Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit Verweisbarkeit. Lehrberuf
Orientierungssatz
1. Vor Feststellung der Erwerbsunfähigkeit hat das Gericht zunächst zu prüfen, ob überhaupt Berufsunfähigkeit vorliegt.
2. Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit eines Drehers hat das Gericht berufskundlich zu ermitteln und darzulegen, welche einzelnen Fertigkeiten der Dreherberuf umfaßt und des weiteren zu prüfen, welche dieser Einzelfertigkeiten der Versicherte mit dem ihm Leistungsvermögen noch verrichten kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG §§ 103, 128 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 24.03.1971) |
SG Berlin (Entscheidung vom 21.12.1966) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. März 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte macht mit der nicht zugelassenen Revision als wesentliche Mängel im Verfahren geltend, das Landessozialgericht (LSG) habe bei der Entscheidung, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt verschlossen und er sei deshalb erwerbsunfähig, die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung, bedingt durch mangelnde Sachaufklärung, überschritten.
Der 1912 geborene Kläger ist gelernter Dreher und hat in seinem Beruf bis zur Krankschreibung im Oktober 1964 gearbeitet. Er begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte hat die Gewährung von Versichertenrente abgelehnt (Bescheid vom 27. Januar 1966). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte verurteilt, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 21. Dezember 1966).
Das LSG Berlin hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 24. März 1971). Es hat festgestellt, daß der Kläger noch leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen täglich 6 Stunden verrichten kann. Es hat auf die Beschlüsse des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 GS 2/68 und GS 4/69 verwiesen und gesagt, Dreharbeiten könnten nicht vorwiegend im Sitzen verrichtet werden. Deshalb könne der Kläger seinen Beruf nicht mehr ausüben. Er besitze keine anderen Kenntnisse und Fähigkeiten, mit denen Männer wegen der Seltenheit dieser Fähigkeiten oder der Eigenart des Berufs in Teilzeitarbeit eingesetzt zu werden pflegten.
Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könnte der Kläger zwar in gewisser Regelmäßigkeit arbeiten. Er könne aber wegen der gesundheitlichen Einschränkungen seines Leistungsvermögens nicht mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen. Für Männer mit einem derart eingeschränkten Leistungsvermögen gäbe es auf dem Teilzeitarbeitsmarkt für Ungelernte nicht genügend Arbeitsplätze. Bei dem Mikrozensus und den nach Berufsgruppen aufgeschlüsselten Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über Teilzeitarbeit für die Jahre 1968/69 seien diejenigen Teilzeitarbeitsplätze auszuscheiden, die nach den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten für die Ermittlung der Verhältniszahl (75 : 100) nicht in Betracht kämen, z.B. die Berufsgruppen mit Lehr- und Anlernberufen. Bei den anderen Berufsgruppen ergäben die Statistiken nicht, ob es sich um leichte oder schwere Arbeiten handele. Demnach könne aus den Statistiken der BA nicht festgestellt werden, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger offen sei.
Das LSG hat weiter auf die Aussagen des Verwaltungsdirektors Dr. Z., Unterabteilungsleiter der Vermittlung im Landesarbeitsamt Berlin, vom 10. Juni 1970 einem anderen Rechtsstreit verwiesen. Bei Arbeitsplätzen für teilzeitbeschäftigte Männer in Berlin handele es sich überwiegend um Arbeitsplätze, die berufliche Spezialkenntnisse erforderten. Ungelernte Arbeitskräfte seien nicht unterzubringen. Auf die Befragung von Berufsverbänden habe verzichtet werden können, weil der Versicherte keine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten habe, mit denen er in einem Lehrberuf körperlich leichte Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen hätte ausführen können.
Die Beklagte hat als Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerügt, daß das LSG ohne weitere Ermittlungen gesagt habe, Dreharbeiten könnten nicht vorwiegend im Sitzen verrichtet werden, so daß der Kläger seinen Beruf nicht mehr ausüben könne. Das LSG habe den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht und auch nicht unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden. Nach dem Beschluß GS 4/69 (Abschnitt C V 3) sei bei Lehrberufen für die einzelnen Tätigkeiten zu prüfen, ob nach den zu ermittelnden Zahlen über die entsprechenden Teilzeitarbeitskräfte und Teilzeitarbeitsplätze dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Dazu müßten die Tätigkeiten bekannt sein, auf die der Kläger nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im erlernten Beruf zumutbar verwiesen werden könne. Dem Urteil sei nicht zu entnehmen, woher das LSG wisse, daß ein Dreher nicht vorwiegend im Sitzen arbeiten könne. Bei Arbeitsvorgängen an kleinen Maschinen sei die Arbeit durchaus im Sitzen zu Verrichten und nur vorübergehendes Stehen notwendig. Sie (die Beklagte) habe bereits mit Schriftsatz vom 8. Dezember 1966 an das SG auf Einsatzmöglichkeiten des Klägers in der metallverarbeitenden Industrie hingewiesen und die Anhörung eines berufskundigen Sachverständigen angeregt. Das LSG hätte unter Berücksichtigung ihrer Ausführungen zu den Einsatzmöglichkeiten für einen gelernten Dreher durch Sachverständige, Auskünfte des Landesinstituts für Arbeitsmedizin und anderer (im einzelnen aufgeführter) Verbände ermitteln müssen. Diese hätten bestätigt, daß für einen gelernten Dreher ausreichende Arbeitseinsatzmöglichkeiten, z.B. Revisionsarbeiten in der metallverarbeitenden Industrie, beständen, so daß Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Das LSG habe seine Ermittlungen auf das Vorhanden sein von Teilzeitarbeitsplätzen für Ungelernte beschränkt. Seine Auffassung, es brauche keine Berufsverbände zu hören, weil der Kläger keine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze, um in einem Lehrberuf körperlich leichte Arbeiten im Sitzen auszuführen, widerspreche dem klaren Inhalt der Akten über dessen Arbeitsleben und sei mit dem Beschluß GS 4/69 (Abschnitt C V 3) nicht vereinbar.
Aber selbst wenn nach den Ermittlungen ein offener Teilzeitarbeitsmarkt dem Kläger in seinem erlernten oder einem verwandten Beruf nicht zur Verfügung stehe, sei er nicht erwerbsunfähig. Das LSG habe sich dafür, daß der Teilzeitarbeitsmarkt dem Kläger verschlossen sei, auf Dr. Z. berufen. Dieser habe angegeben, er befasse sich mit der Unterbringung leistungsgeminderter Arbeitskräfte innerhalb des Bereichs des Landesarbeitsamtes Berlin. Er habe nicht gesagt, worauf seine Kenntnis des Arbeitsmarktes außerhalb Berlins beruhe. Das LSG habe sich deshalb nicht auf ihn stützen dürfen. Schließlich hat die Beklagte noch ausgeführt, da der Kläger seit November 1969 in Hessen wohne, hätte das LSG klären müssen, ob geeignete Arbeitsplätze im Bundesgebiet vorhanden seien und dazu die Bundesanstalt für Arbeit und gegebenenfalls andere Stellen in Hessen befragen müssen.
Die Beklagte hat beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist zulässig. Die von der Beklagten dargelegten wesentlichen Verfahrensmängel liegen vor. Die Revision ist auch begründet.
Wie die Beklagte richtig ausführt, hatte das LSG nach seiner im Einklang mit den Beschlüssen des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 stehenden materiell-rechtlichen Auffassung von §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und bei der festgestellten gesundheitlichen Fähigkeit des Klägers zu täglich mehr als halbschichtiger bis untervollschichtiger Arbeitsleistung zunächst zu prüfen, ob der Kläger als gelernter Dreher mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen berufsunfähig ist (§ 1246 RVO), bevor die Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO geprüft werden konnte. Zur Berufsunfähigkeit hat das LSG nur gesagt, Dreharbeiten könnten nicht vorwiegend im Sitzen verrichtet werden, deshalb könne der Kläger seinen Beruf nicht mehr ausüben; er besitze auch keine anderen Kenntnisse und Fähigkeiten, um in Teilzeitarbeit eingesetzt zu werden. Die Beklagte hat hieran zu Recht beanstandet, daß das LSG nicht berufskundlich ermittelt und dargelegt hat, welche einzelnen Fertigkeiten der Dreherberuf umfaßt, und daß es nicht geprüft hat, welche dieser Einzelfertigkeiten der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch verrichten kann. Das LSG hätte solche Ermittlungen durchführen müssen, denn die Rechtsprechung unterscheidet zwischen dem Teilzeitarbeitsmarkt für gelernte Arbeitskräfte und dem für ungelernte Kräfte (Beschluß GS 4/69). Dabei ist bei Versicherten mit Lehrberufen für die einzelnen Tätigkeiten zu prüfen, ob der Teilzeitarbeitsmarkt offen steht (Abschnitt C V 3 in GS 4/69). Das LSG hat nicht gesagt, woher es wisse, daß Dreharbeiten nicht vorwiegend im Sitzen verrichtet werden könnten, und daß der Kläger keine anderen Kenntnisse und Fähigkeiten für ihm zumutbare Verweisungsberufe mit einem Teilzeitarbeitsmarkt habe. Die Begründung des LSG, der Teilzeitarbeitsmarkt sei dem Kläger verschlossen, ist zur Frage der Berufsunfähigkeit des Klägers nicht schlüssig.
Bei der Prüfung der Erwerbsunfähigkeit hat das LSG anscheinend auf das ganze Bundesgebiet abgestellt. Dann ist aber nicht folgerichtig, wenn es nur den Angehörigen des Landesarbeitsamtes Berlin Dr. Z. und nicht die Bundesanstalt für Arbeit befragt hat. Dr. Z. hat erwähnt, er befasse sich mit dem Arbeitsmarkt im Land Berlin und ein stark ins Gewicht fallender Unterschied zu Westdeutschland bestehe nicht. Der erkennende Senat hat bereits in dem Urteil vom 21. September 1971- 12 RJ 250/71- darauf hingewiesen, daß das LSG trotz der Angaben des Dr. Z. nicht von der Erforschung des Teilzeitarbeitsmarktes bei der Bundesanstalt für Arbeit befreit sein konnte, zumal es hier eine Einsatzfähigkeit des Klägers für leichte Arbeiten 6 Stunden täglich, vorwiegend im Sitzen, ohne besondere weitere Einschränkungen festgestellt hat, so daß die Verweisung des Klägers nicht auf Berlin beschränkt werden konnte (vgl. auch SozR Nr. 20 zu § 1247 RVO, Nr. 87 zu § 1246 RVO und Urteil vom 7.7.1970 - 5 RKn 46/68).
Mangels hinreichender Sachaufklärung und Beweisführung ist die Entscheidung des LSG nicht fehlerfrei zustande gekommen. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen, damit es die unterlassenen Ermittlungen zu den beruflichen Fähigkeiten des Klägers und zum Teilzeitarbeitsmarkt für Dreher und verwandte zumutbare Berufe sowie gegebenenfalls für ungelernte Kräfte für das gesamte Bundesgebiet nachholt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen