Wartezeiterfüllung nicht daran, daß ein Versicherter einen Unfall schlechthin erleidet, sie fordert vielmehr, daß es sich um einen Arbeitsunfall iS des § 548 RVO gehandelt haben muß (BSG Urteil vom 30. 10. 1979 - 2 RU 3/76 - aaO im Anschluß an eine Vorlageentscheidung des EuGH vom 29. 5. 1979 - RS 173/78 und 174/78 = SozR 6050 Art 61 Nr 1). Es ist für diese in der Rentenversicherung eintretende Rechtsfolge sogar unerheblich, ob die zum Unfall führende Tätigkeit der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung unterlegen hat oder nicht (BSG Urteil vom 11. 2. 1960 - 4 RJ 201/58 - aaO). Weiter ist es unerheblich, daß der Kläger nach italienischem Recht eine Unfallrente erhält. Die fiktive Erfüllung der Wartezeit knüpft allein an die Zuordnung zur deutschen Unfallversicherung an. Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu einem Versicherungssystem ist aber ausschließlich Sache des nationalen Rechts (vgl Art 13 EWG-VO Nr 1408/71), sofern es dabei nicht zu einer Diskriminierung zwischen Inländern und Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten kommt (EuGH, Urteil vom 12. 7. 1979 - RS 266/78 = SozR 6050 Art 45 Nr 7; EuGH Urteil vom 24. 4. 1980 - RS 110/79 = SozR 6050 Art 1 Nr 11).
Der Anspruch des Klägers läßt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, die Fiktion der Wartezeiterfüllung beinhalte materiell die Auffüllung einer bereits vorhandenen Versicherungszeit; demgemäß müsse der nach italienischem Recht entschädigungspflichtige Unfall zu einer Auffüllung seiner vorliegenden Versicherungszeiten führen, da nach Gemeinschaftsrecht die in allen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten die gleiche Wirkung hätten. Der Kläger verkennt dabei, daß allein das deutsche Recht bestimmt, ob und unter welchen Voraussetzungen deutsche Versicherungszeiten überhaupt fiktiv aufgefüllt werden können. Insoweit besteht keine Einwirkung des Gemeinschaftsrechts. Eine für den Kläger günstige Lösung könnte sich allenfalls dann ergeben, wenn durch den in Italien erlittenen Unfall nach italienischen Rechtsnormen seine Versicherungszeit in der italienischen Rentenversicherungszeit aufgefüllt würde und dann nach den Zusammenrechnungsbestimmungen des Gemeinschaftsrechts (vgl Art 45 EWG-VO Nr 1408/71) eine Einbeziehung dieser Zeiten für die Erfüllung der Wartezeit in Erwägung zu ziehen wäre. Indessen kann diese Frage dahingestellt bleiben, weil, wie das LSG bereits zutreffend ausgeführt hat, das italienische Sozialversicherungsrecht keine der Wartezeitfiktion des § 1252 RVO vergleichbare Bestimmung kennt. Insoweit liegen keine weiteren anrechnungsfähigen italienischen Versicherungszeiten vor.
Ein Anspruch des Klägers läßt sich auch nicht aus Art 10 der EWG-VO Nr 1408/71 herleiten. Die in dieser Vorschrift vorgenommene Gleichstellung der Gebiete aller Mitgliedstaaten der EG bezieht sich nur auf die Fälle, in denen ein bereits entstandener Leistungsanspruch durch den Wohnsitz des Berechtigten beeinflußt werden kann. Im vorliegenden Fall ist indessen ein Leistungsanspruch aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht entstanden.
Schließlich läßt sich auch aus Art 61 Abs 5 EWG-VO Nr 1408/71 nichts herleiten. Diese Vorschrift, in der der Kläger eine Regelungslücke erblickt, geht davon aus, daß ein nationaler Unfallversicherungsträger nur die in seinem Versicherungsbereich eingetretenen Arbeitsunfälle zu entschädigen hat. Sie bezieht hierbei - als Ausnahmeregelung - lediglich Fälle ein, in denen früher in einem anderen EWG-Mitgliedstaat Arbeitsunfälle eingetreten sind. Diese Vorschrift gilt indessen nur für die Unfallversicherung.
Die übrigen Voraussetzungen des § 1252 RVO sind, wie das LSG zutreffend ausführt, ersichtlich nicht erfüllt.
Nach alldem war die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen. Für eine Vorlage des Rechtsstreits an den Gerichtshof für die Europäischen Gemeinschaften bestand kein Anlaß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen