Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H (Hilflosigkeit) vorliegen.
Bei dem 1950 geborenen Kläger sind als Behinderungen mit einem (Gesamt)grad von 100 ein Zustand nach Poliomyelitis mit Wachstumsstörungen, Paresen und Atrophien des rechten Armes und Beines, außerdem ein degeneratives Halswirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulensyndrom bei Wirbelsäulenfehlstatik, Weichteilreizzustand beider Hüftgelenke und schließlich ein Zwerchfellbruch mit rezidivierenden Schleimhautreizungen der Speiseröhre festgestellt, dazu die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G (erhebliche Behinderung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und B (Notwendigkeit ständiger Begleitung). Den darüber hinaus beantragten Nachteilsausgleich H hat der Beklagte abgelehnt (Bescheid vom 19. März 1991, Widerspruchsbescheid vom 7. August 1991).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts vom 29. März 1994 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 26. Oktober 1995). Das LSG hat ausgeführt: Der Kläger sei infolge der Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes und starker Gehstörung des rechten Beines nicht hilflos iS des § 33b Abs 3 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) oder der entsprechenden Vorschrift des § 35 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), weil er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden personengebundenen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, also für An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege und Verrichten der Notdurft, aber auch für notwendige körperliche Bewegung (Spaziergänge) und Tätigkeiten zur geistigen Anregung (Lesen, Schreiben, Telefonieren, Fernsehen) überhaupt keiner oder fremder Hilfe nur in unerheblichem Umfang bedürfe. Außer Betracht zu bleiben habe der außerdem bestehende Hilfebedarf bei allgemeinen Haushaltsarbeiten (Wäschewaschen, Bügeln, Kochen), weil diese nicht personengebunden seien.
Mit der Revision macht der Kläger in Übereinstimmung mit dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 10. April 1995 (L 2 V 69/94, vgl das Senatsurteil vom heutigen Tage – 9 RV 19/95 –, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) geltend, es seien auch Haushaltstätigkeiten wie zB Reinigung der Wohnung in den Katalog der nach § 33b EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen einzubeziehen, weil sie zur Aufrechterhaltung einer menschenwürdigen Existenz nötig seien. Werde dieser hauswirtschaftliche Hilfebedarf zusätzlich berücksichtigt, so sei der Kläger hilflos iS des Steuerrechts.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
den Beklagten unter Abänderung der Urteile des Hessischen LSG vom 26. Oktober 1995 sowie des SG Frankfurt a.M. vom 29. März 1994 und des Bescheides des Beklagten vom 19. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1991 zu verurteilen, ihm den Nachteilsausgleich H ab Antragstellung zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß beim Kläger die gesetzlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H nicht vorliegen.
Die zur Durchführung des BVG zuständigen Behörden stellen außer Behinderungen und deren Grad nach § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche fest und tragen das Merkzeichen „H” auf dem Ausweis des Schwerbehinderten ein, der hilflos iS des § 33b EStG oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs 1 Nr 2 Schwerbehindertenausweisverordnung ≪SchwbAwV≫). Das LSG hat allein nach § 33b Abs 3 Satz 2 EStG in der bis zum 31. Dezember 1994 geltenden Fassung vom 7. September 1990 (BGBl I S 1898) beurteilt, ob der Kläger zu diesem Personenkreis zählt. Dazu gehört eine Person, „die so hilflos ist, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf”.
Das LSG hätte jedoch, da die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 26. Oktober 1995 stattgefunden hat, – auch – § 33 Abs 6 Satz 2 EStG in der am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Fassung des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) anwenden müssen. Denn der Kläger hat eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben. Für die Beurteilung der Rechtslage ist daher maßgeblicher Zeitpunkt die mündliche Verhandlung – auch in der Revisionsinstanz (BSGE 3, 95, 103 f; 43, 1, 5 = SozR 1500 § 131 Nr 4; BSGE 73, 25, 27 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4; Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren 1996, RdNr 83; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 54 RdNr 34). Nach § 33 Abs 6 Satz 2 EStG ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Aus der Neufassung ergeben sich gegenüber dem alten Recht aber keine unterschiedlichen Maßstäbe. Das hat der Senat bereits im Urteil vom 8. März 1995 ausgesprochen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12).
Das LSG entnimmt der bisher zu § 33b Abs 3 Satz 2 EStG und § 35 Abs 1 BVG ergangenen Rechtsprechung – zu Recht – eine Begrenzung der dort genannten „Verrichtungen” im wesentlichen auf folgende Tätigkeiten: An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme (Essen und Trinken), Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren), Verrichten der Notdurft (Stuhlgang, Wasserlassen), Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, Bewegung in der Wohnung und außerhalb) sowie geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen, Fähigkeit zur Interaktion). Von dieser im Versorgungsrecht (vgl die Zusammenfassung der Rechtsprechung in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG 1996, S 37), im Steuerrecht (BFH, Beschluß vom 27. Februar 1996 – X B 148/95 –, BFH/NV 1996, 603) und im früheren Recht der Sozialhilfe sowie im Lastenausgleichsrecht (BVerwG, Urteile vom 14. Juli 1977 – V C 23/76 – FEVS 26, 1 und vom 17. April 1986 – 33 C 24/85 –, Buchholz 427.3 § 267 LAG Nr 98) einheitlichen Rechtsprechung abzuweichen, gibt es keinen Grund. Für die Auffassung, daß auch hauswirtschaftliche Verrichtungen (Instandhaltung und Reinigung der Wohnung, Einkaufen von Lebensmitteln, Nahrungszubereitung, Wäschewaschen) zu berücksichtigen seien, beruft sich der Kläger im wesentlichen auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 10. April 1995 – L 2 V 69/94 – (vgl dazu das Senatsurteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 19/95 – zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Dieses führt zwei Gründe an: den Gesichtspunkt der Menschenwürde, wonach alle für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Verrichtungen den Hilfebedarf bestimmen, und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu §§ 53 ff Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Diese Gesichtspunkte schlagen nicht durch.
Nach Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die damit angesprochene Garantie der Menschenwürde verbietet es iVm dem Sozialstaatsgrundsatz des Art 20 Abs 1 GG zwar, das Existenzminimum zu besteuern (BVerfGE 82, 60, 85 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1). Gegen dieses Verbot verstößt der Ausschluß hauswirtschaftlichen Hilfebedarfs in § 33b Abs 6 Satz 2 EStG – und § 33b Abs 3 Satz 2 EStG aF – aber nicht. Denn es bleibt Behinderten unbenommen, einen behinderungsbedingten Mehraufwand auch im hauswirtschaftlichen Bereich gegenüber den Finanzbehörden nachzuweisen und als außergerwöhnliche Belastung vom steuerpflichtigen Einkommen abzusetzen (§ 33 Abs 1 EStG).
Die inzwischen außer Kraft getretenen §§ 53 ff SGB V sahen bei Schwerpflegebedürftigkeit auch Geldleistungen der Krankenversicherung an Versicherte vor, welche nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos waren, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in sehr hohem Maße der Hilfe bedurften. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs waren auch Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs zu berücksichtigen. Das ergab sich aber vor allem aus § 55 Abs 1 SGB V, wo neben der Grundpflege des Versicherten die „hauswirtschaftliche Versorgung” ausdrücklich genannt war (vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn 2, 4 und 5). Danach ist der hauswirtschaftliche Hilfebedarf im Versorgungsrecht und Einkommensteuerrecht kein Gesichtspunkt für die Beurteilung, ob Hilflosigkeit vorliegt.
Die Gesetzgebungsgeschichte bestätigt insoweit den Ausschluß hauswirtschaftlicher Verrichtungen. Nach den Materialien zum PflegeVG sind die bis dahin geltenden Begriffe der Pflegebedürftigkeit bzw Hilflosigkeit bewußt aufgegeben worden. Der Gesetzgeber hat zwar für die soziale Pflegeversicherung Elemente aus den bis dahin geltenden Regelungen anderer Gesetze übernommen und die dazu ergangene Rechtsprechung verwertet, hat den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) aber neu definiert, indem er auch den Hilfebedarf bei hauswirtschaftlicher Versorgung einbezogen hat (BT-Drucks 12/5262 S 95). Dagegen wollte der Gesetzgeber mit den Neuformulierungen in § 33b Abs 6 Satz 2 EStG und § 35 Abs 1 Satz 2 BVG durch das PflegeVG eine unveränderte Fortgeltung des bis dahin geltenden Rechtszustandes sicherstellen und Leistungen oder Steuervorteile weder einschränken noch ausweiten (vgl BT-Drucks 12/5262 S 164, 172; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12). Dieser Absicht des Gesetzgebers würde es zuwiderlaufen, wollte man nunmehr bei der Entscheidung über den Nachteilsausgleich H hauswirtschaftliche Verrichtungen bei der Beurteilung der Hilflosigkeit berücksichtigen und damit den Zugang Behinderter zu den pauschalen Abzugsbeträgen nach § 33b Abs 1 und 3 EStG erleichtern.
Gegen die Berücksichtigung hauswirtschaftlicher Verrichtungen spricht ferner, daß das Steuerrecht einen Hilfebedarf auf diesem Gebiet an anderer Stelle gesondert erfaßt. Hilflose oder schwerbehinderte Steuerpflichtige können vom Gesamtbetrag ihrer Einkünfte die Aufwendungen für die Beschäftigung einer Hilfe im Haushalt bis zu 1.800,00 DM im Kalenderjahr abziehen (§ 33a Abs 3 Nr 2 EStG). Diese Aufwendungen sind neben den Pauschbeträgen des § 33b EStG abzugsfähig (vgl Schmid, EStG, 15. Aufl 1996, § 33a Rz 72, § 33b Rz 5).
Bleibt der hauswirtschaftliche Bedarf des Klägers unberücksichtigt, so liegt ein Hilfebedarf in dem für den Nachteilsausgleich H erforderlichen erheblichen Umfang nicht vor. Der Umfang der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die der Beschädigte ohne fremde Hilfe nicht ausführen kann, richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe noch bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein (vgl BT-Drucks 12/5262 S 164). Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger die Verrichtungen des täglichen Lebens selbst bewältigen, wenn auch in mancher Hinsicht nur mit Schwierigkeiten. Er ist in der Lage, allein aufzustehen und zu Bett zu gehen, sich zu waschen, sich allein an- und auszukleiden, einschließlich der orthopädischen Gehhilfe. Bei der Nahrungsaufnahme hat er keine Schwierigkeiten. Er kann ohne fremde Hilfe zur Toilette gehen und sich – wenn auch mühsam – in seiner Wohnung fortbewegen. Zwar bereitet ihm das Anziehen bestimmter Kleidungsstücke Schwierigkeiten. Die nur für vereinzelte Verrichtungen festgestellten Einschränkungen reichen aber insgesamt nicht aus, um bei ihm Hilflosigkeit annehmen zu können, zumal der Hilfebedarf die zeitliche Mindestgrenze von einer Stunde täglich (vgl BSGE 67, 204, 207 = SozR 3-3870 § 3 Nr 1; SozR 3-3870 § 4 Nr 12) deutlich unterschreitet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen