Leitsatz (amtlich)

1. Wegeunfälle iS des RVO § 725 Abs 2 S 2 sind nur Arbeitsunfälle nach RVO § 550.

2. Es widerspricht nicht RVO § 725 Abs 2, bei der Entscheidung als Beitragsnachlässe auch die Arbeitsunfälle als Belastung zu berücksichtigen, für welche die BG vollen Ersatz der von ihr erbrachten Leistungen durch einen Haftpflichtversicherer erhält.

 

Orientierungssatz

Eine Satzungsbestimmung, die bei der Gewährung von Beitragsnachlässen zu Ungunsten des Unternehmers auch Unfälle berücksichtigt, die auf alleinigem Verschulden einer nicht zum Unternehmen gehörenden Person beruhen und für die der Versicherungsträger vollen Regreß nehmen kann, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes.

 

Normenkette

RVO § 725 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1976-06-03

 

Verfahrensgang

SG München (Entscheidung vom 06.07.1978; Aktenzeichen S 23 U 508/77)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 6. Juli 1978 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Beschäftigte der Klägerin erlitten am 21. November 1975 auf einer Betriebsfahrt durch das alleinige Verschulden eines Dritten einen Verkehrsunfall. Die Beklagte erhält die ihr aus diesem Arbeitsunfall entstandenen Aufwendungen durch die Haftpflichtversicherung des Dritten ersetzt.

Im Beitragsbescheid vom 1. April 1977 für das Jahr 1976 gewährte sie der Klägerin keinen Beitragsnachlaß. Den Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 28. Juni 1977 zurück, da die Eigenbelastungsziffer der Klägerin 100 vH, die Durchschnittsbelastung dagegen nur 30 vH betrage.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 6. Juli 1978 abgewiesen und ua ausgeführt: Kosten der Arbeitsunfälle im Sinne des § 725 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien auch solche, die später von einem Dritten ersetzt würden. Ebenso seien gezahlte Leistungen im Sinne des § 27 Abs 1 Nr 2 Satz 1 der Satzung der Beklagten auch solche Leistungen, für die der Versicherungsträger später Ersatz erhalte. Auch müßten nicht die Unfälle außer Betracht bleiben, die auf alleinigem Verschulden eines Dritten beruhten. Schließlich sei der Arbeitsunfall vom 21. November 1975 kein Wegeunfall im Sinne des § 27 Abs 1 Nr 6 der Satzung der Beklagten.

Das SG hat unter Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluß die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Absicht des § 725 Abs 2 RVO sei es, die Unfallverhütung zu aktualisieren. Dabei gehe der Gesetzgeber davon aus, daß Kriterien für die Belastung des Unternehmers ua die Schwere oder die Kosten des Arbeitsunfalles seien. Die Satzung habe sich in diesen Grenzen zu halten. Eine Satzungsbestimmung, nach der ein Arbeitsunfall auch bei alleinigem Verschulden einer betriebsfremden Person und bei vollem Schadensersatz an den Unfallversicherungsträger durch die Haftpflichtversicherung zu Lasten des Unternehmers bei der Beitragsberechnung berücksichtigt werde, verstoße gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes. Der erhöhte Beitrag verliere in diesem Fall seinen Sinn und erhalte Strafcharakter.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. April 1977 und den Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Beitragsberechnung für das Kalenderjahr 1976 den Unfall vom 21. November 1975 unberücksichtigt zulassen und der Klägerin Beitragsnachlaß gemäß § 27 der Satzung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Für die rechtliche Beurteilung ist von § 725 Abs 2 RVO idF des Gesetzes vom 3. Juni 1976 (BGBl I 1373) auszugehen. Diese Fassung des § 725 Abs 2 RVO ist zwar erst am 1. Januar 1976 in Kraft getreten, während sich der hier maßgebende Arbeitsunfall bereits am 21. November 1975 ereignet hat. In dem für die Beitragsberechnung entscheidenden Zeitpunkt, insbesondere für das Beitragsjahr 1976, galt jedoch schon diese Neufassung. Nach § 725 Abs 2 Satz 1 RVO haben die Berufsgenossenschaften unter Berücksichtigung der angezeigten Arbeitsunfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen.

Die Beklagte hat in § 27 ihrer Satzung über die Bewilligung von Beitragsnachlässen ua bestimmt:

"(1)

Jedem Unternehmen werden gemäß § 725 Abs. 2 RVO Beitragsnachlässe nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen bewilligt:

1.

Die Höhe der Beitragsnachlässe ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Eigenbelastung des einzelnen Unternehmens und der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen.

2.

Die Eigenbelastung beträgt 40 % der Summe der für das einzelne Unternehmen während des Umlagejahres und der 4 vorangegangenen Kalenderjahre gezahlten Leistungen.

...

6.

Wegeunfälle bleiben unberücksichtigt, ebenso Unfälle infolge höherer Gewalt."

Das SG hat zutreffend entschieden, daß der Arbeitsunfall vom 21. November 1975 nicht nach § 27 Abs 1 Nr 6 der Satzung unberücksichtigt bleibt. Wegeunfälle im Sinne dieser Vorschrift sind nur Arbeitsunfälle im Sinne des § 550 RVO und nicht die Arbeitsunfälle, die sich - wie hier - auf einem Betriebsweg ereignen. Dies entspricht auch der Auslegung des § 725 Abs 2 Satz 2 RVO. Danach sind gleichfalls auch Unfälle auf Betriebswegen bei der Auferlegung von Zuschlägen und bei der Bewilligung von Nachlässen zu berücksichtigen und nicht als Wegeunfälle ausgeschlossen (vgl ua LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1970, 28, 29; SG Hamburg Breithaupt 1971, 200, 201; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 543; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 725 Anm 12; Miesbach-Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, § 725 Anm 6; Schieke, Soziale Sicherheit 1964, 135, 137; Schwampe, BG 1968, 358, 359; Sonnabend, Sozialversicherung 1971, 321; Manz/Heinzel, Kompaß 1972, 15, 16). Ebenso hat sich der Unfall nicht infolge höherer Gewalt im Sinne des § 27 Abs 1 Nr 6 der Satzung der Beklagten ereignet. Dies folgt wiederum bereits aus einem Vergleich mit § 725 Abs 2 Satz 5 Halbsatz 2 RVO, wonach Arbeitsunfälle durch höhere Gewalt und solche durch alleiniges Verschulden einer dem Unternehmen nicht angehörenden Person gesondert aufgeführt sind. Danach kann auch das alleinige Verschulden einer dem Unternehmen nicht angehörenden Person grundsätzlich nicht als höhere Gewalt im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden.

Das SG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß gezahlte Leistungen im Sinne des § 27 Abs 1 Nr 2 Satz 1 der Satzung der Beklagten auch solche Leistungen bleiben, für die dem Unfallversicherungsträger später im Wege des Regresses Ersatz geleistet wird. Der Ersatz an den Versicherungsträger beseitigt die vergangenen und zukünftigen Zahlungen der Leistungen an den Versicherten nicht. Hinzu kommt, daß bei der Entscheidung über die Beitragsnachlässe, die bereits mit dem Umlagebeitrag zu verrechnen sind, häufig nicht feststeht, ob und in welchem Umfang überhaupt Regreßansprüche bestehen und durchgesetzt werden können.

Nach § 27 der Satzung der Beklagten war demnach der Arbeitsunfall vom 21. November 1975 bei der Entscheidung über die Bewilligung eines Beitragsnachlasses für das Beitragsjahr 1976 zu beachten (s. auch § 27 Abs 1 Nr 5 der Satzung der Beklagten).

§ 27 der Satzung der Beklagten ist durch die Ermächtigungsnorm des § 725 Abs 2 RVO gedeckt. Die Bewilligung von Beitragsnachlässen hängt nach § 27 Abs 1 Nr 1 der Satzung der Beklagten von der Eigenbelastung des Unternehmens im Verhältnis zur Durchschnittsbelastung aller Unternehmen ab. Der Senat hat in seinem Urteil vom 30. November 1972 (BSGE 35, 74) entschieden, daß eine Satzungsbestimmung, die Zuschläge zum Beitrag des Unternehmers allein nach der Unfallbelastung dieses Unternehmens im Verhältnis zur Durchschnittsbelastung aller der Berufsgenossenschaft angehörenden Unternehmen auferlegt, nicht ausreichend "Zahl und Schwere" der Unfälle im Sinne des § 725 Abs 2 Satz 1 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) berücksichtigt. Entsprechendes hätte für die Berechnung von Beitragsnachlässen zu gelten. Der Senat hat seine Entscheidung nicht nur auf den damals geltenden Wortlaut des § 725 Abs 2 RVO, sondern auch auf Sinn und Zweck eines Zuschlag-, Nachlaß- oder kombinierten Verfahrens gestützt (BSGE aaO S. 77). Der Gesetzgeber hat jedoch durch § 15 Nr 5 des Gesetzes vom 3. Juni 1976 (aaO) § 725 Abs 2 RVO im Hinblick auf diese Rechtsprechung neu gefaßt, "um der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung den Spielraum zu verschaffen, den sie braucht, um das jeweils geeignetste Verfahren zu entwickeln, was im Einzelfall auch ein Festhalten an den bislang bewährten Verfahren bedeuten kann" (BT-Drucks 7/4951, S. 8, Buchst d). Aufgrund des seit dem 1. Januar 1976 geltenden Gesetzeswortlauts und des eindeutigen Willens des Gesetzgebers ist seitdem davon auszugehen, daß auch eine allein auf die Unfallbelastung abgestellte Berechnung von Beitragsnachlässen mit § 725 Abs 2 RVO vereinbar ist.

Ebenso ist es mit § 725 Abs 2 RVO vereinbar, daß die Satzung der Beklagten auch die Arbeitsunfälle mitberücksichtigt, in denen sie beim Schädiger vollen Regreß nehmen kann. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 5. August 1976 zu § 725 Abs 2 RVO idF des UVNG entschieden, daß bei der Auferlegung von Zuschlägen nicht die Arbeitsunfälle unberücksichtigt bleiben müssen, die sich außerhalb des vom Unternehmer zu verantwortenden Bereichs ereignet haben (BSGE 42, 129, 134). Entsprechendes hat für Beitragsnachlässe zu gelten. Aus § 725 Abs 2 Satz 5 RVO idF des Gesetzes vom 3. Juni 1976 (aaO) ergibt sich gleichfalls, daß der Versicherungsträger Arbeitsunfälle, die durch alleiniges Verschulden einer nicht zum Unternehmen gehörenden Person eintreten, durch die Satzung ausnehmen kann, diese Arbeitsunfälle demnach nicht bereits kraft Gesetzes bei der Entscheidung über Beitragsnachlässe oder Beitragszuschläge ausgeschlossen sind. Der Senat verkennt nicht, daß noch weitergehend an die Grenze des mit § 725 Abs 2 RVO verfolgten Sinnes und Zweckes der Beitragsgestaltung in Verbindung mit den allgemeinen Prinzipien einer Versicherung eine Bestimmung stößt, nach der bei der Entscheidung über Beitragsnachlässe selbst die Arbeitsunfälle nicht unberücksichtigt bleiben, die durch alleiniges Verschulden einer nicht zum Unternehmen gehörenden Person eintreten und für die der Versicherungsträger vollen Regreß nehmen kann. Nach der Änderung des § 725 Abs 2 RVO können jedoch weder dem Gesetzeswortlaut noch der Entstehungsgeschichte der Neufassung Anhaltspunkte dafür entnommen werden, daß eine derartige Regelung in der Satzung mit § 725 Abs 2 RVO nicht im Einklang steht. Der Gesetzgeber hat bewußt der Selbstverwaltung einen möglichst weitgehenden Gestaltungsspielraum eingeräumt. Der Senat übersieht auch nicht die erheblichen Bedenken, die gegen eine Satzungsbestimmung bestehen, die bei der Gewährung von Beitragsnachlässen zuungunsten des Unternehmers auch Unfälle berücksichtigt, die auf alleinigem Verschulden einer nicht zum Unternehmen gehörenden Person beruhen und für die der Versicherungsträger vollen Regreß nehmen kann. Der Senat ist jedoch nicht der Auffassung der Klägerin, daß dies gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes verstößt. Es sprechen auch einige Gesichtspunkte für diese Bestimmung. Sind bei der Bewilligung von Beitragsnachlässen auch Arbeitsunfälle zu berücksichtigen, die außerhalb des vom Unternehmer zu verantwortenden Bereichs oder durch alleiniges Verschulden einer nicht zum Unternehmen gehörenden Person eintreten, so erscheint es doch noch vertretbar, nicht zwischen den Fällen zu unterscheiden, in denen die am Unfall schuldige Person unversichert oder in denen sie in einer Haftpflichtversicherung war. In der Regel wird bei den hier vor allem wesentlichen Unfällen mit hohen Folgekosten kein Regreß beim unversicherten Schädiger zu erlangen sein. Außerdem hat der Versicherungsträger regelmäßig schon bei der nächsten Beitragsbemessung über die Zuschläge oder Nachlässe zu entscheiden. In diesem Zeitpunkt wird häufig die Frage des Regresses und insbesondere seiner Durchsetzbarkeit noch nicht geklärt sein. Auch ist zu beachten, daß der Beklagten außer den durch den Regreß gedeckten Aufwendungen noch Verwaltungskosten anfallen. Die Beklagte erhält allerdings neben dem vollen Ersatz der Kosten durch die Haftpflichtversicherung durch den Wegfall des Beitragsnachlasses für die Klägerin - nach deren Berechnungen - etwa 10.000,- DM. Dies zeigt ebenfalls die auch vom Senat nicht verkannten Bedenken gegen die Lösung der hier maßgebenden Fallgestaltung durch die Satzung der Beklagten. Bei der Prüfung, ob die diese Regelung noch gestattende Vorschrift des § 725 Abs 2 RVO insoweit gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, ist jedoch auch zu beachten, daß Arbeitsunfälle sich nur zeitlich begrenzt (s. § 27 Abs 1 Nr 2 und 3 der Satzung der Beklagten) auf die Bewilligung von Beitragsnachlässen auswirken, der Aufwand der Beklagten bei der Leistungsgewährung an den Verletzten im Regelfall aber bei den hier wesentlichen schweren Unfällen über diesen Zeitpunkt hinaus sich erstreckt. Schließlich kann - wenn auch in sehr begrenztem Umfang - das Bestreben der Unternehmer gestärkt werden, durch geeignete Maßnahmen das Unfallrisiko auch in den Fällen zu senken, in denen die Unfallgefahren von nicht zum Unternehmen gehörenden Personen drohen, zB durch besondere Schulungen des Kraftfahrers zu erhöhter Umsicht, Schutzmaßnahmen im Auto. Ob diese Gesichtspunkte ausreichen, um die im Rahmen der Selbstverwaltung maßgebend von Vertretern der Unternehmer beschlossenen Satzungsbestimmung der Beklagten über Beitragsnachweise insoweit als sinnvoll zu bewerten oder ob nicht eine andere Lösung dem Gesetzeszweck besser entsprechen würde, hat der Senat nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1657560

Breith. 1980, 374

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