Leitsatz (amtlich)
Hatte der Rentenversicherungsträger einen Rentenantrag bindend abgelehnt, so daß die Krankenversicherung des Antragstellers nach RVO § 315a Abs 2 beendet war, gewährt er aber auf Grund einer nach RVÄndG Art 5 § 6 von Amts wegen vorgenommenen Prüfung rückwirkend die Rente, so begann die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung nach RVO § 165 Abs 1 Nr 3 und 4 aF nicht schon am Tage des Rentenbeginns, sondern erst mit der Bekanntgabe des Rentenbescheides an den zuständigen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Erst von diesem Zeitpunkt an war auch dessen Anspruch auf den Beitrag zur Rentnerkrankenversicherung (RVO § 381 Abs 2) begründet.
Normenkette
RVO § 315a Abs. 2 Fassung: 1956-06-12, § 165 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1956-06-12, Nr. 4 Fassung: 1956-06-12, § 381 Abs. 2 Fassung: 1956-06-12; RVÄndG Art. 5 § 6 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 1969 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 16. Juli 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die klagende Landesversicherungsanstalt (LVA) an die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung für drei Frauen zu zahlen hat, deren Anträge auf Renten sie rechtsverbindlich abgelehnt hatte, denen sie aber nach einer Prüfung von Amts wegen nach Art. 5 § 6 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. September 1965 (BGBl I 476) mit Wirkung vom 1. Juli 1965 Rente zugebilligt hatte. Streitig ist dabei die Zeit vom 1. Juli 1965 bis zur Zustellung der jeweiligen Rentenbescheide.
Die 1904 geborene Frau B B aus N hatte im Juni 1964 bei der Klägerin Antrag auf das (vorgezogene) Altersruhegeld gestellt; dieser wurde mit Bescheid vom 3. September 1964 abgelehnt. Mit Bescheid vom 21. Februar 1967 bewilligte ihr die Klägerin unter Bezug auf das RVÄndG vom 9. Juni 1965 das Altersruhegeld mit Wirkung vom 1. Juli 1965 an.
Die 1891 geborene Frau A D aus F hatte (zuletzt) im Februar 1958 Antrag auf Hinterbliebenenrente gestellt; dieser wurde durch Bescheid der Klägerin vom 16. August 1958 abgelehnt. Aufgrund des RVÄndG wurde ihr mit Bescheid vom 22. Juni 1967 Witwenrente ab 1. Juli 1965 gewährt.
Die 1896 geborene Frau Anna F aus F bei N hatte im August 1961 Altersruhegeld beantragt; dieser Antrag war mit Bescheid der Klägerin vom 3. Oktober 1961 abgelehnt worden. Auch ihr wurde mit Bescheid vom 8. November 1966 das Altersruhegeld nach dem RVÄndG mit Wirkung ab 1. Juli 1965 gewährt.
Die Beklagte hatte für die drei Versicherten Pflichtbeiträge zur Krankenversicherung der Rentner aus den von ihr für die Klägerin eingezogenen Rentenversicherungsbeiträgen einbehalten, und zwar
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für Frau B |
für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis zum 28. Februar 1967 im Betrag von 573,35 DM, |
für Frau D |
für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis zum 30. Juni 1967 im Betrag von 707,08 DM, |
für Frau F |
für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis zum 30. November 1966 im Betrag von 477,57 DM. |
Daraufhin hat die Klägerin Klage mit dem Antrag erhoben, die Beklagte zu verurteilen, ihr im Wege der Verrechnung einbehaltene Beiträge der vorgenannten versicherten Frauen ab 1. Juli 1965 bis zur jeweiligen Zustellung der Rentenbescheide im Gesamtbetrag von 1.758,- DM zu erstatten.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben: Eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung sei nur sinnvoll, wenn der Versicherte die tatsächliche Möglichkeit habe, den Versicherungsschutz wahrzunehmen; der Beitrag zur Krankenversicherung sei eine Gegenleistung für die Gewährung des Versicherungsschutzes. Infolgedessen müßten sowohl der Rentenbewerber als auch der Krankenversicherungsträger die konkrete Möglichkeit haben, das Versicherungsverhältnis festzustellen. Das treffe aber bei Wiederaufleben von Rentenanträgen kraft Gesetzes nicht zu; es müsse daher auf den Grundgedanken des § 306 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Finanz-Änderungsgesetzes (FinÄndG) zurückgegangen werden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 165 Abs. 1 Nr. 3 und 4 RVO hätten vorgelegen. Die Rentenanträge seien zwar von der Beklagten vor dem 1. Juli 1965 rechtsverbindlich abgelehnt worden, sie seien jedoch aufgrund des Art. 5 § 6 Satz 1 RVÄndG mit Wirkung vom 1. Juli 1965 wieder aufgelebt. Denn der Gesetzgeber habe nicht eine Rentengewährung von Amts wegen angeordnet, sondern nur zum Ausdruck gebracht, daß die bereits abschlägig beschiedenen Rentenanträge ohne neuen Antrag aufgrund der Vorschriften des RVÄndG erneut zu überprüfen seien. Den aufgrund dieser Vorschrift zugebilligten Renten lägen somit die früheren Anträge zugrunde.
Die Versicherungspflicht trete kraft Gesetzes ein, wenn die Voraussetzungen erfüllt seien, ohne daß die Beteiligten davon Kenntnis haben müßten; das gelte sowohl für die versicherungspflichtig Beschäftigten als auch für die Rentner. Der Hinweis auf das FinÄndG 1967 greife nicht durch, weil dieses Gesetz keinen Bezug auf das schon vorher erlassene RVÄndG habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor: Die abgelehnten Anträge seien nicht wieder aufgelebt, sondern seien verbraucht gewesen. Denn es habe auf Anordnung des Gesetzgebers von Amts wegen eine Neuprüfung der Anspruchsvoraussetzungen stattgefunden; diese Überprüfung von Amts wegen sei deshalb möglich gewesen, weil die Versicherungsträger von allen vor dem 1. Juli 1965 verbindlich abgelehnten Anträgen Kenntnis gehabt hätten und damit die Gewähr für eine Überprüfung aller dieser Fälle gegeben sei. Die gegenteilige Auffassung des LSG führe zu dem Ergebnis, daß die Betreffenden auch dann Beiträge zu zahlen hätten, wenn eine erneute Überprüfung keinen Anspruch auf Rente ergeben hätte; eine derartige finanzielle Belastung habe aber der Gesetzgeber nicht gewollt. Hinzu komme, daß die Rentner seit 1. Januar 1968 zu den Aufwendungen der Rentnerkrankenversicherung 2 v. H. ihrer Rentenbezüge beizutragen hätten. Folge man der Auffassung des LSG, so müßte die Klägerin von diesem Zeitpunkt ab 2 v. H. der Rente in Abzug bringen. Dies konnten aber die Rentenempfänger nicht hinnehmen, weil ihnen bis zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung die Existenz einer Pflichtkrankenversicherung unbekannt gewesen sei.
Für den Beginn der Pflichtversicherung müsse daher anstelle des Antrags ein anderer Zeitpunkt genommen werden. Dieser sei der Zugang des Rentenbewilligungsbescheides. Unter diesen Umständen komme auch ein Beitragsanspruch und die Gewährung von Krankenhilfe für die zurückliegende Zeit nicht in Betracht. Art. 3 § 2 FinÄndG 1967 lasse Rückschlüsse auf die Richtigkeit dieser Ansicht zu.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 22. Oktober 1969 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 16. Juli 1968 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist begründet.
Nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 und 4 RVO in der vor Inkrafttreten des Finanz-Änderungsgesetzes 1967 (BGBl I 1259) gültigen Fassung wären die hier genannten Personen in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert, wenn sie ua die Rente beantragt hatten. Nach dieser Vorschrift hatte für die drei Frauen, um deren Versicherungsbeiträge die Beteiligten streiten, eine Versicherung bestanden, aber jeweils nur bis zum Ende des Monats, in dem die Anträge endgültig abgelehnt worden waren (vgl. § 315 a Abs. 2 Satz 2 RVO).
Streitig ist, seit wann diese Versicherung dadurch erneut begründet ist, daß das RVÄndG vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) einen Anspruch auf eine Leistung gegeben und die klagende LVA demgemäß eine Rente festgesetzt hat. Diese Rentenzubilligung fand von Amts wegen aufgrund einer neuen Prüfung des Rentenversicherungsträgers statt, ohne daß dafür ein besonderer Antrag zu stellen war (Art. 5 § 6 RVÄndG). Jedoch begründete die Überprüfung der abgelehnten Rentenansprüche keine Versicherungspflicht schon vom 1. Juli 1965 - dem Zeitpunkt des Rentenbeginns - an. Zwar erfolgte die Prüfung aufgrund des alten Rentenantrags (ohne einen solchen hätte nicht über den Anspruch entschieden werden können, vgl. § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Aber es macht einen Unterschied, ob aufgrund eines Antrags erstmals der Rentenanspruch geprüft und nach § 315 a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 RVO die Mitgliedschaft begründet wird oder ob ein bereits bindend abgelehnter Antrag ohne Kenntnis des Antragstellers von Amts wegen neu geprüft wird.
Am 1. Juli 1965 war noch ungewiß, welches Ergebnis eine solche Überprüfung haben würde. Krankenversicherungsverhältnisse müssen aber vorausschauend beurteilt werden; spätere rechtliche oder tatsächliche Änderungen dürfen nicht auf einen bereits abgeschlossenen Tatbestand übertragen werden. Dies geht in derartigen Fällen schon deshalb nicht, weil dann rückwirkend Leistungen und Beiträge zu erbringen wären, obwohl die Betreffenden sich vielleicht schon privat haben behandeln lassen. Zwar tritt grundsätzlich ein Versicherungsverhältnis ein, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ohne Rücksicht darauf, ob die Betreffenden es wollen, ob sie hiervon Kenntnis haben und ob Beiträge gezahlt werden. Von diesem Fall, bei dem die die Mitgliedschaft begründenden Tatsachen vorlagen, aber von den Beteiligten verkannt wurden, ist der vorliegende Sachverhalt zu unterscheiden, bei dem rückwirkend aus einem nachträglich geschaffenen Tatbestand Rechtsfolgen abgeleitet werden sollen. Die Versicherung mit der Pflicht zur Beitragszahlung kann daher erst in Kraft treten, sobald die Krankenkasse von der Versicherungspflicht Kenntnis erhalten hat. Erst von diesem Zeitpunkt an wußten die Beteiligten, daß eine Pflichtversicherung besteht, und konnten ihr Verhalten entsprechend einrichten. Auch wenn Art. 3 § 2 FinÄndG 1967 vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (er ist erst später in Kraft getreten und betrifft andere Tatbestände), so muß doch sein Grundgedanke hier zur Anwendung kommen: Die Mitgliedschaft beginnt erst mit dem Tage, an dem die zuständige Kasse von der Versicherungspflicht Kenntnis erhält.
Unter diesen Umständen ist kein Anspruch der beklagten Krankenkasse auf Zahlung von Beiträgen zur Rentnerkrankenversicherung für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis zur Bekanntgabe des jeweiligen Rentenbescheids gegeben. Die Beklagte durfte nicht mit Beiträgen zur Rentnerkrankenversicherung gegen die abzuführenden Rentenversicherungsbeiträge aufrechnen.
Die Klage ist daher begründet. Es muß deshalb auf die Revision der Klägerin das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das sozialgerichtliche Urteil zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen